Dieser Reichtum macht uns arm

Die Summe der globalen Vermögenswerte beläuft sich inzwischen auf einen Rekordwert von 1540 Billionen Dollar. Die Leistungs­fähigkeit der Weltwirtschaft hat im Vergleich viel weniger zugenommen. Was also kaufen wir mit all dem Geld?

Von Werner Vontobel (Text) und Philotheus Nisch (Bild), 10.04.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
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Die Vorratskammern unserer Vorfahren waren spätestens nach jeder Dürre leer. Mehr als einen Jahres­vorrat einiger weniger Lebens­mittel konnte man ohnehin nicht lagern. Erst die Erfindung des Geldes hat völlig neue Dimensionen der Vorrats­haltung eröffnet. Statt Waren kann man nun Wertpapiere horten, sprich Ansprüche gegen Dritte. Gut betuchte Rentner können sich so locker für die nächsten 20 Jahre absichern. Was in dieser Hinsicht weltweit möglich ist, hat McKinsey in einer Presse­mitteilung neulich wie folgt zusammen­gefasst: «Die Welt war noch nie so wohlhabend.» Die «globale Vermögens­summe» habe sich seit dem Jahr 2000 mehr als verdreifacht und belaufe sich nun auf 1540 Billionen Dollar, das 13,7-Fache des globalen Bruttoinland­produkts (BIP) von 112 Billionen.

Dieses krasse Missverhältnis von Guthaben und realem Gegenwert (BIP) erklärt auch, warum periodische Finanz­krisen unvermeidlich sind: Die allermeisten Guthaben sind nur so lange werthaltig, wie nicht zu viele Gläubiger gleichzeitig ihre Forderungen anmelden. Die Geldgeber müssen also nicht nur ihre Schuldner scharf beobachten, sondern ebenso alle anderen Gläubiger. Das kleinste Anzeichen eines Vertrauens­verlusts ist ein guter Grund, noch genauer hinzuschauen. Und wenn ein Schuldner erst einmal die volle Aufmerksamkeit der Finanz­märkte auf sich gezogen hat, dann gilt es, schnell zu handeln. Genau das ist der CS zum Verhängnis geworden.

An dieser Stelle müssen wir ein Geheimnis lüften: Geld ist nicht, was wir glauben. Unsere tägliche Erfahrung lehrt uns, dass Geld und materieller Reichtum ein und dasselbe seien. Mit einer Hunderter­note können wir in der Migros den Einkaufs­wagen randvoll füllen. Milliardäre haben Jachten, und sie fliegen in Privatjets. Die Federers können sich in bester Lage einen ganzen Gebäude­komplex bauen lassen. Und wenn der Finfluencer mit seiner raffinierten Strategie die erste Million verdient hat, kauft er sich einen oder zwei Lamborghinis, damit wir ihm das auch glauben. So weit, so gut.

Doch wenn nun – Achtung Gedanken­experiment! – alle zu Day-Tradern würden und an den Börsen die Kurse so hochtrieben, dass alle zu Millionären würden, dann könnte sich niemand mehr einen Lamborghini leisten. Es gäbe keine mehr: Es wären ja alle am Traden und da wäre niemand mehr, der den Lamborghini auch bauen könnte. Die Millionen hätten ihre Kauf­kraft verloren.

Volkswirtschaftlich gesehen ist Geld eben keine Ware, sondern bloss ein Waren­gutschein – ein Anspruch darauf, dass andere etwas für uns tun. Der Wert des Geldes hängt somit davon ab, ob es genügend andere gibt, die den Wert­anspruch mit realen Gütern unterlegen. Bezogen auf unsere 1540 Billionen Dollar heisst das, die vielleicht 10 Prozent der Welt­bevölkerung, die diese Guthaben zusammen besitzen, könnten 13,7 Jahre lang die bezahlte Arbeit und Wertschöpfung aller Bürger dieser Welt für sich reklamieren. Sie könnten also während 13 Jahren alle Migros-Regale und alle Lamborghinis abräumen, in den Spitälern würden nur noch sie gepflegt und in den Schulen würden nur noch ihre Kinder unterrichtet. Erst dann wäre die Schuld der anderen getilgt. Erst dann wären die Aberbillionen real geworden.

