Am Gericht

Die Staatsanwältin muss in den Ausstand

Es beginnt mit einer fröhlichen Nacht zu viert und endet damit, dass ein Mensch aus dem Fenster stürzt. Wer ist schuld – und woran? Der Vorfall ist noch nicht fertig aufgearbeitet, klar ist aber: Die Anklägerin hat gravierende Fehler gemacht.

Von Brigitte Hürlimann, 12.04.2023

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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«Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungs­instanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.» So steht es in der Bundes­verfassung (BV). Was sich aus dem Wortlaut nicht auf den ersten Blick ergibt: Artikel 29 Absatz 1 BV gilt als Grundlage für das Recht auf einen Staats­anwalt, der unabhängig und unvoreingenommen untersucht. Tut er dies nicht oder besteht nur schon der Anschein einer Befangenheit, muss er in den Ausstand.

Das Gleiche gilt natürlich auch für Richterinnen, und zwar gestützt auf Artikel 30 BV – etwa für Bezirks­richter Roger Harris, dem die Zürcher Staats­anwaltschaft Befangenheit vorwirft, im Zusammenhang mit der gerichtlichen Aufarbeitung von Klima­aktionen. Die Ausstands­frage in Bezug auf Richter Harris ist derzeit noch vor Bundes­gericht hängig.

Nun geht es erneut um ein Ausstands­begehren und wieder um einen Zürcher Fall. Doch dieses Mal wird eine Staats­anwältin in den Ausstand geschickt, und zwar per Gerichts­beschluss, der rechtskräftig geworden ist. Ob Strafverfolger oft in den Ausstand müssen oder von sich aus in den Ausstand gehen, darüber mag die Oberstaats­anwaltschaft des Kantons Zürich keine Auskunft geben: Es werde «keine Statistik» geführt.

Ort: Obergericht des Kantons Zürich
Zeit: Verfügung und Beschluss vom 17. Februar 2023
Fall-Nr.: UE220066
Thema: Einstellung, Ausstand

Eine Frau, ein Mann und zwei trans Frauen treffen sich in einer Juninacht 2019 im Zürcher Ausgeh­viertel, im Stadtkreis 4. Sie sind zwischen Mitte dreissig und fünfzig Jahre alt, stammen aus Latein­amerika und kennen sich lose. In der Wohnung der heute 43-jährigen brasilianischen Frau wird getrunken, geschwatzt, gelacht, gekokst und gekifft. Doch die Stimmung kippt, als eine der trans Frauen, eine Kolumbianerin, von Suizid­absichten zu sprechen beginnt und sich einem geöffneten Fenster nähert, den Fuss auf die Fensterbank stellt.

Die drei anderen reagieren erschreckt. Sie berichten später, wie sie die Wohnung gemeinsam verlassen hätten, weil sie von der Frau am Fenster dazu aufgefordert worden seien. Die Kolumbianerin habe ihnen versprochen, sich nichts anzutun, wenn sie nur allein und in Ruhe gelassen werde.

Unmittelbar danach, kurz vor Mitternacht, stürzt sie mehr als neun Meter in die Tiefe, aus dem zweiten Stockwerk, und bleibt schwer verletzt auf der Strasse liegen.

Und dann beginnen die Mühlen der Straf­justiz zu mahlen.

Die drei anderen Party­leute kommen in Untersuchungs­haft, über zwei Monate lang. Die Kolumbianerin hat nämlich gegenüber den Straf­verfolgern behauptet, sie sei aus dem Fenster gestossen worden. Die Ermittlungen laufen mit dem Fokus auf eine versuchte Tötung.

