Er glaubt an das Göttliche und die Liebe: Božo Vrećo in Počitelj, im Hintergrund die Moschee des Šišman Ibrahim-Paša und der Uhrturm.

Tanz um das eigene Leben

Božo Vrećo berührt mit seinen traditionellen Liebesgesängen aus Bosnien-Herzegowina Ethnien und Geschlechter­rollen, Ekstase und Verletzlichkeit. Eine spirituelle Reise über Grenzen.

Von Anja Nora Schulthess (Text) und Armin Smailovic (Bilder), 20.04.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
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Der pompöse Saal im Kurhaus Wiesbaden, mit seiner Kuppel, den gold­verzierten Spiegeln und Säulen, ist vielleicht genau die richtige Kulisse. Im Publikum auffällig viele Frauen, hohe Schuhe, rot geschminkte Lippen, lackierte Finger­nägel; die Sprach­fetzen, die ich aufschnappe, klingen slawisch in meinem Ohr.

Das zunächst sitzende Publikum steht irgendwann fast ausnahmslos. Handy­kameras werden in die Höhe gestreckt, um ein Bild oder ein Video von Božo Vrećo zu machen, auch wenn Vrećo selbst die Fans über die sozialen Netzwerke rege mit Bildern füttert. Die eingängigsten Zeilen von bekannteren Liedern Vrećos werden mitgesungen, etwa dort, wo dieses vorpreschende Wort- und Drum-Stakkato, gefolgt von einem kurzen Atemholen, in den kathartischen Refrain von «Pandora» übergeht.

Es wird getanzt, gelacht und mancherorts verdrückt man ein paar Tränen der Rührung. «Oh my god, it’s already summernight», sagt Vrećo und tanzt in einem langen schulter- und ärmellosen Kleid, man möchte sagen: um das eigene Leben. Manchmal erinnert das an einen Derwisch­ritus, dann an eine Performance in einem hippen Berliner Keller­klub, wo sich die queere Community trifft.

Es ist an sich schon eine beachtliche Mixtur, jenes Phänomen der Sevdah, die ihren Anfang nahm im Osmanischen Reich im 16. Jahrhundert in den urbanen Regionen Bosnien-Herzegowinas. Auf Türkisch heisst sevdah «Liebe», auf Arabisch «schwarze Galle», und zusammen­genommen darf man sich das zunächst als Bezeichnung für tief melancholische Liebes­gesänge denken. Geschrieben von vielen unbekannt gebliebenen Dichterinnen, musikalisch beeinflusst durch unter­schiedlichste migrantische Gruppierungen wie jüdische Sepharden und Roma, wird die Sevdah von manchen noch immer als exklusiv muslimisch verstanden. Nach dem Bosnien­krieg in den frühen 1990er-Jahren erfuhr die Sevdah eine Art Repopularisierung und gilt, zumindest in bestimmten Kreisen, als Element einer dezidiert bosnischen Nachkriegs­identität.

Und dann ist da Božo Vrećo, diese äusserlich auffällige Kunst­figur, die die Kategorien «männlich» und «weiblich» aushebelt oder vereint. Doch als ich Vrećos Presse­agentin vor dem Gespräch, zu dem wir verabredet sind, frage, welche sprachlichen Zuschreibungen Vrećos Selbst­verständnis angemessen sind, heisst es, es sei okay, «er» zu sagen.

Vrećo interpretiert ein traditionell weiblich konnotiertes Genre und trägt dabei Bart und Hut, oft lange Kleider und hohe Schuhe. Dabei fährt Vrećos lyrischer Tenor einen Stimm­umfang auf, der tradierte Rollen­besetzungen ohnehin vergessen lässt. Und die Klischees, die wir «vom Balkan» haben, gleich mit irritiert. Ist es ein Wider­spruch, fragt man sich, wenn jemand wie Vrećo mit bosnischer Herkunft in der serbischen Teilrepublik Srpska bejubelt wird? Spielt dieser neue alte Konflikt hier überhaupt eine Rolle? Falls nicht, wie hat er sich ausblenden lassen? Und inwiefern hat der Krieg diese herz­zerreissenden Lieder geprägt, für die Vrećo von einem hip-urbanen und einem konservativen Publikum gleicher­massen gefeiert wird?

«Wir alle leben gleichzeitig als Frauen und Männer»

Božo Vrećo zelebriert nicht nur auf der Bühne die Verführer­rolle, sondern ist auch einnehmend im Gespräch. Geradezu körperlich ist hier die grosse Begeisterung für die Sevdah zu spüren, die Vrećo als Ausdruck einer radikalen Freiheit versteht.

