Im Chalet

In der Nähe von Gstaad werden zwei Geschwister jahrelang von einem reichen Mann als Hausangestellte ausgebeutet und misshandelt. Bis der Bruder sich wehrt und der Schwester hilft. Nun soll er die Schweiz verlassen.

Von Jana Schmid (Text) und Fabian Hugo (Bilder), 15.04.2023

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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Die Region um Gstaad: Mehr als Berge und …
… Dörfer mit Holzfassaden.

Manchmal hätte Jonathan Manalo seinen Boss am liebsten umgebracht. «Spinnst du», sagte seine Schwester dann. «Wir brauchen den Job.»

Doch irgendwann im Oktober 2016 hielt er es nicht länger aus. Es war zwei Uhr nachmittags. Jonathan Manalo, der in Wirklichkeit anders heisst, hatte wie immer zu wenig geschlafen. Wie immer wusste er nicht, wie lange der Tag noch dauern würde. Und wie immer hatte er das Essen, für das ihm sein Boss jeden Monat 300 Franken verrechnete, selbst gekauft.

Normalerweise sprach er seinen Boss nicht an, sondern führte wortlos Befehle aus. Jetzt ging er zu ihm, sah ihm in die Augen und sagte: «Please, Sir, zahlen Sie mir endlich den Lohn, der mir zusteht.»

Das war alles. Kein Mord, nur ein Mucks.

Tags darauf stellte der Boss ihn auf die Strasse.

Eins

Alexander Pasalidi ist ein beschwingter Mann und ein beliebter Pfarrer. Bis 2022 leitete er die römisch-katholische Pfarrei St. Josef in Gstaad. Er sagt, die Gläubigen in der Kirche, im Dorf­laden oder am Stammtisch erzählten sich oft Geschichten darüber, was in den Chalets so vor sich gehe. Wenn die Leute in Gstaad «Chalets» sagen, meinen sie die Paläste aus Holz der High Society. Von aussen sehen sie wegen der strengen Bauvorschriften im Berner Oberland alle ähnlich aus: sehr unverdächtig.

Pfarrer Pasalidi sagt, die Arbeits­ausbeutung treibe die Menschen um im Saanenland. Nur wisse niemand wirklich etwas darüber.

«Man munkelt, dass Angestellte in Kellern gehalten werden und nonstop arbeiten müssen», sagt Pfarrer Pasalidi. Er beugt sich vor, zieht die Augen­brauen hoch und die Worte lang. «Manchmal wurde ich für eine letzte Ölung gerufen. Dann sah ich all die Gänge, die es in einem Hotel gibt. All die Menschen, die in einem Chalet in der Küche stehen. Natürlich machte ich mir dann meine Gedanken», sagt er. Aber unterstellen will er niemandem etwas. Denn: Man wusste ja nichts.

Früher, sagt Pasalidi, hätten die Reichen in Gstaad zum Dorfleben gehört. Mit etwas Glück habe man Roger Moore und Liz Taylor im Restaurant getroffen, «die gaben sogar Runden aus!».

Heute sehe man bloss schwarze Limousinen mit dunkel getönten Scheiben.

Die Reichen von Gstaad bewegten sich nur noch in exklusiven Kreisen. Es sei eine völlig isolierte Parallel­gesellschaft entstanden. «Es ist schwierig, überhaupt mit dem Personal von diesen Menschen in Berührung zu kommen», sagt Pasalidi. Die wenigen Angestellten, die bei ihm in der Kirche auftauchten, verschwanden jeweils gleich nach der Messe. Er kam kaum mit ihnen ins Gespräch. «Ja, die Arbeits­ausbeutung ist ein offenes Geheimnis. Wie aber soll man sie angehen, wenn alles hinter verschlossenen Türen geschieht?»

Jonathan Manalo ging manchmal in die Kirche, nachdem er seine Stelle verloren hatte. Er kam in ruhigen Morgen­stunden zum Gebet, und Pfarrer Pasalidi half ihm gelegentlich mit einem Batzen aus der Kirchen­kasse. Er wusste, dass bei Manalo das Geld knapp war. Aber von seiner ganzen Geschichte ahnte der Pfarrer nichts.

Zwei

Als Kind kauerte Jonathan Manalo häufig neben seiner Schwester in einer Schubkarre. Die Mutter schob die beiden Geschwister durch die lärmenden Strassen der philippinischen Hauptstadt Manila. Der Vater sass im Gefängnis. Es waren die 1970er-Jahre.

Wenn ein Kind eine gut erhaltene Plastik­flasche sah, sprang es aus der Karre und sammelte sie auf. Am Ende des Tages verkauften sie die Flaschen an einer Kreuzung. Das war der Alltag. So verdienten sie sich den Lebens­unterhalt.