Das geht natürlich nicht. Das wäre auch damals nicht gegangen, als der global wealth nur das Dreifache der jährlichen globalen Wertschöpfung betragen hatte. Die Geld­vermögen können nur deshalb Jahr für Jahr schneller wachsen als die reale Wert­schöpfung, weil die Reichen immer nur einen Bruchteil ihrer Guthaben einfordern (dort eine Villa, hier einen Porsche) und stattdessen lieber immer noch mehr finanziellen Reichtum anhäufen.

Dennoch schreibt McKinsey: «Die Welt war noch nie so wohlhabend» – so als hätten wir Welten­bürger tatsächlich reale Reserven angelegt, statt uns bloss gegenseitig zu verschulden und gegeneinander Zahlungs­ansprüche anzuhäufen, deren wirkliche Einlösung immer unwahrscheinlicher wird. Wenn nur das Buch­vermögen, nicht aber die reale Produktions­kapazität zunimmt, bedeutet das ja: Der Anspruch auf Reichtum wächst, nicht der wirkliche Reichtum. Die Schuld­titel nehmen zu, die irgend­jemand decken sollte. Aber das Potenzial, sie auch wirklich abzugelten, nimmt nicht zu.

Teures Schmieröl für die Wirtschaft

Der Grund für die rosige Sicht von McKinsey liegt wohl darin, dass diese Finanz­guthaben die Wirtschaft auf Trab halten und viel BIP generieren. Die 1540 Billionen Wertpapiere in Dollar liegen nicht einfach bis zum Verfallstag herum, sie werden laufend gehandelt, in Fonds verpackt, zu Verwaltungs­mandaten gebündelt, auf ihren Kursverlauf wird gewettet. Mitte 2022 umfassten Finanz­transaktionen dieser Art Wertpapiere im Umfang von 632 Billionen Dollar.

Die entsprechenden Aktivitäten erhöhen das BIP. Ein aktiv verwalteter Aktien­fonds etwa generiert jährliche Fonds­gebühren von 1,5 bis 2 Prozent des Anlage­vermögens. Dazu kommen noch 0,1 bis 0,3 Prozent Depot­führungs­gebühr. Das läppert sich zusammen. In der Schweiz etwa belaufen sich die Aufwendungen des Finanz­sektors auf 15,5 Prozent des BIP.

Vertreter der Finanz­industrie sprechen in diesem Zusammen­hang gerne von «einem hohen Beitrag an das Brutto­sozialprodukt», so als habe man etwas in einen gemeinsamen Topf eingebracht. Das ist irreführend. Was Ökonomen als «Wertschöpfung» messen können, ist immer nur die Wertab­schöpfung – also das, was die Leistungs­erbringer kassieren beziehungs­weise was die Empfänger dafür bezahlen müssen. So gesehen sind die 15,5 Prozent ein sehr hoher Preis. Selbst wenn darin einige sehr nützliche Leistungen wie etwa die Abwicklung des Zahlungs­verkehrs enthalten sind.

Auch in der Ökonomie wird die Geschichte von den Siegern geschrieben – von McKinsey zum Beispiel. Aus ihrer Sicht ist der rasante Anstieg der Guthaben eine gute Sache. Aus der Optik der Verlierer drängen sich aber durchaus ein paar Fragen auf: Wie kommt es, dass die Welt immer mehr Finanz­guthaben (und -schulden) anhäuft? Ist es für die Realwirtschaft nicht eine Belastung, wenn sie immer grössere finanzielle «Vorräte» mitschleppen muss? Das Geld galt einst als «Schmiermittel» der Wirtschaft. Jetzt kostet dieses Schmieröl uns – beziehungsweise die Verlierer – ein Sechstel beziehungsweise die erwähnten 15,5 Prozent des volkswirtschaftlichen Gesamt­einkommens.