Ich treffe Božo Vrećo am Abend vor dem Konzert in Wiesbaden – einige Stunden später als geplant. Zu Verzögerungen kam es an der Pass­kontrolle, wo ein Musiker der Band länger aufgehalten wurde: Er trug Vollbart und reiste aus Istanbul an – manchmal lassen sich Vorurteile eben doch noch nicht einfach aushebeln.

Vrećo trägt langes Haar, akkurat verknotet, lang ist auch der gepflegte Bart, die sichtbaren Haut­stellen sind mit Tattoos übersät und schon diese äussere Erscheinung, die Vrećo gerne und gekonnt auf Social Media in Szene setzt, triggert diverse sich reibende Bilder­repertoires: die Schlager­diva, der Sufi-Meister, der Zen-Meditations-Welten­bummler, die Variété-Chansonnière.

Mit der Sevdah, diesem traditionellen Genre, ist Vrećo gross geworden. Die Mutter, eine bildende Künstlerin, habe immer Radio gehört, das Sevdah-Lieder spielte, wenn sie malte oder Röcke und Kleider für Božo und die Schwestern nähte. Diese Nostalgie, die Sehnsucht und all die Tragik in den Liedern seien ausgesprochen prägend gewesen.

Für die eigene Kunst entschied sich Vrećo Mitte zwanzig, nach dem Archäologie­studium in Belgrad. Diesen Moment beschreibt Vrećo als eine Erleuchtung, einen Augenblick, von dem man nachträglich sagt, dass er einem den eigentlichen Sinn des eigenen Tuns und Daseins eröffnet hat. Seither ist das Komponieren und Interpretieren der Sevdah-Lieder für Vrećo eine Lebens­aufgabe, verbunden mit dem Wunsch, «die Welt zu verändern» – zumindest für alle, die diese Lieder hören und sich darin wieder­erkennen. Vrećo möchte ein Vorbild sein, nicht zuletzt auch im Sinne eines Bruchs mit tradierten Rollen­modellen.

An die Kategorien «Mann» und «Frau» nämlich glaubt Vrećo nicht. Die Dualität, die sich durch unser ganzes Leben ziehe und selbst­redend auch durch die Kunst und Musik, sei doch nur ein Ausdruck der absoluten Unfreiheit. Sein Antrieb, sagt Vrećo, sei es, die Sevdah zu öffnen und zu befreien, einfalls­reicher mit der darin angelegten Dualität umzugehen: «Ich wollte nicht nur zu einem Teil von uns Menschen gehören. Wir alle leben gleichzeitig als Frauen und Männer. Oder wir sollten es gleichzeitig leben. Auch das Kind in uns muss aktiv sein. Ich denke, dass diese drei Komponenten einen zum Künstler machen, ohne sie bist du nicht frei.»

Auf der Bühne dann: lange wallende Kleider, High Heels, schwarzer Kajal. Vrećo erklärt, all das – Kind, Frau, Mann – gleichzeitig sein und zeigen zu wollen, und verweist auch auf die Sufi-Elemente, die durch Spiel­arten des Tanzes in die Performance kommen.

Ebenso wenig wie mit Geschlechter­kategorien will sich Vrećo mit einem Label wie etwa «queer» identifizieren, trotz der Unterstützung für die Anliegen queerer Communitys: «Ich glaube nicht an irgendwelche Abgrenzungen. Ich glaube nicht an Geschlechter, ich habe mich nie als männlich oder weiblich identifiziert, ich glaube einfach an ein menschliches Wesen, du bist gut oder du bist böse und du kannst sein, was immer du willst. Ich glaube, dass die kommenden Generationen kein Geschlecht mehr haben werden. Es werden einfach nur Menschen sein, die lieben, existieren, etwas schaffen und ihr Leben leben.»

Eine Kunstfigur, die die Kategorien «männlich» und «weiblich» aushebelt oder vereint.

Vrećo ist ein ausgesprochen spiritueller Mensch, der an das Göttliche und die Liebe in allen Dingen glaubt. Religion müsse Liebe sein, sonst sei sie leer, sagt Vrećo im Gespräch. Viel mehr als an eine bestimmte Religion glaubt Vrećo an die Ehrlichkeit der Menschen, ihre Fähigkeit zu lieben und an die Kunst, die die Menschen für das Göttliche aktivieren könne: «Wenn man sich selbst liebt, ist man bereit, jeden zu lieben.» Dieser Satz geht Vrećo dermassen leicht über die Lippen, dass man für einen Augenblick glaubt, das könne ja so schwierig nicht sein.