Fünf auf fünf Schritte mass die Holzhütte, in der die Familie schlief, zu eng für vier Kinder. Jonathan übernachtete meistens draussen im jeepney, einem Kleinbus, der über Nacht in Manilas grösstem Slum parkte und tagsüber Passagiere durch die Stadt fuhr. Das Geld reichte für zwei Mahlzeiten am Tag: Mittag- und Abendessen. Dass es auch Frühstück gab, lernten die Geschwister erst viel später.

Drei

Jonathan Manalo schlenderte durch den Hafen von Miami, als ihn seine Schwester anrief. Es war im Spätsommer des Jahres 2010, und wie jeden Samstag hatte er sechs Stunden Freizeit. Er konnte an Land gehen, sich die Füsse vertreten oder ins Restaurant, bevor er um vier Uhr nachmittags wieder zurück sein musste an Bord der Voyager of the Seas, ein Kreuzfahrt­schiff so gross wie ein Dorf.

Zwei Stunden später begann die Arbeit. Das Schiff fuhr Woche für Woche dieselbe Route: Miami, Mexiko, Jamaika, Haiti, Miami. Sechs Tage all-inclusive für 3000 Gäste, in Miami eine Pause für die Angestellten – und wieder von vorn.

Jonathan Manalo mochte seine Arbeit. Acht Jahre lang arbeitete er für Menschen, die in den Ferien waren. Zuerst als Küchen­hilfe, später als Hilfs­kellner. Der Job machte ihm möglich, was Menschen wie ihm für gewöhnlich verwehrt bleibt: ein Leben auf Reisen. Er sagt: «Ich hatte immer geträumt, einmal New York zu besuchen. Ich war in New York. Ich hatte immer geträumt, einmal Rom zu sehen. Ich sah Rom.»

An diesem Samstag im Spätsommer 2010 rief die Schwester an und fragte, ob er in die Schweiz komme. Sie habe einen Job für ihn, sagte Gabrielle Reyes. Auch sie heisst eigentlich anders. Ihr Boss wolle einen weiteren housekeeper anstellen. Sie habe Jonathan vorgeschlagen. Er müsse nur noch Ja sagen.

«Bitte, komm», sagte sie. «Wir können hier zusammen­leben. Die Arbeit ist gut. Der Boss kümmert sich um die Bewilligung.»

Gabrielle Reyes war seit drei Jahren als Haus­angestellte und Kinder­mädchen für eine saudiarabische Familie angestellt, in einem Chalet in der Nähe von Gstaad.

Obwohl er seinen Job gerne mochte, entschied Jonathan Manalo, dem Ruf seiner Schwester zu folgen. Er hatte schon am Telefon gespürt, dass etwas nicht in Ordnung war. Heute weiss er, dass der Anruf ein Hilferuf war.

Vier

An seinem 36. Geburtstag, dem 12. April 2011, reiste Jonathan Manalo in die Schweiz ein, um seine neue Stelle als «housekeeper, cook, butler» anzutreten. Im Chalet von Amir Halabi, der in Wirklichkeit anders heisst.

Eigentlich kann ein Philippiner nicht einfach in die Schweiz reisen und arbeiten. Es gibt zwar einen offenen Arbeits­markt mit den EU- und Efta-Staaten. Für Drittstaaten ist die Zulassung aber beschränkt auf «hoch qualifizierte Personen» wie Führungs­kräfte und Spezialistinnen. Personen aus Dritt­staaten werden nur zugelassen, wenn keine geeigneten Arbeit­nehmerinnen aus der Schweiz oder dem EU-/Efta-Raum zur Verfügung stehen.

Wie also kann ein philippinisches Geschwister­paar in einem Gstaader Chalet Tieflohn­arbeiten verrichten?

Die naheliegendste Antwort wäre: illegal. Schätzungs­weise 80 Prozent der von Arbeits­ausbeutung Betroffenen halten sich ohne geregelten Aufenthalt in der Schweiz auf.

Aber so war es nicht im Fall von Jonathan Manalo und seiner Schwester. Beide erhielten hier eine Aufenthalts­bewilligung zwecks Erwerbs­tätigkeit. Aber keine gewöhnliche.

Ihre Aufenthalts­bewilligung war an die Stelle im Haushalt ihres Bosses Amir Halabi gekoppelt. Verloren sie die Stelle, verloren sie auch das Recht, in der Schweiz zu bleiben.