Die Staats­anwältin fordert happige Strafen

Erst im Laufe der Untersuchung wird klar, dass die Aussagen der verletzten trans Frau unwahr sind. Der Vorwurf der versuchten Tötung wird von der fallführenden Staats­anwältin fallen gelassen. Und trotzdem kommt es zum Strafprozess gegen die drei Beteiligten: Neu klagt Katrin Baumgartner wegen Unterlassung der Nothilfe an und verlangt für alle drei Beschuldigten eine bedingte Freiheits­strafe von 9 Monaten – ein happiges Strafmass. Die drei hätten realisiert, dass die trans Frau verletzt am Boden liege, und sich einfach davongemacht, ohne Hilfe zu leisten oder zu organisieren, so die Staatsanwältin.

Sie dringt mit ihren Anträgen insofern durch, als zuerst das Bezirks­gericht Zürich und danach auch das Obergericht Schuld­sprüche verhängen. Sie sprechen allerdings deutlich tiefere Strafen aus; bedingte Geldstrafen von je 100 Tagessätzen à 30 Franken. Beide Instanzen stufen das Verschulden als leicht ein.

Doch damit ist die Aufarbeitung jener dramatischen Nacht vom Juni 2019 längst nicht beendet. Die Gastgeberin der Wohnungs­party im Kreis 4, die 43-jährige Brasilianerin, akzeptiert den obergerichtlichen Schuld­spruch wegen Unterlassung der Nothilfe nicht und zieht ihn vor Bundes­gericht.

Sie kämpft um einen Freispruch. Und um viel mehr.

Durch ihren Verteidiger, Adam Arend, hat sie schon vor dem Berufungs­prozess den Ausstand von Staats­anwältin Baumgartner beantragt – und dafür eine Vielzahl von Gründen geltend gemacht. Das Begehren ist noch hängig, als der Brasilianerin und den anderen beiden Beschuldigten im Juli 2022 am Obergericht der Prozess gemacht wird.

Die Wogen gehen hoch. Vor allem wegen dieses Ausstands­begehrens.

Der Gerichts­vorsitzende mahnt zur Contenance

«Verteidigung diffamiert Staats­anwältin», schreibt der «Tages-Anzeiger» nach dem Prozess. Und: Die «Umstände der Straf­untersuchung» hätten zwischen der Staats­anwältin und dem Verteidiger «böses Blut» geschaffen. Tatsächlich spricht Katrin Baumgartner vor Schranken von «persönlich diffamierenden Äusserungen» des Verteidigers, die «standesrechtlich relevant» sein könnten (und meint damit, dass Adam Arend Ärger drohe). Noch nie in ihren fünfzehn Jahren als Staats­anwältin habe sie einen solchen Angriff erleben müssen, der sie als Person und ihre fachlichen Fähigkeiten betreffe. Sie werde den Rechts­dienst der Oberstaats­anwaltschaft informieren.

Ausstandsgründe lägen keine vor.

Oberrichter Christoph Spiess hört sich das alles an und mahnt zur Contenance. Es sei auf «unnötige Polemik» zu verzichten, wird Spiess im «Tages-Anzeiger» zitiert. Aufs Ausstands­begehren des Verteidigers geht er nicht ein, auch die Forderung nach einer Sistierung des Berufungs­prozesses wird abgewiesen. Die Verhandlung nimmt ihren Lauf, alle drei Beschuldigten werden erneut verurteilt, es bleibt bei den bedingten Geldstrafen, obwohl die Staats­anwältin einmal mehr Freiheits­strafen gefordert hatte.

Darf das der Richter tun, ein hängiges Ausstands­begehren gegen die Staats­anwältin, die vor ihm steht, einfach ignorieren? Ja, findet Christoph Spiess, weil der Ausstand in einem anderen Straf­verfahren verlangt worden sei – nicht in jenem, das er und die zwei Mitrichter zu beurteilen haben.

Bei diesem «anderen Strafverfahren», das Spiess erwähnt, geht es zwar ebenfalls um den Fenstersturz, hier aber nimmt die verletzte Kolumbianerin die Rolle der Beschuldigten ein – und ihre drei Kolleginnen sind Geschädigte beziehungsweise Privat­klägerinnen, wie es im Prozess­jargon heisst.

