Binswanger

Rentenkampf in Frankreich – und in der Schweiz

Die Macron-Regierung hat eine Rentenreform beschlossen, der Widerstand ist gewaltig. Spinnen die Franzosen? Mitnichten. Wir haben dieselben Konflikte.

Von Daniel Binswanger, 01.04.2023

Vorgelesen von Dominique Barth
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Die Welt blickt entsetzt nach Frankreich – wo wieder einmal Massen­proteste stattfinden, Schulen, Universitäten und Bahn­verkehr von Streiks lahmgelegt werden, gewalt­bereite Demonstranten auf brutalste Polizei­repression treffen. Und was ist der Grund dafür, dass die französische Demokratie in einen bedrohlichen Ausnahme­zustand, ja an den Rand ihrer Funktions­fähigkeit, gerät? Eine Renten­reform.

Die aktuelle Bericht­erstattung kommt selten ohne «Die spinnen, die Franzosen»-Rhetorik aus. Die Regierung will die sich immer höher türmenden Defizite des Vorsorge­systems ausgleichen und das Rentenalter für Männer und Frauen von 62 auf 64 Jahre erhöhen – auf ein Niveau also, das immer noch unter demjenigen in den meisten europäischen Ländern liegt. Und deshalb gibt es gigantische Demonstrationen, mitgetragen von der französischen Jugend, von Gymnasiastinnen-Organisationen und Studenten­verbänden, die letzte Woche rund eine halbe Million Mitglieder für Protest­aktionen mobilisiert haben sollen?

Was für ein Pfuhl der realitätsfernen Verweichlichung, der sozialistischen Verstiegenheit, der nicht nachhaltigen Verschwendung auf Kosten kommender Generationen! So tönt es nun aus allen Ecken, besonders in der Schweizer Presse. Man macht es sich mit solcher Polemik allerdings herzlich einfach. Ob da jemand von den eigenen Wider­sprüchen ablenken will?

Tatsache ist schliesslich auch: Wir selbst haben unsere liebe Mühe mit der Reform des Renten­systems. Statt Massen­demonstrationen gibt es bei uns zwar direkte Demokratie. Statt brennender Rathäuser die drögen Schweizer Abstimmungs­kämpfe. Aber die Blockade ist vergleichbar. Sie hat nicht primär damit zu tun, dass die Menschen sich den Realitäten nicht stellen wollen. Sondern damit, dass die Alters­vorsorge das wichtigste Sozialwerk überhaupt darstellt – die Kern­aufgabe der Fürsorge, die wir füreinander haben müssen. Dass kaum etwas so wichtig ist wie seine ausgewogene Ausgestaltung. Und dass offenbar kaum mehr der politische Wille existiert, dieser gesellschaftlichen Heraus­forderung auch solidarisch und mit Fairness zu begegnen.

Das theoretische Rentenalter ist mit 62 Jahren zwar in der Tat sehr tief in Frankreich, doch man sollte sich davon nicht blenden lassen. Um eine Vollrente zu bekommen, werden ab 1973 geborene Französinnen schon nach heutiger Gesetzgebung 43 Beitrags­jahre vorweisen müssen. Wer aus dieser Alters­kohorte also nicht vor 22 zu arbeiten anfing, wird schon heute vor 65 kaum aus dem Arbeits­leben ausscheiden können. Eine Vollrente, auch bei geringeren Beitrags­jahren, erzielt man bereits nach aktueller Gesetz­gebung erst bei einer Pensionierung mit 67 Jahren. 67 Jahre? Das wird eher selten erwähnt in der Berichterstattung.