Der stetig steigende finanzielle «Wohlstand» der Welt bringt aber nicht nur teure Folge­lasten mit sich, er hat auch eine sehr unsoziale Ursache: die zunehmend ungleiche Verteilung der Einkommen. Dies wiederum resultiert in erster Linie daraus, dass der globale Standort­wettbewerb den im Lehrbuch vorgesehenen harten Preiswettbewerb verdrängt. Dieser sorgte einst dafür, dass die Unternehmen ihre Gewinn­reserven bei der jeweils nächsten Konjunktur­flaute wieder abbauen beziehungsweise an die Konsumenten und Arbeit­nehmerinnen abgeben mussten.

Der Preiswettbewerb sorgte längerfristig dafür, dass die Margen nicht zu hoch werden konnten. Wenn die Konsumlust abnahm, verschärfte sich der Preiskampf zwischen den Unternehmen, und die Gewinne wurden aufgezehrt. Die «Vorrats­kammern» wurden immer wieder geleert. Die Summe der Schulden und Guthaben entwickelte sich mehr oder weniger parallel zum steigenden BIP.

Unter dem Regime des Standort­wettbewerbs gelten jedoch andere Spielregeln. Jetzt müssen die Unternehmen nicht mehr um die Gunst der Konsumentinnen und Mitarbeiter kämpfen, sondern umgekehrt. Diese beziehungs­weise deren Standorte müssen mit tiefen Löhnen und Steuern um die Gunst der Multis und der Kapital­märkte buhlen. Das erlaubt es den Multis, die Löhne so tief zu halten, dass entlang der globalen Wertab­schöpfungs­ketten immer mehr Arbeit­nehmerinnen ihre laufenden Ausgaben nicht mehr aus den Markt­einkommen decken können. Deshalb muss ihnen der Staat mit Sozial­ausgaben zu Hilfe eilen.

Globalisierung hat das Gleich­gewicht zerstört

Eine Markt­wirtschaft so zu organisieren, dass sie nicht nur effizient produziert, sondern auch allen nützt, ist eine kulturelle und staats­männische Meister­leistung, die immer seltener gelingt. Das vielleicht grösste – und meistunterschätzte – Problem besteht darin, den Konsum auf ein Niveau zu bringen, das der steigenden Produktivität entspricht. Eine Hochleistungs­wirtschaft braucht verwöhnte Konsumentinnen und Arbeit­nehmer, die zudem auch mächtig genug sind, um die entsprechenden Lohn­forderungen durchzusetzen. Das bedeutet, dass sie die Unternehmen dazu bringen müssen, ihre Wertschöpfung so auf die Arbeit­nehmer und Aktionärinnen zu verteilen, dass diese die hergestellten Produkte auch kaufen können.

Im Lehrbuch­modell der Ökonomen wird dieses Gleich­gewicht durch die Marktkräfte von allein hergestellt. In der Realität braucht es dazu die Hilfe des Staates und starker Gewerkschaften. Bis in die 1980er-Jahre hat es noch relativ gut funktioniert. Die Löhne stiegen etwa drei Jahrzehnte lang auf breiter Front mit der Produktivität, und die Arbeits­zeiten wurden kontinuierlich gesenkt. Die Globalisierung hat dieses Gleichgewicht jedoch zerstört. Die Multis können dort produzieren, wo sich die Arbeitnehmer mit wenig zufrieden­geben (müssen), und ihre Produkte dort zu Monopol­preisen verkaufen, wo die Kaufkraft hoch ist. Notfalls drohen sie mit der Auslagerung der Produktion.

Unter dem Strich bedeutet dies, dass die Multis im Verhältnis zum Umsatz weniger Löhne und Steuern bezahlen müssen und gleichzeitig entsprechend höhere Gewinne erzielen. Das heisst aber auch, sie verteilen ihre Wert­schöpfung nicht mehr so, dass die Löhne genügend Nachfrage schaffen. Um Nachfrage­ausfall und Arbeits­losigkeit zu verhindern, muss sich der Staat laufend bei den Unternehmen und deren gut bezahlten Kadern verschulden.