Es sind grosse Worte, die Vrećo auffährt. Die geschlechter­lose Zukunft kann man wahlweise für dystopisch oder utopisch, für naiv oder avant­gardistisch halten. Sicher ist: Vrećo selber glaubt daran und wirkt ansteckend überzeugend.

Wer, frage ich, waren die Autoren der Sevdah-Texte, die die unerfüllte Liebe und den Schmerz besingen? Das sei noch immer ein Rätsel, sagt Vrećo. Von den meisten Liedern wisse man bis heute nicht, wer sie verfasst habe und ob sie überhaupt von Dichterinnen stammten: «Dichter kann jeder sein: der Arbeiter auf dem Feld oder eine Mutter mit dem Kind auf dem Arm.»

Es sei eben eine Art Mysterium, das wir mit den Trauer­liedern oder den Hochzeits­liedern der Sepharden oder der Osmaninnen und Byzantiner kombinieren. «Das alles zusammen ergibt die Sevdah.» Immer seien es Geschichten über die Liebe, nicht aber über das Glück. Die Liebe bleibt in den Liedern eine unerfüllte. Erzählt wird von Liebenden, die nicht zusammen sind, aber immer noch voneinander träumen, von einem Gift, das einer trinkt, weil er mit dem Leben vor lauter Schmerzen und Trauer nicht mehr weitermachen will. Liebe und Schmerz gehören zusammen, denn es geht um «Sehnsucht und Zugehörigkeit»: longing and belonging.

«Es ist das gleiche Land»

Es leuchtet sofort ein, das Verbindende, das Pathos, das Vrećo betont und das losgelöst von Kulturen, Ethnien, Religionen oder Geschlechtern funktioniert. Die Sevdah als Universal­sprache, als Ausdruck von Gefühlen mit dem Ausdrucks­mittel der rohen menschlichen Stimme, in der das Weinen, das Seufzen und der Schmerz ohne eine bestimmte Sprache verstanden wird.

Dennoch, möchte man einwenden, wurde die Sevdah zuweilen auf Kriegs­gebiet zelebriert. Gerade heute, bald dreissig Jahre nach dem Bosnien­krieg, flammt um den Politiker Milorad Dodik der alte Konflikt neu auf, nationalistische Tendenzen werden laut. Was bedeutet das für Folklore, die oft ein Ort der Aneignung ist und nicht selten für nationalistische und konservative Ideologien? Und wie beeinflusst diese verbrannte Erde das künstlerische Schaffen in diesem Land, wo Genozid begangen wurde und heute wiederum Spaltungen propagiert und Konflikte geschürt werden?

«Ja», sagt Vrećo auf die Frage nach der Vereinnahmung der Volks­musik durch konservative Kräfte, «selbst jetzt gibt es noch Leute, die glauben, dass die Sevdah-Musik nur den Muslimen gehört. Das ist völlig falsch, denn es sind nicht nur Musliminnen, die in Bosnien-Herzegowina leben. Der grösste Einfluss auf die Sevdah-Musik kommt von den Sephardinnen, den bosnischen Juden, die dort gelebt haben – auch das will ich erzählen.» Die Überzeugung, die Sevdah-Musik sei einer bestimmten Ethnie vorbehalten, sei «Gott sei Dank» nicht die Regel. Für die eigene Crew hat Vrećo nur Musiker ausgewählt, die nicht direkt aus Bosnien-Herzegowina kommen. So würden nämlich wiederum Elemente verschiedener Kulturen in die Musik einfliessen.

Auf meine Bemerkung, dass Vrećos Musik auch bei den bosnischen Serben in der Republik Srpska beliebt sei, kommt die Antwort kurz und knapp: «Es ist das gleiche Land.» Man glaubt darin so etwas wie Trotz zu hören, ein vehementes «Nein» dazu, überhaupt in die Debatte um die endlosen Völker- und Identitäts­konflikte einzusteigen.

Ich beharre auf dem besonderen politischen Kontext der Teil­republik. «Ja», sagt Vrećo, «aber meine Musik findet ein Publikum in Belgrad, in Ljubljana, in Zagreb, in der ganzen Region, ohne irgendeine Art von Trennung aufgrund von Nationalität oder Glauben. Mein Publikum glaubt einfach an mich, an die Liebe. Ich bin apolitisch.» Natürlich, sagt Vrećo dann, im Land herrsche Chaos, schon vor dem Krieg und auch danach. «Wir haben uns daran gewöhnt. Aber dieses Chaos hat keinen Einfluss auf meine Kunst.»