Die Spezialregel dazu bestimmt das Staats­sekretariat für Migration: Haus­angestellten aus Drittstaaten kann in «zureichend begründeten Ausnahme­fällen» der Aufenthalt bewilligt werden, er ist aber an die Stelle gebunden. In der Regel arbeiten sie für «Familien von vorüber­gehend in die Schweiz versetzten Mitarbeitenden in Kader­positionen». Deren berufliche und gesellschaftliche Verpflichtungen könnten es erfordern, Haus­angestellte zu haben, schreibt das Staats­sekretariat für Migration.

Gemäss einem Urteil des Berner Verwaltungs­gerichts, das sich auf Auskünfte des Staats­sekretariats stützt, sind schweizweit «höchstens 20 Zulassungen pro Jahr» möglich. Auf Anfrage der Republik gibt die Migrations­behörde aber an, dass sie in den letzten fünf Jahren jeweils in rund 35 Fällen zugestimmt habe.

Damit eine Ausnahme­bewilligung vergeben wird, muss die Haus­angestellte mindestens zwei Jahre lang bei der Familie gearbeitet haben, bevor diese sich in der Schweiz niederlässt.

Doch: Jonathan Manalo und Gabrielle Reyes sagen beide, sie seien nie auch nur in der Nähe von Saudiarabien gewesen. Beide begegneten Amir Halabi erstmals in seinem Chalet bei Gstaad.

Fünf

Amir Halabi erledigte seine administrativen Aufgaben nicht selbst. Für Behörden­gänge zählte er in der Regel auf die Unter­stützung eines Berner Treuhand­büros. Das sagen Quellen, und das zeigen Dokumente, die der Republik vorliegen.

Dazu gehören auch Unterlagen, die im Juni 2009 beim Berner Amt für Wirtschaft und Arbeit eingingen. Mit ihnen wurde um eine Arbeits­bewilligung für die Schwester ersucht.

Da ist unter anderem ein Brief. Vermerk: vertraulich. Betreff: Bestätigung. Unterschrift: Amir Halabi. Im Brief steht, dass die Schwester «seit dem 1.1.2005 – 31.12.2007 für uns als Kinder­mädchen in Saudiarabien gearbeitet hat». Die Kinder von Halabi hätten damals ein Vertrauens­verhältnis zu ihr aufgebaut.

Dem Brief beigelegt ist ein Arbeits­vertrag auf den Namen der Schwester für eine Anstellung als «domestic helper» in den Jahren 2005 bis 2007. Ausgestellt ist der Vertrag auf eine saudische Firma.

Da beide Geschwister beteuern, dass sie nie in Saudiarabien gearbeitet hätten, besteht der Verdacht, dass die Dokumente falsche Tatsachen vorspiegeln sollten.

Amir Halabi wird diesen Verdacht später verstärken, als er den Behörden sagt, er könne sich nicht erinnern, ob die Schwester schon in Saudiarabien für ihn gearbeitet habe – er habe dort viele Angestellte gehabt. Er wird ihnen auch sagen, dass sie seine Söhne nie betreut habe, weil sie dafür zu gross gewesen seien. Beides widerspricht den Darstellungen in den Dokumenten.

Halabi dürfte diese nicht selbst eingereicht haben, sondern das Berner Treuhand­büro. Von den Behörden einmal zu den Einzelheiten des Arbeits­verhältnisses mit seinen Haus­angestellten befragt, sagt Halabi: «Ich weiss es wirklich nicht.» Alle Informationen seien beim Treuhandbüro.

Das Treuhandbüro bestätigt, dass es «in der von Ihnen erwähnten Zeit Aufträge für diesen Klienten ausgeführt» habe. Man habe dies «nach bestem Wissen und Gewissen mit der nötigen Sorgfalt» getan. Und sei dabei «auf keine unrecht­mässigen Tatsachen gestossen». Darüber hinaus macht es keine Angaben und verweist auf das Berufsgeheimnis.

Gstaad Palace.
Der Bruder.
Die Schwester.

Amir Halabi hat seinen Wohnsitz seit dem 1. Januar 2006 in der Region um Gstaad. Er wird öffentliche Dienst­leistungen in Anspruch genommen und vermutlich Steuern gezahlt haben. Es wäre für die Schweizer Behörden sehr einfach heraus­zufinden gewesen, dass die Haus­angestellten von 2005 bis 2007 nicht in Saudiarabien angestellt waren und die eingereichten Dokumente damit mutmasslich gefälscht waren.

Das Staats­sekretariat für Migration gibt zum Einzelfall keinen Kommentar ab. Grundsätzlich gelte aber eine Mitwirkungs­pflicht für Arbeitgebende, wonach «zutreffende und vollständige Angaben» gemacht werden müssen, andernfalls können sie mit Freiheits­strafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft werden. «Besteht aus Sicht der zuständigen kantonalen oder Bundes­behörden Anlass zur Annahme, dass Unterlagen gefälscht oder manipuliert oder die Behörden absichtlich getäuscht wurden, wird solchen Hinweisen konsequent nachgegangen», schreibt das Staats­sekretariat.