Was die Multis unter normalen (früheren) Umständen an Löhnen und Steuern bezahlt haben, pumpen sie in der globalisierten Wirtschaft in Form von Krediten in den Geldkreislauf zurück. Dabei bleiben laufend Guthaben und Schulden stehen.

Was sich da so zusammen­läppert, illustriert ein Blick auf die Volkswirtschaftliche Gesamt­rechnung der EU. Nach der haben sich bei EU-Unternehmen allein in den letzten zehn Jahren 2250 Milliarden Euro Guthaben angehäuft. Davon sind die Dividenden bereits abgezogen. Diese und die hohen Topsaläre sind an die Privat­haushalte geflossen (haupt­sächlich an das reichere Drittel), die derweil ihre Guthaben um etwa 3000 Milliarden Euro aufstocken konnten. Auf der Seite der Verlierer beziehungs­weise Schuldner stehen die Staats­haushalte der EU-Staaten mit 3240 Milliarden sowie die Staaten ausserhalb der EU.

Auch die Schweiz produziert laufend neue Guthaben und Schulden. Der chronische Schuldner ist bei uns das Ausland, mit jährlichen Leistungs­bilanz­defiziten (mehr Importe als Exporte aus der beziehungs­weise in die Schweiz) von rund 60 Milliarden Franken. Doch in den Corona-Jahren musste sich auch der Staat zusätzlich verschulden und damit unter anderem einen Beitrag zu den Mega­gewinnen der Impfhersteller leisten, deren Börsenwert weit überproportional angestiegen ist. Die Guthaben fallen – wie in allen anderen Ländern – bei den Privat­haushalten an. Diese haben gemäss der Volkswirtschaftlichen Gesamt­rechnung im Schnitt der letzten zehn Jahre gut 78 Milliarden Franken mehr eingenommen als ausgegeben.

Doch damit ist die Geschichte nicht zu Ende: Weil die 78 Milliarden irgendwo angelegt werden mussten und bei diesen Anlagen die Preise hochgetrieben haben, ist das Reinvermögen der Haushalte in den zehn Jahren zwischen 2011 und 2021 jährlich sogar um gut 165 Milliarden Franken gestiegen. Zum Vergleich: Das BIP der Schweiz ist in dieser Zeit viel langsamer – um schwache 10 Milliarden pro Jahr – gewachsen. Das illustriert, wie die Finanz­guthaben die Realwirtschaft förmlich überwuchern.

Traden ist das neue Arbeiten

Diese hohe private Sparquote bedeutet nicht, dass die Schweizer insgesamt sehr sparsam sind. Vielmehr bewirkt die sehr einseitige Einkommens­verteilung, dass die ärmere Hälfte ihren Konsum stark einschränken muss, während vor allem die reichsten 5 Prozent nur einen Bruchteil ihrer Einnahmen verkonsumieren können. Sie kassieren 24,3 Prozent aller Reineinkommen. Pro Kopf also rund 30-mal so viel wie der Rest der Bevölkerung. Sie können damit so viel sparen, dass ihnen inzwischen rund drei Viertel aller Vermögen gehören. Für die ärmsten zwei Drittel bleiben keine 4 Prozent aller Reinvermögen.

Novartis minus 2,7 Prozent. Dow Jones minus 1 Prozent. Euro in Franken plus 0,24 Prozent. Die 0,24 Prozent sind die Notierungen eines ganz normalen, flauen Handels­tages im Februar. Doch wenn sich die 1540 Billionen auch nur um 1 Prozent pro Tag bewegen, dann werden mit ein bisschen Traden und Spekulieren 40-mal mehr alte Werte umgeschichtet als neue durch harte Arbeit geschaffen.