Gleichwohl seien Kriegs­erinnerungen in den Liedern verarbeitet. Etwa im Lied «Elma» über eine Freundin, die an der Tür vor dem Haus erschossen wurde. «Überall waren tote Menschen», erinnert sich Vrećo und berichtet, 25 Jahre nach diesem Ereignis von Elma geträumt und tags drauf den Song geschrieben zu haben: «Alles ist eine Reflexion, alles, was ich erlebt und überlebt habe, gibt mir die Möglichkeit, ein Dichter zu sein und etwas über diesen Krieg zu schreiben. Aber ich tue das auf einer übergeordneten Ebene. Es ist etwas, das überleben wird und das für die Menschen zugänglich ist.»

Vrećo plädiert entschieden dafür, die Kunst vor der Politik zu schützen. Denn politische Lager und Parteien würden nur an die Trennung und den Krieg glauben.

Während Vrećo also über den Krieg spricht und die Kunst, die einen höheren Stellenwert habe, bleibe ich an dem Satz hängen: «Ich bin apolitisch.» Ein Satz von einer Künstler­persönlichkeit, die mit ihrer ganzen Art, sich zu kleiden, zu sprechen, Musik zu machen und zu performen zig politisch-gesellschaftliche Reiz­themen berührt: Geschlechter­rollen, Zugehörigkeit, Identitäten, Ethnien, Traditionen, Religionen.

Politisch apolitisch

Ich höre den Ausführungen von Božo Vrećo mit durchaus gemischten Gefühlen zu. Die apolitische Haltung kann man einem Menschen, der Krieg, ja Genozid, mitangesehen hat und erleben musste, nicht verübeln. Nichts­destotrotz verwundert mich diese geradezu stoische Haltung gegenüber allen potenziellen Feindseligkeiten sowie dieser trotzige Glaube an die Liebe und deren urtümliche Kraft, die Welt zu verändern. Aussagen wie die, dass jeder sein könne, was er wolle, oder dass Liebe die Wunden heile, könnte man, losgelöst von der Person, leicht als naiv abtun. Nur: Božo Vrećo wirkt auf allen Ebenen höchst reflektiert.

Dieser Eindruck im persönlichen Gespräch mag auch mit der einnehmenden Kraft von Vrećo zu tun haben, die sich auf der Bühne ebenso zeigt, etwa wenn zu den Mitmusikerinnen gleicher­massen eine Bindung entsteht wie zum Publikum. Ist es schon Suggestion, frage ich mich nachträglich, wenn Vrećo mich während des Konzerts direkt ansieht und fragt: «Can you feel me?» Jedenfalls bin ich berührt von dieser Performance und Stimme, der Ekstase, Lust, Leidenschaft, aber auch vom Schmerz, von der Verletzlichkeit und Fragilität, die hier erlebbar sind, ohne dass man dazu die Texte oder Ansagen verstehen muss.

Božo Vrećo mag sich als apolitische Person verstehen, die Musik jedoch ist und wirkt unweigerlich politisch. Nicht zuletzt, weil sich Kunst der Politik per se nicht entziehen kann. Sie entsteht eben nicht im luftleeren Raum, sondern dort, wo Differenzen in der Art, die Welt wahrzunehmen und zu denken, auszumachen sind. Und das ist gut so.

«We are just human beings, so much pain, struggle, love. That’s life. Keep that love, don’t lose it, that love!», sagt Vrećo ins Publikum. Man kann sich an solch vereinfachenden Aussagen natürlich stossen; diese dezidiert pazifistische und humanistische Haltung, die die Liebe als Heilmittel gegen alle Unbill hochhält, für verklärt halten. Sicher ist aber, Božo Vrećo hat eine betörende Stimme und erschafft komplexe Musik mit fein ausgearbeiteten Arrangements. Und es gelingt, diese Musik einem sehr breiten Publikum zugänglich zu machen.

Es scheint, als schöpfe Vrećo aus dem Bühnen­ereignis selbst Energie. Genauso wie das Publikum, das für den Moment eines Konzert­abends vielleicht tatsächlich die Differenzen und Konflikte vergisst, die unter der gemeinsamen Sehnsucht nach Liebe und Zugehörigkeit in den verschiedensten Facetten schwelen mögen.

Zu Božo Vrećos Auftritt in der Schweiz

Am 22. April spielen Božo Vrećo und Band das einzige diesjährige Konzert in der Schweiz: im Theater an der Mürg, bei den Stanser Musiktagen.

Zur Autorin

Anja Nora Schulthess, geboren 1988, studierte Philosophie, Kultur­analyse sowie Allgemeine und Vergleichende Literatur­wissenschaft an der Universität Zürich. Sie ist als freischaffende Autorin und Journalistin tätig.

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