Gibt es für Alkoholkranke einen Reset?

Wer seinen Alkohol­konsum nicht im Griff hat, gilt als willens­schwach. Doch die Wurzeln der Sucht liegen tiefer. Um geheilt zu werden, müsste man das Hirn quasi auf null stellen.

Von Cornelia Eisenach (Text) und Maya & Daniele (Bild), 30.03.2023

Vorgelesen von Regula Imboden
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Die Box ist eng und karg. Nichts darin ausser einer Maus, einem Futter­spender und einem kleinen Hebel.

Und doch ist das ein Tempel der Lust.

Denn der kleine Hebel führt direkt zum Vergnügen. Mit ihm kann die Maus ihrem Hirn einen Dopamin-Schub verpassen. Normaler­weise braucht es dazu Essen, Sex oder Drogen wie Alkohol, Kokain, Ecstasy, Heroin oder Nikotin. Doch die Maus trägt eine Abkürzung mit sich.

Forscher haben ihr eine optische Faser ins Hirn eingepflanzt, die aus ihrem Kopf ragt wie eine Antenne. Drückt die Maus den Hebel, erleuchtet blaues Licht den Käfig. Das Licht gelangt über die optische Faser direkt ins Mäuse­hirn, genauer: ins Belohnungs­system. Hier aktiviert das Licht einen molekularen Schalter, den Forscherinnen mittels Gentechnik eingebaut haben. Wird der molekulare Schalter umgelegt, schütten die Nerven­zellen Dopamin aus.

Das erlaubt den Wissenschaftlern, Sucht zu studieren, ohne den Mäusen etwa Alkohol oder eine andere süchtig machende Droge zu geben. Denn dabei würden andere Wirkungen die Ergebnisse verfälschen. Alkohol etwa tötet Nerven­zellen.

Die Forscher, das sind Christian Lüscher und sein Team von der Universität Genf. Lüscher ist Mediziner und Neurologe und erforscht, wie Sucht im Gehirn entsteht. Begonnen hat er damit vor über 20 Jahren. Damals schüttelten seine Kollegen den Kopf. «Wir sollten die Sucht nicht zu einem medizinischen Thema machen», sagten sie ihm. Es sei ein psychologisches Phänomen, kein körperliches.

Doch Lüscher war schon damals vom Gegenteil überzeugt: «Sucht hat ein organisches Korrelat», sagt er. Er meint: Es gibt etwas Körperliches, etwas an den Strukturen des Gehirns, das sich verändert. Heute weiss Lüscher auch, was das ist – dank der Mäuse.

Unersättlich

Im Experiment verzieht sich die Maus in eine Ecke des Käfigs, nachdem sie sich den Dopamin-Kick verpasst hat. Doch nach nur wenigen Sekunden eilt sie schon wieder zum Hebel. Wieder scheint blaues Licht auf.

Im Verlauf eines solchen Experiments, das Lüscher bei einem Besuch in Genf auf Video vorführt, wird es für die Maus schwerer, an das Dopamin zu kommen. Sie muss den Hebel immer öfter drücken, damit sie ihren Kick erhält. «Wir hatten Mäuse, die 500-mal drückten, damit sie nur noch einmal diese Stimulation bekommen», sagt Lüscher.

Forscherinnen nennen das wiederholte Drücken eine Verhaltens­verstärkung. Auf die Alkohol­sucht bei Menschen übertragen, ist es der wiederholte Griff zum Glas. Dass die Vorgänge im Belohnungs­system beim Menschen ähnlich ablaufen, dafür gebe es Hinweise aus Studien, sagt Lüscher.

Wenn das Gehirn ein Computer ist, dann ist Alkohol ein Hacker, der langsam, aber sicher den Code umschreibt – am Ende ist da jemand anderes. Jemand, der nicht das Programm abspielen kann, das gesellschaftlich akzeptiert ist: «Ein Glas zum Essen.» Sondern jemand, für den es nur die ganze Flasche gibt – oder gar nichts.

Dank der Mäuse im Experiment sind Lüscher und sein Team dem Hacker auf die Spur gekommen. Sie haben verstanden, dass er nicht nur Zeile um Zeile die Software ändert, sondern gleich das gesamte Betriebs­system umschreibt.

Moral und Medizin

Die Erkenntnisse sind wichtig, denn lange galten Menschen mit Sucht­erkrankung als willens­schwach. Auch heute werde die Sucht oft noch als «ein selbst verschuldeter Zustand betrachtet, der durch einen Mangel an Willens­kraft gekennzeichnet ist und somit nicht in den Bereich der Medizin, sondern in den der Moral fällt», schrieb ein internationales Team von Sucht­forschern vor zwei Jahren.