Doch die Behörden schöpften keinen Verdacht: weder bei Gabrielle Reyes noch bei Jonathan Manalo. Sie stellten die Bewilligungen aus. So lebten und arbeiteten die Geschwister jahrelang legal in der Schweiz.

Solange sie ihre Stelle behielten.

Sechs

Der Tag begann in der Regel um acht Uhr morgens und endete um zwei Uhr nachts. Aber eigentliche Arbeits­zeiten gab es nicht. Die Geschwister standen ständig zur Verfügung. Sieben Tage die Woche, immer auf Abruf. Waren sie nicht in der Nähe, rief Halabi aufs Handy an. Auch wenn sie assen oder schliefen. Reyes sagt, sie habe manchmal ihr Essen ausspucken müssen, weil er angerufen habe und sie schnell zu ihm musste.

Auch ein Chauffeur, ein Fitness­trainer und ein Teilzeit­koch waren bei der Familie angestellt. Sie wohnten aber nicht im gleichen Haushalt.

Das Anwesen der Halabis bestand aus zwei Chalets und einer Wohnung: das grössere Chalet für den Boss und seine Ehefrau, ein kleineres und eine Wohnung für die Söhne.

Jonathan Manalo und seine Schwester wohnten in zwei Zimmern im Keller­geschoss des kleinen Chalets.

Über Amir Halabi und seine Familie ist wenig bekannt. Es heisst, sie seien sehr reich, über ihr Vermögen ist aber öffentlich nichts bekannt. Halabi besitzt in der Schweiz mindestens drei Chalets in der Region um Gstaad und laut eigenen Aussagen eine Wohnung in Montreux. Ihm gehört zudem eine kleine Immobilien­firma. Die Postadresse lautet auf das Berner Treuhandbüro. Den Behörden sagte Halabi einmal, er arbeite hier nicht. Er sei «in Rente» und lebe vom Geld eines Sohnes.

Trotzdem wertete das Staats­sekretariat für Migration Halabi offenbar als einen «in die Schweiz versetzten Mitarbeiter in Kader­position».

Morgens, wenn die Familie noch schlief, putzten die Geschwister die Räume, wuschen Kleider, schnitten den Rasen. Dann bereiteten sie das Frühstück vor.

Jonathan Manalo sagt, die Familie Halabi habe das Haus selten verlassen. Wenn, dann chauffierte sie der Fahrer. Die meiste Zeit aber schauten sie fern. Halabi trank. «A lot of alcohol», sagt Jonathan Manalo. Die Angestellten mussten wach bleiben, solange er wach war.

Manchmal wollte er um zwei Uhr morgens Barbecue. Dann grillten sie ihm Fleisch.

Manchmal gingen der Boss und seine Frau auswärts essen. Wenn sie nach Hause kamen – und das konnte jederzeit sein –, musste im Winter der Zugang zum Haus komplett schneefrei sein. Deshalb musste ständig jemand Schnee schaufeln. Die Geschwister wechselten sich ab. Sie durften beim Wechsel nicht zu lange warten. Denn was, wenn Halabi und seine Frau genau dann kämen, wenn sich eine dünne Schnee­schicht auf dem Weg gebildet hätte? Die Geschwister schaufelten. Wenn nötig, die ganze Nacht.

Sieben

Der Arbeitsvertrag sah 42 Arbeits­stunden pro Woche vor. Der Lohn betrug monatlich 4890 Franken für Reyes und 4550 Franken für Manalo. Er sagt, er habe netto 2200 Franken verdient und seine Schwester rund 2900 Franken. Ein Teil der Abzüge war für Kost und Logis. Obwohl die Geschwister, so sagen sie, ihr Essen selbst kaufen mussten.

Einmal im Monat fuhr Manalo nach Lausanne zu einem Transfer­büro und schickte 1000 Franken für die Mutter und die zwei anderen Geschwister in die Philippinen. Noch in der Dunkelheit huschte er am Chalet des Bosses vorbei quer durch den Garten, frühmorgens um fünf Uhr, um den ersten Zug zu erwischen. Am Ende des Grund­stücks sprang er über den Bach. So entging er den Kameras, die das Grund­stück überwachten. Und war wieder zurück, bevor die Familie aufstand.

Gabrielle Reyes finanzierte vor allem den Ehemann und ihre drei Kinder in den Philippinen. Der Boss schickte das Geld jeweils direkt an die Familie. Sie selbst erhielt jeden Monat nur 300 Franken ausbezahlt. Davon lebte sie.