Der Grund für den Rollentausch: Gegen die Kolumbianerin wird eine Straf­untersuchung wegen falscher Anschuldigung eröffnet. Das ist alles andere als ein Bagatell­delikt; Rechtsanwalt Arend spricht von einem «schweren Verbrechen», weil die mutmassliche Täterin drei Personen wider besseres Wissen der versuchten Tötung bezichtigt und damit erreicht habe, dass diese mehr als zwei Monate lang in Untersuchungs­haft kamen.

76 Tage waren es exakt.

Ein neues Verfahren – die gleiche Staats­anwältin

Die Sache mit der falschen Anschuldigung wird ebenfalls von Staats­anwältin Baumgartner untersucht – allerdings mit wenig Eifer. Das stellt nicht nur Adam Arend fest, sondern später auch das Obergericht.

Doch der mangelhafte Strafverfolgungs­wille ist nur das eine. Es zeige sich, schreibt der Anwalt in seinem Ausstands­begehren, dass die Staats­anwältin nicht willens oder, «noch schlimmer», nicht fähig sei, ein gesetzes­konformes Verfahren durchzuführen: «Es reiht sich ein Verfahrens­fehler an den nächsten.» Der Anwalt spricht von einer «augenscheinlichen Ungleich­behandlung»: Wenn es darum gehe, seine Mandantin als Beschuldigte zu behandeln und anzuklagen, zeige die Staats­anwältin eine «Vehemenz und Härte», die keine Stütze im Gesetz finde. Er meint damit vor allem die lange Untersuchungs­haft und den Strafantrag wegen der Unter­lassung von Nothilfe, diese bedingte Freiheits­strafe von 9 Monaten, die später kein Gericht verhängen wollte.

Ganz anders, so Arend, gehe die Staats­anwältin gegen die Kolumbianerin vor, die sich als mutmassliche Täterin wegen falscher Anschuldigung verantworten muss.

Die von der Rolle der Geschädigten in die Rolle der Beschuldigten wechselte. Und beide Male der gleichen Staats­anwältin gegenübersitzt.

Zunächst sah es für die Kolumbianerin gut aus, trotz des unfreiwilligen Rollen­wechsels, denn Baumgartner wollte das Straf­verfahren gegen sie sistieren, was das Obergericht nicht akzeptierte: Es gebe keinen Grund dafür und verletze das Beschleunigungs­gebot.

Daraufhin reichte die Staatsanwältin zwar doch noch eine Anklage­schrift ein, diese wurde aber vom Bezirksgericht Zürich gleich zweimal als ungenügend an die Absenderin zurückspediert – mit Hinweisen darauf, was alles fehle. Unter anderem wurde die Staats­anwältin unmissverständlich aufgefordert, die drei zur fraglichen Zeit in der Wohnung anwesenden Kolleginnen gefälligst zu befragen. Spezifisch für das neue Verfahren wegen falscher Anschuldigung.

Das tat die Staatsanwältin nicht.

Sondern stellte das Straf­verfahren kurzerhand ein.

Ohne weitere Untersuchungen zu tätigen. Anweisungen des Bezirks­gerichts hin oder her.

Es lasse sich nicht beweisen, schreibt sie in der Einstellungs­verfügung, dass die Kolumbianerin bewusst falsche Aussagen gemacht habe. Daran ändere auch eine Befragung des Trios nichts. Überhaupt sei die trans Frau stark alkoholisiert gewesen und unter dem Einfluss von Drogen gestanden, was ihre geistigen Fähigkeiten beeinträchtigt habe. Sie habe «für sich nicht ausschliessen können», aus dem Fenster gestossen worden zu sein.

Sache erledigt.

Dem Anwalt reisst der Gedulds­faden

Das sei starker Tobak, findet Rechtsanwalt Adam Arend. Die Einstellungs­verfügung war für ihn der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Arend schickt zuhanden des Obergerichts zwei Begehren ab. Erstens sei die Einstellungs­verfügung aufzuheben, sprich: die Straf­untersuchung wegen falscher Anschuldigung fortzusetzen. Und zweitens sei die fallführende Staats­anwältin in den Ausstand zu schicken.