Wer bis 24, 25 eine Ausbildung macht, ist deshalb schon heute gezwungen, seine Berufs­karriere bis in ein fortgeschrittenes Alter fortzusetzen. Zwar lag das reale durchschnittliche Renten­eintrittsalter im Jahr 2020 bei vergleichsweise tiefen 62 Jahren und 4 Monaten (62 Jahre bei den Männern; 62 Jahre und 7 Monate bei den Frauen). Auch diese Zahlen zeichnen jedoch ein verzerrtes Bild. Tief ist das Pensionierungs­alter besonders in den Berufen, die einem «Spezialregime», das heisst einer speziellen Renten­regelung, unterliegen. Das gilt beispielsweise für die Angestellten der staatlichen Eisenbahn, die tatsächlich schon absurd früh, nämlich mit 56, in Rente gehen können. Hier besteht in der Tat Reform­bedarf. Dass ganz bestimmte Berufs­gruppen so privilegierte Bedingungen haben, liegt im Wesentlichen daran, dass ihre Streik­drohungen besonders wirkungsvoll sind.

Im viel häufigeren normalen Regime liegt das Renten­eintrittsalter jedoch schon heute bei 63 Jahren und 4 Monaten. Das ist immer noch relativ tief, aber doch deutlich höher, als das Gerede vom Pensionsalter 62 suggeriert. Und auch ohne Macrons Reform würde sich dieses durchschnittliche Renten­eintrittsalter in den nächsten Jahren zügig weiter erhöhen.

Worum es letztlich geht, ist eine Senkung der Kosten, die durch die ständig steigende Lebens­erwartung in die Höhe getrieben werden. Allerdings ist hier die Situation in Frankreich nicht viel anders als in der Schweiz: Der Reform­eifer der Regierung wird vorangetrieben durch Prognosen zur demo­grafischen Entwicklung, die reichlich hypothetisch sind – und die finanzielle Langzeit­perspektive des Renten­systems in ein viel dramatischeres Licht tauchen, als es de facto angemessen ist.

Da sich der Anstieg der Lebens­erwartung in den nächsten Jahren verlangsamen dürfte, da die Migration die Alters­struktur der französischen Gesellschaft positiv beeinflussen wird und da die Produktivitäts­entwicklung die Gesamt­lohnsumme und damit auch die Sozial­versicherungs­beiträge ansteigen lässt, ist gar nicht klar, ob die Reform überhaupt nötig ist. In den nächsten Jahren werden zwar mit Sicherheit noch Defizite auflaufen, aber zahlreiche Ökonomen gehen davon aus, dass Einnahmen und Kosten sich ganz von selber wieder ausgleichen werden. Hervé Le Bras zum Beispiel, Frankreichs respektiertester Demografie-Experte und bei den Präsidentschafts­wahlen 2017 einer der wichtigen Intellektuellen im Macron-Team, geht davon aus, dass es ein Finanzierungs­problem ganz einfach nicht gibt.

Was es gibt, ist der Unwille der Regierung, über die nächsten zehn Jahre, die voraussichtlich defizitär bleiben werden, die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Macron will die Staats­ausgaben senken, koste es, was es wolle. Das grosse Pathos der inter­generationellen Nachhaltigkeit hat häufig einen sehr banalen Hintergrund, der viel mit aktuellen politischen Positionierungs­spielen und sehr wenig mit realen Langzeit­perspektiven zu tun hat.

Allerdings muss gesagt werden, dass Frankreich ein viel sozialeres Renten­system hat als die Schweiz. Das liegt hauptsächlich darin begründet, dass es auf dem Umlage­verfahren (wie die Schweizer AHV) und nicht auf dem Kapitaldeckungs­verfahren (wie das Schweizer BVG) beruht. In Frankreich liegen zwar die für Renten­beiträge reservierten Lohn­nebenkosten höher als in der Schweiz, nämlich insgesamt bei gut 23 Prozent. Kumuliert erreichen AHV- und BVG-Beiträge allerdings auch in der Schweiz bei einem Durchschnitts­lohn eine Höhe von über 20 Prozent, in den letzten zehn Berufsjahren – wo in der Regel das höchste Einkommen erzielt wird –, liegen sie gar bei über 26 Prozent.