Acht

Der Boss schlug nie, er schrie nicht, und er sprach auch kaum. Wenn, dann nur mit Reyes. Ihr gab er Befehle. Den ganzen Tag musste sie an seiner Seite verbringen, Befehle entgegen­nehmen und ihrem Bruder weiter­geben. Halabi mochte ihn offenbar nicht. Sie hingegen, sagt sie, musste an der Tür warten, wenn Halabi nach Hause kam, seine Schuhe und Hosen ausziehen und ihm Haus­kleidung übergeben.

Unter den Haus­angestellten erzählte man sich die Geschichte von einem früheren philippinischen Hausmädchen. Die habe sich einmal gewehrt. Halabi habe ihr danach vorgeworfen, Geld von der Familie gestohlen zu haben. Sie verlor die Stelle – und damit auch die Aufenthalts­bewilligung. Davor fürchteten sich die Geschwister. «Wir brauchen den Job», sagte Gabrielle Reyes immer wieder.

Neun

Die Soziologin Sarah Schilliger forscht zu Arbeits­ausbeutung in der Schweiz. Trotzdem hat sie noch nie von dieser Form von Ausnahme­bewilligungen für Haus­angestellte von «in die Schweiz versetzten Mitarbeitenden in Kader­positionen» gehört. «Diese Spezialregel ist erstens sehr missbrauchs­anfällig. Zweitens ist sie Ausdruck eines feudalen Systems: Man hofiert damit die Super­reichen, die nicht nur pauschal besteuert werden, sondern auch noch ihr eigenes Dienst­personal mitführen dürfen», sagt sie.

Die Regel gleiche dem abgeschafften Saisonnierstatut. Es sei gefährlich, den Aufenthalts­status an eine Stelle zu knüpfen. «Es erhöht die Gefahr von Ausbeutung, weil es eine Zwangslage begründen kann», sagt Schilliger.

Allgemein hinke die Schweiz bei der Bekämpfung von Arbeits­ausbeutung hinterher. «Bislang fehlt eine Präzisierung von Arbeits­ausbeutung im Schweizer Strafgesetz. Ausserdem sind Privat­haushalte bei Direkt­anstellungen noch immer vom Arbeits­gesetz ausgenommen.»

Das Staats­sekretariat für Migration schreibt auf Anfrage, entscheidend sei für die Ausnahme­bewilligung nicht, wer das Gesuch stelle. Es handle sich «regelmässig» um Mitarbeiter in Kader­positionen. Für die Bewilligung komme es aber auf die Lohn- und Arbeits­bedingungen an und dass das Arbeits­verhältnis schon im Ausland bestanden habe.

Beides werde zuerst von der kantonalen Behörde und dann vom Staats­sekretariat für Migration überprüft. Es gälten hohe Hürden und eine strenge Prüfung bei der Erst­zulassung. Und nach zwei Jahren erfolge noch einmal eine arbeitsmarktliche Kontrolle.

Das Staats­sekretariat für Migration hält fest: «Bis dato sind uns keine Fälle von Zwangs­lagen oder missbräuchlichen Arbeits­bedingungen in diesem Bereich bekannt.»

Es gibt keine Hinweise darauf, dass bei den Geschwistern eine Behörde je genauer hingeschaut hat, ob bei ihrer Arbeit alles mit rechten Dingen zugeht.

Das Staats­sekretariat nimmt zum geschilderten Einzelfall keine Stellung. Allgemein gelte aber: Ist eine Bewilligung einmal erteilt, folgt «keine systematische nachgelagerte Prüfung oder Kontrolle vor Ort». «Wir weisen darauf hin, dass Haus­angestellte vom Anwendungs­bereich des Arbeits­gesetzes ausgeschlossen sind, weshalb in Privat­haushalten auch keine Kontrollen des Arbeits­inspektorats stattfinden.»

Zehn

Aus dem schlechten Gefühl, das Jonathan Manalo in Miami am Telefon beschlichen hatte, wurde in der Schweiz Gewissheit. Es dauerte fünf Monate. Dann war sich Manalo sicher, dass seine Schwester einen Vertrauten gesucht hatte. Dass sie Hilfe brauchte.

Das war im Herbst 2011. Gabrielle Reyes ass kaum. Sie sagte, sie habe keinen Appetit. Dann sah er, dass sie sich erbrach. Einmal, zweimal, bald so regelmässig, dass er es nicht länger ignorieren konnte.

«Was ist los?», fragte er seine Schwester.

Endlich brachen auch die Worte aus ihr heraus.