Und das ist nicht nur Theorie. Heute hat fast jeder einen Bekannten oder eine Verwandte, der oder die durch Börsen­spekulationen, Krypto­währungen oder Immobilien­besitz in kurzer Zeit stinkreich geworden ist. Das hinterlässt Spuren in der kollektiven Gehirn­rinde – zumal die neue Generation mit einer Trading-Plattform auf dem Handy aufgewachsen ist. Traden ist das neue Arbeiten.

1540 Billionen. Ein klitzekleiner Teil davon ist in Italien investiert. Und wenn davon wiederum auch nur ein Bruchteil abgezogen wird, hat die Premier­ministerin Giorgia Meloni ein Problem. Sie ist nämlich – wie Oliver Meiler, der Italien-Korrespondent der Tamedia und der «Süddeutschen Zeitung», kürzlich schrieb – stolz darauf, dass der spread beziehungsweise der Zins der italienischen Staatsanleihen nicht steigt. Das sei auch der Grund, warum sie – entgegen ihren Wahlversprechen – die Steuern aufs Benzin nicht gestrichen habe.

Die NZZ lobt in diesem Zusammen­hang gerne die «disziplinierende Wirkung der Kapitalmärkte», welche die Regierungen davon abhalte, noch mehr Schulden zu machen. Doch dieselbe disziplinierende Wirkung verhindert auch, dass sich die Regierung Meloni das nötige Geld – beispielsweise – mit höheren Gewinn­steuern beschafft.

Der finanzielle «Reichtum» hat der Welt mit den Kapital­märkten und deren Organen auch eine «Weltregierung» beschert. Deren Druckmittel sind die aktuell rund 72 Billionen Dollar Staats­schulden. Die durchschnittliche Verschuldung weltweit liegt bei 75 Prozent ihres BIP. Im Fall von Italien steht der Pegel schon bei 134 Prozent. Und während das Stimmvolk erst beim nächsten Wahlgang wieder aktiv werden kann, straft der Kapital­markt sofort. Mit Kapital­flucht und höheren Zinsen.

Das Volk wählt seine Regierungen, und denen diktieren die Gläubiger das Regierungs­programm. Deutlich geworden ist das auch in der Euro-Krise, während der die südeuropäischen Länder nicht dem Wähler­auftrag, sondern den impliziten und teilweise auch ganz expliziten Forderungen der Europäischen Zentralbank folgen mussten. Kein Wunder, gerät die Demokratie in Misskredit.

1540 Billionen Dollar! Was steckt eigentlich konkret dahinter? Nun, mit meinen Ersparnissen verzichte ich vorübergehend auf meine Ansprüche auf das BIP und lasse mir den entsprechenden Betrag gutschreiben. Die 1540 Billionen sind somit ein Anspruch auf das – etwa einem Dreizehntel entsprechende – BIP, von dem allerdings neben den Kapital­besitzern auch noch die arbeitende Bevölkerung leben muss. Wie sollen derart gigantische Forderungen mit der real existierenden Gütermenge überhaupt je gedeckt werden? Angesichts der Grössen­ordnung dieser Diskrepanz ist es nicht erstaunlich, dass unser Vertrauen in das Geld­system schwindet.

Soziale Verpflichtungen sind sterblich, finanzielle nicht

Immer mehr reiche Anleger investieren deshalb heute einen Teil ihres Überflusses in eine von inzwischen 10’953 (!) verschiedenen Krypto­währungen mit einem Marktvolumen von 1127 Milliarden Euro. Die Werthaltigkeit dieser «Guthaben» geht einher mit dem «Schürfen» dieser Gelder, das sehr viel Strom kostet. Marktführer mit über 40 Prozent Markt­anteil ist der Bitcoin. Die entsprechenden jährlichen Trans­aktionen verschlingen je nach Schätzung zwischen 108 und 130 Terawatt­stunden und somit gut das Doppelte des jährlichen Strom­verbrauchs der Schweiz. Welch eine Verschwendung!