Ergebnisse wie jene der Genfer Forscherinnen zeigen, dass Alkohol­sucht ein organischer Defekt ist, ähnlich dem organischen Defekt bei Typ-2-Diabetes. Wie die Sucht hat auch Typ-2-Diabetes anfangs mit dem Verhalten zu tun – zu viel ungesunde Ernährung, zu wenig Bewegung. Irgend­wann sind die Zellen, die Insulin ausschütten, dauerhaft verändert. Niemand würde auf die Idee kommen, diesen Zustand nicht als Krankheit zu bezeichnen.

Dennoch hielt das Schweizer Bundes­gericht über Jahre fest, dass Sucht­erkrankungen nicht mit medizinischen Erkrankungen gleich­zusetzen und «mit zumutbarer Willens­anstrengung überwindbar» seien. Diese Position gab das Gericht erst 2019 auf.

Doch Stigma verschwindet nicht von heute auf morgen. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2022 zeigte, dass Schweizer Sozial­versicherungs­rechtler eine Alkohol­missbrauchs­störung zwar als Krankheit ansahen, aber nicht als eine Krankheit wie Krebs, sondern als eine, die wenigstens teilweise selbst verschuldet sei. Das Stigma der Willens­schwäche wirkt sich verheerend aus: Betroffene bleiben allein, wer unter Sucht leidet, leidet im Stillen und holt sich oft zu spät Hilfe.

Dabei werde Sucht ausserdem häufig falsch verstanden, denn es sei etwas anderes als Abhängigkeit, sagt Lüscher. Abhängigkeit bedeutet, dass eine Substanz Entzugs­symptome verursacht. So sind viele Menschen von Kaffee abhängig und kennen Kopf­schmerzen als Entzugs­symptom. Süchtig sind sie aber nicht.

Sucht ist das zwanghafte Suchen und Auftreiben einer Substanz. Süchtig ist, wer eine Handlung wiederholt, obwohl das negative Folgen hat. Sei es, dass man seinen Job wegen ständiger Kater aufs Spiel setzt oder kriminell wird, um an illegale Drogen zu kommen.

Elektroschock als Strafe

Um heraus­zufinden, wie genau die Sucht im Hirn entsteht, mussten die Genfer Forscherinnen ihr Experiment um ein Detail erweitern: negative Konsequenzen. Also vermiesten sie den Nagern ihren Vergnügungs­tempel: Auf jeden Dopamin-Kick folgte ein kleiner Elektro­schock als Strafe. Viele Mäuse hörten auf, den Hebel zu drücken. Aber fast die Hälfte machte weiter. Sie waren süchtig.

Die Forscher suchten daraufhin in den Hirnen nach Erklärungen für die Sucht. Sie fanden sie im Nucleus accumbens, jenem Teil des Belohnungs­systems, wo der Dopamin-Hahn aufgedreht wird. Genau dort kommen auch Informationen aus dem orbito­frontalen Kortex an. Das ist ein Teil der Grosshirn­rinde hinter der Stirn, der als Wächter gilt. Er sagt uns, was wir tun und lassen sollen.

Die Nerven­zellen des Wächters leiten ihre Informationen über Synapsen, also neuronale Verknüpfungs­stellen, im Nucleus accumbens weiter. Doch dort schwirrt das ganze Drogen-Dopamin herum, und das sorgt dafür, dass sich die Biochemie der Verknüpfungs­stellen dauerhaft verändert. Und somit ändert sich auch der Informations­fluss vom Wächter.

«Wer süchtig ist, hat ein verändertes Gehirn», sagt Christian Lüscher. «Das führt dazu, dass man Entscheidungen anders trifft.» Man konsumiere die Substanz, auch wenn das negative Folgen habe.

Negative Gefühle

Zum Hack des Belohnungs­systems kommen bei klinisch Sucht­kranken noch weitere Veränderungen im Gehirn. Diese Menschen tränken nicht mehr nur, weil sie danach den angenehmen Dopamin-Kick des Belohnungs­systems spürten, sondern um negative Gefühle zu unterdrücken, sagt Markus Heilig, Professor für Neuro­psychiatrie an der Universität Linköping in Schweden. Er untersucht sogenannte Neuro­adaptationen in einem Teil des Gehirns, der für unsere Gefühle zuständig ist.

Bei Sucht­kranken habe jahrelanger Konsum dazu geführt, dass bestimmte Hirn­areale, die Angst und Stress steuern, verändert sind. «Diese Hirn­areale sollten normaler­weise ruhig sein, es sei denn, es gibt eine Bedrohung», sagt Heilig. Dann geht der Mensch in eine Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Sie wird ausgelöst durch ebenjene Areale im Gehirn, die negative Gefühle wie Angst auslösen.

Bei Süchtigen sind diese Teile des Gehirns aktiv, obwohl es keine Bedrohung gibt. «Diese Menschen sind immer in Alarm­bereitschaft. Sie trinken Alkohol nicht, um eine Belohnung zu erfahren, sondern um diese negativen Emotionen loszuwerden, um diesen unangenehmen inneren Zustand nicht erfahren zu müssen», sagt Heilig.