Es habe 2008 angefangen, erzählte Gabrielle Reyes ihrem Bruder. Die Familie Halabi machte damals Ferien in einem Luxus­hotel in Ascona, und Reyes war nebenan in einem billigen Hotel einquartiert. Die Ehefrau war am Shoppen. Halabi schrieb ihr eine SMS: «Komm in mein Hotel.»

Als sie ins Zimmer trat, lag er nackt da, mit einem Tuch über den Hüften. Er wollte eine Massage. Und zog das Tuch beiseite. Sie rannte weg. So erzählt sie es später der Staats­anwaltschaft.

Halabi habe nicht aufgehört, sagt sie. Wenn er mit seiner Frau Sex hatte, musste Reyes frische Tücher und Früchte und irgendwann auch Dildos ans Bett bringen. Wenn die Ehefrau weg war, kamen Sex­arbeiterinnen. Gabrielle Reyes musste zuschauen. Manchmal forderte er sie auf, mitzumachen.

Die beiden Geschwister.
In der Fussgängerzone von Gstaad.

Sie schämte sich so sehr. Ihr Bruder war der Erste, dem sie je davon erzählte. Die Familie in den Philippinen weiss bis heute nichts.

«Ich bringe ihn um», sagte Manalo, als sie ihm alles erzählt hatte.

«Spinnst du», sagte Reyes. «Wir brauchen den Job.»

Die Geschwister blieben noch fünf Jahre.

Elf

Manalo und Reyes kannten damals das Nachbar­dorf nicht, in dem sie heute leben. Ausser dem Coop in Gstaad sahen sie kaum je ein Geschäft von innen, sie waren in keinem der umliegenden Wälder je spazieren und sie pflegten keine sozialen Kontakte abgesehen von denen zu einigen philippinischen Bekannten. Das wird Jonathan Manalo heute vorgeworfen. Ende 2022 hielt ein Gericht fest, er sei in der Schweiz mangelhaft integriert.

Gabrielle Reyes zuckte immer, wenn das Handy klingelte. Wenn es am Nachmittag geschah und Halabi sie in sein Zimmer rief, dann sah Manalo ihr an, worum es ging, noch bevor sie das Telefon auflegte. Sie sei dann rot im Gesicht geworden, sagt er, und auch auf den Armen habe sie rote Flecken bekommen. Dann ging sie zu Halabi ins Schlaf­zimmer. «Ich machte mit, weil Sir das verlangt hat», sagt sie später der Staats­anwaltschaft.

Jonathan Manalo wartete jeweils im anderen Chalet, putzte, kochte, bügelte und versuchte, an etwas anderes zu denken. Mit der Zeit gelang ihm das nur noch mit Alkohol. Bis die Schwester zu ihm sagte: «Dieses Haus wird dich noch umbringen.»

Im Jahr 2015 trennte sich Halabis Ehefrau von ihm und zog aus dem Chalet aus. Von da an kamen noch mehr Sex­arbeiterinnen. Gabrielle Reyes musste zuschauen, musste mitmachen, musste ihren Boss duschen.

«Natürlich fühlte ich mich wie eine Sklavin», sagt Gabrielle Reyes heute. «Aber wer hätte die Rechnungen meiner Familie bezahlt, wenn ich abgehauen wäre?»

Einmal im Jahr, wenn Halabi nach Saudiarabien verreiste, hatten die Geschwister Ferien. Dann flogen sie für einen Monat in die Philippinen zur Familie, die von allem nichts wusste.

Die Mutter der Geschwister ass jetzt drei Mahlzeiten pro Tag: Frühstück, Mittag­essen, Abend­essen. Manchmal ging sie ins Restaurant. Als sie später starb, hatte sie sogar Geld für die Beerdigung zur Seite gelegt. Die Kinder, die Nichten und die Neffen studierten. Niemand sass in einer Schubkarre, niemand verkaufte Plastik­flaschen an der Kreuzung.

Doch dann kam im Oktober 2016 der Tag, an dem Jonathan Manalo es nicht mehr aushielt. Er ging zu Amir Halabi und sagte: «Please, Sir, zahlen Sie mir endlich den Lohn, der mir zusteht.»

Entweder der Boss würde ihm die Verpflegung geben, die er jeden Monat vom Lohn abzog. Oder das Geld. Halabi antwortete: «Nein.»

Eine Stunde später sagte die Schwester zu Manalo: «Sir lässt ausrichten, dass du gefeuert bist.»

Jonathan Manalo packte seine Sachen, am nächsten Morgen musste er weg sein. Er versprach der Schwester, Hilfe zu holen.

Zwölf

Jonathan Manalo wusste, was ihm drohte. Seine Aufenthalts­bewilligung war nur noch wenige Monate gültig. Dann würde er sie verlängern lassen müssen.