Mit Verfügung und Beschluss vom 17. Februar 2023 heisst das Obergericht beide Begehren gut.

Die Einstellungs­verfügung wird aufgehoben und die Staats­anwältin daran erinnert, dass sie «die zur Abklärung des Sachverhalts notwendigen Untersuchungs­handlungen», vor allem die Einvernahme des Trios, vorzunehmen habe. Gerade weil kein Geständnis der Kolumbianerin vorliege, die Beweis- und Rechtslage unklar sei, müsse die Sache einem Gericht zur Beurteilung unterbreitet werden.

Katrin Baumgartner wird diese Untersuchungs­handlungen jedoch nicht mehr durchführen können, weil auch das Ausstands­gesuch gutgeheissen wird. Die III. Strafkammer des Obergerichts begründet das so:

  • Die Staatsanwältin hat sich über die unmissverständliche Anweisung des Bezirks­gerichts hinweggesetzt, indem sie die drei Privat­klägerinnen nicht befragte, sondern das Verfahren einstellte.

  • Damit zeigt sie, «dass sie nicht willens ist, die weiteren notwendigen Untersuchungs­handlungen vorzunehmen», um das Verfahren zum Abschluss zu bringen.

  • Dass ihre Einstellungs­verfügung durch die Vorgesetzten genehmigt wurde, entlastet sie nicht. Der Genehmigung kommt «reine Kontroll­funktion» zu, sie «garantiert weder Fehlerfreiheit» noch kann daraus eine Unbefangenheit abgeleitet werden.

  • Bei der ersten Anklage­schrift, die sie beim Bezirks­gericht einreichte, hat sie es unterlassen, das Tatbestands­element der Absicht zu umschreiben. Das ist ein Mangel, der sich «wesentlich zum Nachteil der Privat­klägerinnen» hätte auswirken können.

  • Die Staatsanwältin hat zudem eine möglicher­weise «unverhältnismässig milde Strafe» für die beschuldigte Kolumbianerin verlangt – eine bedingte Geldstrafe von 100 Tagessätzen. Dies, obwohl beim Tat­bestand der falschen Anschuldigung eine Strafe von mehr als 12 Monaten droht.

  • Das rechtliche Gehör der Privat­klägerinnen wurde verletzt.

  • Und nicht zuletzt wollte die Staats­anwältin das Verfahren sistieren, «ohne objektiven Grund und damit zu Unrecht».

Eine «schwere Amtspflicht­­verletzung»

Zusammenfassend kommt das Obergericht zum Schluss, all diese Verfahrens­mängel kämen «in ihrer Gesamtheit einer schweren Amtspflicht­verletzung» gleich und wirkten sich zuungunsten jener drei Menschen aus, die von der falschen Anschuldigung betroffen waren – darunter die Brasilianerin, die den Ausstand der Staats­anwältin verlangt hatte.

Insgesamt bestehe der Eindruck, so das Obergericht weiter, dass die Staats­anwältin nicht gewillt sei, eine ordnungs­gemässe Straf­untersuchung gegen die Kolumbianerin zu führen und zum Abschluss zu bringen, «weshalb zumindest ein Anschein der Befangenheit zu bejahen ist».

Wie geht es nun weiter?

Katrin Baumgartner hat den Beschluss des Obergerichts akzeptiert, ein neuer Staats­anwalt führt nun das Verfahren wegen falscher Anschuldigung.

Ob sie mit Konsequenzen zu rechnen hat, ist unklar. Die Oberstaats­anwaltschaft teilt auf Anfrage mit, es seien «interne Überprüfungs­massnahmen eingeleitet worden», was die gerichtlich festgestellten Verfahrens­mängel betreffe. Weitere Fragen würden «angesichts des nach wie vor laufenden Verfahrens» nicht beantwortet.

Illustration: Till Lauer

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