Noch viel teurer wird es allerdings, wenn die überflüssigen Ersparnisse in Immobilien investiert werden und damit deren Preise hochtreiben. Das hat im konkreten Fall der Schweiz bewirkt, dass der Wert des Immobilien­besitzes der (reichen) Privathaushalte allein von 2011 bis 2021 um 865 Milliarden Franken gestiegen ist, wovon aber nur maximal 50 Milliarden auf realen Investitionen beruhen.

Der entsprechende Nettoprofit von gut 800 Milliarden ist aber nicht nur ein Buchgewinn, sondern die Kalkulations­grundlage, aufgrund derer die Immobilien­besitzer ihre marktübliche Nettorendite von 3 Prozent berechnen. Andersherum gesagt: Der hohe Marktwert der Immobilien beruht darauf, dass man die Neu-Käuferinnen und Mieter zur Kasse bitten kann. Das trifft vor allem die mit niedrigen Einkommen hart. Nach einer Studie des Immobilien­beraters Wüest Partner muss das ärmste Einkommens­quintil je nach Haushaltstyp zwischen rund 40 und bis über 80 Prozent des verfügbaren Einkommens für die Miete aufwenden.

Gib, so wird dir gegeben. Nach diesem Motto haben die Menschen schon immer andere in die Pflicht genommen. Ein dichtes Netz von gegenseitigen sozialen Verpflichtungen ist und bleibt die beste Art, sich für die Wechsel­fälle des Lebens zu wappnen. Vorräte können verderben, Neid wecken oder gestohlen werden. Soziale Verpflichtungen bleiben in den Köpfen drin. Ein angesehenes Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, macht nicht nur die Zukunft sicherer, sondern auch die Gegenwart lebenswerter.

Mit dem Geld hat uns die Evolution eine völlig neue Form von sozialer Verpflichtung geschenkt. Das hat es uns erlaubt, den Kreis der Zusammen­arbeit auch auf Unbekannte auszudehnen, die Arbeits­teilung zu intensivieren und den materiellen Reichtum massiv zu mehren.

Doch das Geschenk der Evolution hat auch seine Tücken. Soziale Verpflichtungen sind sterblich, finanzielle nicht. Sie können endlos angehäuft werden. Frühere Generationen haben die Gefahr erkannt und Lösungen gesucht. Es gab etwa das Erlassjahr, in welchem alle Schulden vergeben wurden. Ein weiteres Gegen­mittel war die soziale Ächtung der Machtgierigen.

Mit der Globalisierung haben diese Disziplinierungs­mittel an Kraft verloren. Die Reichen schaffen sich ihre eigene Welt, der National­staat ist nur noch ein Standort. Sogar das Problem­bewusstsein ist uns abhanden­gekommen. Wir haben uns an den stetigen Anstieg der Guthaben gewöhnt und halten ihn für normal oder gar – siehe McKinsey – für begrüssenswert.

Doch damit handeln wir uns gewaltige Probleme ein:

Die mangelnde Werthaltigkeit der Guthaben provoziert immer wieder globale Finanzkrisen.

Die Absicherung der stetig steigenden Guthaben verschlingt immer mehr Ressourcen.

Sie ersetzt die Demokratie durch die Herrschaft der Gläubiger.

Sie schwächt das Vertrauen in das staatliche Geldsystem.

Sie untergräbt den Leistungswillen – Traden wird das neue Arbeiten.

Und sie verschärft genau die Ungleichheiten, welche die Lawine an Guthaben und Schulden überhaupt erst ausgelöst haben.

Zum Autor

Werner Vontobel, lic. rer. pol., Ökonom und Wirtschafts­journalist, etwa für «Tages-Anzeiger», «Weltwoche» und «Blick». Langjähriges Mitglied der Chef­redaktion des Schweizer Wirtschafts­magazins «Cash». Autor zahlreicher Bücher, darunter «Die Wohlstands­maschine. Das Desaster des Neoliberalismus» (1998) und «Arbeitswut. Warum es sich nicht lohnt, sich abzuhetzen und gegenseitig die Jobs abzujagen» (2008, mit Philipp Löpfe).

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