Was tun, wusste er nicht. Wenn er trank, konnte er wenigstens schlafen. Bald war es eine Flasche Wodka am Tag. Bald sprach der Schnaps zu ihm. Er solle sich töten, sagten ihm die Stimmen in seinem Kopf. Jonathan Manalo versuchte es. Doch er erbrach die Schlaf­tabletten wieder.

Am 12. April 2017 lief seine Aufenthalts­bewilligung aus, und weil Jonathan Manalo nicht mehr bei Amir Halabi arbeitete, wurde sie nicht verlängert.

Dreizehn

Zweieinhalb Jahre später schlich Gabrielle Reyes frühmorgens aus dem Chalet. Es war Anfang Oktober 2019 und noch dunkel. Der Boss schlief. Ihr Bruder erwartete sie im Haus eines Bekannten, eines Philippiners, der in der Nähe wohnte. Dort warteten sie zu dritt, bis der Tag anbrach.

Um zehn Uhr trafen sie auf dem einzigen Perron des Dorf­bahnhofs eine Polizistin und einen Polizisten. Sie brachten Gabrielle Reyes nach Zürich. Dort kam sie in einem Frauen­haus unter.

Die Polizei nahm Ermittlungen auf gegen Amir Halabi wegen Wucher, Ausnützung einer Notlage und sexueller Nötigung. Als Opfer gilt nur Gabrielle Reyes. Jonathan Manalo nicht. Seine Situation sei nicht mit ihrer vergleichbar, wird später ein Gericht festhalten.

Vierzehn

Jonathan Manalo ist seit zehn Jahren HIV-positiv. Vor seiner Familie verheimlicht er das. Auch, dass er schwul ist. Aber der Aidshilfe Bern vertraute er sich an, nachdem er seine Stelle bei Halabi verloren hatte. Und erzählte gleich von allen Problemen, auch denen seiner Schwester. Eine Mitarbeiterin half: Manalo bekam psychiatrische Behandlung und eine Anwältin.

Der Anwältin gelang es nach langen Abklärungen mit Polizei und Migrations­dienst, dafür zu sorgen, dass die Aufenthalts­bewilligung von Gabrielle Reyes vom Arbeits­verhältnis bei Amir Halabi entkoppelt wurde.

So konnte sie schliesslich die Stelle verlassen, ohne den Aufenthalt in der Schweiz zu gefährden.

Anders bei ihrem Bruder.

Fünfzehn

Jonathan Manalo befreite zuerst sich, dann seine Schwester aus ausbeuterischen Verhältnissen. Aber in Sicherheit ist er deswegen nicht. Seit sechs Jahren kämpft er darum, in der Schweiz bleiben zu dürfen.

Ab wann hat ein Staat eine Fürsorge­pflicht für seine Bewohnerinnen? Was muss ein Mensch erdulden, bis es die Schweiz etwas angeht? Und wie viel Geld muss jemand ins Land bringen, bis er das behördliche Ermessen auf seiner Seite weiss?

Manalos Anwältin hat mehrmals Beschwerde gegen die Ausweisung ihres Mandanten eingelegt. Zweimal hat sie bisher verloren. Ende Dezember 2022 urteilte das Berner Verwaltungs­gericht, es sei zulässig, das Anwesenheits­recht an die Arbeits­stelle zu koppeln. Es könne dabei «von ‹Zwangsarbeit› keine Rede sein».

Der Beschwerde­führer sei mangelhaft integriert: Weder spreche er Deutsch, noch habe er ein soziales Netz hier. Daran ändere sich auch nichts, wenn das auf die Arbeits­bedingungen zurück­zuführen sei.

Er gilt nicht als Härtefall: Die HIV-Infektion könne in den Philippinen behandelt werden. Er werde als schwuler, HIV-positiver Mann dort zwar diskriminiert, aber eine Rückkehr sei trotzdem zumutbar. Auch, weil er dort Familie habe.

Er habe die näheren Umstände seiner Kündigung nie genügend dargelegt. Er habe auch keine rechtlichen Schritte gegen Amir Halabi eingeleitet. Es sei rechtmässig, wenn ihm – anders als seiner Schwester – keine Härtefall­bewilligung erteilt wird.

Sechzehn

«Ich weiss nicht, warum es so schwierig ist, mir eine Bewilligung zu geben», sagt Jonathan Manalo auf der Terrasse eines Cafés in Bern. Er kommt von einem Arzttermin im Inselspital. Er will nichts trinken, sich auch nicht auf ein Getränk einladen lassen. «Thank you very much, Madam», sagt er und deutet auf ein PET-Fläschchen Eistee in seiner Tasche. «No, thank you, I have this, Madam.»