Dennoch ist die Lohnersatz­quote für Schweizer Rentnerinnen im Vergleich zu Frankreich beschämend schlecht: Sie liegt hierzulande bei mageren 50 Prozent für eine Arbeit­nehmerin, die den Durchschnitts­lohn verdiente. Weit unter dem OECD-Durchschnitt von gut 60 Prozent. Und noch viel weiter unter der französischen Ersatzquote von 75 Prozent. Hinzu kommt: Schon heute, unabhängig von der BVG-Revision, ist die Quote weiter am Sinken. Sind es wirklich die Franzosen, die Unrecht damit haben, ihr Renten­system verbissen zu verteidigen? Gelegentlich kann man nur den Kopf schütteln über die Schweizer Arroganz.

So ineffizient wie wir wirtschaftet in ganz Europa fast niemand in der Alters­vorsorge. Alters­armut ist ein gravierender sozialer Missstand – und in der Schweiz sehr stark verbreitet. Aber den bürgerlichen Parteien dieses Landes ist sie offensichtlich gleichgültig.

Während in Frankreich die Strassen­schlachten toben, wird hierzulande also das Referendum über die BVG-Reform lanciert. Es trifft zu, dass die Räte nun eine Vorlage verabschiedet haben, die Ausgleichs­massnahmen für die niederen Einkommen ergreift, die von der geplanten Absenkung des Umwandlungs­satzes von 6,8 auf 6 Prozent betroffen sind. Aber sie werden auf 15 Jahrgänge von Renten­bezügerinnen beschränkt, bilden offenbar eine rein taktische Konzession. Den von den Sozial­partnern und vom Bundesrat ausgehandelten, dauerhaften Vorschlag hat das Parlament zurück­gewiesen. Die Renten sind für Durchschnitts­verdienerinnen bereits heute beschämend tief. Und dass sie längerfristig noch tiefer werden sollen, ist offensichtlich kein Problem. Man nennt das bei uns Nachhaltigkeit.

Theoretisch scheint immerhin Konsens darüber zu bestehen, dass das wahnwitzige Schweizer Pensionskassen­system strenger reguliert und besser beaufsichtigt werden muss. Aber auch hier kann man sich nur wundern: Warum macht man die Dinge nicht der Reihe nach? Warum unterwirft man das System nicht erst einer General­überholung, tritt an gegen die Lobby der Finanz­dienstleister und Pensionskassen­vertreter – und redet dann darüber, welche Reformen man den Versicherten zumuten will? Die Bekenntnisse zu strikterer Regulierung sind faden­scheinig. Schon lange hätte gehandelt werden können, und es ist nichts geschehen. Stattdessen will man das System «sanieren», indem man die Pensions­bezügerinnen schlechter­stellt.

Nicht nur der CS-Fall legt an den Tag, welchen Einfluss der Schweizer Finanzplatz noch immer auf die Schweizer Politik ausübt. Im Feld der Alters­vorsorge sind die Konsequenzen allerdings noch viel gravierender.

In Frankreich bleibt weiterhin offen, wie der Reform­versuch der Macron-Regierung schliesslich enden wird. Das Gesetz wurde ohne Abstimmung im Parlament durchgedrückt, aber der Widerstand geht weiter. Politisch könnte der Preis für Macrons Reform­diktat ungeheuer hoch sein. Die meisten Kommentatoren sind sich einig, dass vor allem Marine Le Pens Rassemblement National von den Kämpfen um die Rente profitieren wird. Ist das die finale Steil­vorlage für ihren Sieg bei den nächsten Präsidentschafts­wahlen?

In der Schweiz werden die Verwerfungen hoffentlich weniger dramatisch sein. Das Referendum zur BVG-Reform dürfte für die SP ein elektoraler Segen werden – aber auch in der SVP und der Mitte werden sich die Dissidentinnen organisieren und ihre Wählerschaft damit abholen. Die vermeintlich progressiven Kräfte sollten dringend noch einmal über die Bücher gehen, was um Gottes willen sie unter nachhaltiger Politik verstehen.

Illustration: Alex Solman

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