Er ist eine unscheinbare Gestalt. Auffällig aber ist seine Stimme, leise und heiser, als käme sie unter Schmerzen zustande. Laut sein, das kann diese Stimme nicht mehr. Vielleicht hat sie es nie gelernt. Denn Jonathan Manalo sollte leise sein und unauffällig, sein ganzes Leben lang, zuvorkommend und immer verfügbar.

«Seit sechs Jahren denke ich jeden Tag an die Aufenthalts­bewilligung», sagt er. «It’s mental torture.»

Siebzehn

Mit seiner Schwester wohnen, arbeiten, der Familie Geld nach Hause schicken und hier ein Leben ohne Diskriminierung als schwuler und HIV-positiver Mann führen – das sei alles, was er sich wünsche. Wenn er hierbleiben könnte, würde er es endlich seiner Schwester erzählen, sagt er: das mit dem HIV und der Homosexualität.

Seine Anwältin hat das Urteil des Berner Verwaltungs­gerichts an das Bundes­gericht weitergezogen. Den Gedanken, dass es abgewiesen werden könnte, muss Jonathan Manalo aus seinem Kopf aussperren. Sonst werde er verrückt, sagt er, und das überlebe er vielleicht nicht.

Achtzehn

Heute arbeiten die Geschwister wieder in einem Haushalt in Gstaad, im Chalet einer britischen Familie. Gabrielle Reyes hat jetzt eine gewöhnliche Aufenthalts­bewilligung. Jonathan Manalo darf hier arbeiten, bis das Verfahren abgeschlossen ist. So muss der Staat ihm keine Sozial­hilfe zahlen.

Geschützt gegen Einblicke.
Gesuchte Aussicht.

Ihre neue Stelle sei gut, sagen die Geschwister, die Familie nett und die Arbeits­zeiten fest. Doch Gabrielle Reyes geht auch heute nur unruhig durch Gstaad. Zweimal ist sie ihrem ehemaligen Boss begegnet. Sie sah ihn bloss von weitem zwar, aber die roten Flecken an Hals und Gesicht kamen sofort zurück. Sie floh in eine Seiten­gasse und auf eine Toilette.

Wann das Bundesgericht über die Beschwerde von Jonathan Manalo urteilen wird, ist unklar. Unklar ist auch der Ausgang des Straf­verfahrens gegen Amir Halabi im Fall von Gabrielle Reyes. Seit 2019 ermittelt die Staats­anwaltschaft Thun. Halabi bestritt bisher alle Vorwürfe. Die Republik hat seiner Anwältin, seinem Treuhänder und ihm persönlich ausführliche Fragen­kataloge geschickt. Trotz mehrfacher Nachfrage nahm Halabi keine Stellung zu den Vorwürfen.

Bis jetzt hat die Staats­anwaltschaft noch keine Anklage erhoben. Amir Halabi lebt immer noch in seinem Chalet in der Nähe von Gstaad.

Neunzehn

Die Soziologin Sarah Schilliger sagt: «Es ist davon auszugehen, dass die Dunkel­ziffer sehr gross ist.» Nur die allerwenigsten Fälle von Arbeits­ausbeutung kämen ans Licht.

Es sei schön in Gstaad, sagt Pfarrer Pasalidi. Eine Welt für sich. «Aber», sagt er und zieht das «a» sehr lang. «Wo Sonne, da auch Schatten.»

Zwanzig

Manchmal, an schlechten Tagen, verliert die Schwester die Hoffnung. Sie sagt dann zu ihrem Bruder: «Weisst du, vielleicht werden wir nie Gerechtigkeit erleben. Es gibt keine Gerechtigkeit, wenn du gegen Reiche kämpfst.»

«Nein», sagt er dann. Er antwortet immer das Gleiche. «Das stimmt nicht. Das hier ist die Schweiz. Selbst wenn du reich und berühmt bist – die Gesetze in der Schweiz sind fair. Weil die Menschen­rechte wurden doch in der Schweiz erfunden.»

Zur Recherche und zu den Quellen

Anfang Januar entdeckte die Autorin eine Meldung der SDA: Darin berichtete die Nachrichten­agentur über ein Urteil des Berner Verwaltungs­gerichts, wonach ein philippinischer Haus­angestellter trotz HIV und Homosexualität abgeschoben werden sollte. Die Autorin recherchierte die Identität des Haus­angestellten, kontaktierte ihn und später auch die Schwester. Sie führte mehrere Interviews und wertete ausserdem zahlreiche Dokumente aus: Arbeits­verträge, Protokolle von Einvernahmen durch die Strafbehörden, Aufenthalts­bewilligungen und Gesuche, Korrespondenz mit den Migrations­behörden, Grundbuch-, Handelsregister- und Wohnsitzdaten.

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