Wer wird süchtig?

Beim Alkohol führt der Weg zur Sucht oft über den «risiko­reichen Konsum». Das Wort Risiko bezieht sich auf die gesundheitlichen Folgen, neben Leber­zirrhose, verschiedenen Krebsarten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und psychischen Störungen auch Unfälle wegen Trunkenheit. So verursacht Alkohol schweizweit jährlich 1600 Tote im Alter zwischen 15 und 74 Jahren.

Risiko meint zwei Dinge: zum einen wiederholt rausch­trinken, zum anderen regelmässig und lange zu viel zu trinken. Wie viel zu viel ist, ist Definitions­sache. Kanada empfiehlt der Bevölkerung seit Januar 2023, sich nicht mehr als zwei Drinks pro Woche zu erlauben oder besser ganz darauf zu verzichten, weil jeder Konsum riskant sei.

In der Schweiz empfehlen die Behörden nicht mehr als eine Stange Bier (für Frauen) beziehungs­weise zwei Stangen (für Männer) pro Tag. Doch jeder Fünfte konsumiert mehr als das. Obwohl wir im Schnitt immer weniger trinken, stieg der Anteil des risiko­reichen Konsums in den Jahren von 2007 bis zur letzten Gesundheits­befragung 2017 von 14 auf 18 Prozent.

Ein Teil wird süchtig, Schätzungen zufolge sind in der Schweiz etwa 250’000 bis 300’000 Menschen betroffen. Ob es einen trifft oder nicht, hängt mit vielen Faktoren zusammen, zum Beispiel mit dem familiären und sozialen Umfeld. Sicher ist: Die Genetik spielt eine Rolle. Bei der Alkohol­sucht wird die Vererbbarkeit auf etwa 50 Prozent geschätzt.

Christian Lüschers Mäuse halten eine weitere Antwort parat. Sie tragen alle die gleiche Erbinformation. Das ist bei Labor­tieren üblich, damit genetische Unter­schiede nicht die Versuchs­ergebnisse stören. Obwohl die Mäuse gleiches Erbgut hatten, entstanden im Experiment die zwei Gruppen: diejenigen, die bei Strafe aufhörten, und die, die immer weitermachten.

Das deutet darauf hin, dass Umwelt­einflüsse und Erfahrungen eine Rolle spielen. «Obwohl Labor­mäuse ein nicht sehr erfülltes Leben haben, gibt es dennoch individuelle Unterschiede», so Lüscher. «Zum Beispiel, welchen Platz sie in der Hierarchie ihrer Gruppe einnehmen.»

Solche Erfahrungen können sich im Erbgut bemerkbar machen, indem sie kleine Veränderungen an der Verpackung von Genen auslösen. Dadurch bestimmen sie, ob ein Gen an- oder ausgeschaltet ist. Man spricht von epigenetischen Veränderungen.

«Factory reset»

Egal, wieso jemand alkohol­süchtig wird: Ist es erst mal so weit, gibt es in den aller­meisten Fällen keinen Weg zurück zum kontrollierten Konsum – die veränderte Struktur im Gehirn bleibt. Um von einer Sucht geheilt zu werden, müsste man das Hirn quasi auf null stellen, einen factory reset machen.

Das versuchten Lüscher und sein Team bei den süchtigen Mäusen – und es gelang. Indem sie die Bereiche mit den veränderten Synapsen über Hirn­elektroden stimulierten, konnten sie die Veränderungen rückgängig machen. Die Mäuse hörten auf, den Dopamin-Hebel zu drücken, sobald sie die Elektroschock-Strafe erhielten.

Bisher ist es den Forscherinnen noch nicht gelungen, die Ergebnisse auf den Menschen zu übertragen. Dabei ist es grundsätzlich möglich, das Belohnungs­system mithilfe der Tiefen Hirnstimulation durch Hirn­elektroden zu behandeln – bei Parkinson-Patienten wird dies bereits getan. Aber es sei schwierig, Sucht­patientinnen für solche Studien zu rekrutieren, sagt Lüscher.

Seine Hoffnung liegt nun auf den Psychedelika. Von ihnen nimmt man an, dass sie die synaptischen Verbindungen, die Verknüpfungs­stellen im Hirn, sozusagen auflockern und so die süchtig machende Veränderung rückgängig machen.

An der Universität Zürich läuft derzeit ein Versuch, Alkohol­abhängigkeit mit Psilocybin, dem Wirkstoff aus magic mushrooms, zu behandeln. Eine erste, kleine Studie aus dem Jahr 2022 macht Hoffnung. Nach Psilocybin-Behandlungen tranken Patienten weniger häufig als Patienten, die Psycho­therapie oder ein Placebo erhalten hatten. Auch Lüscher will die Wirkung der Psychedelika in seinem Tier­modell nun genauer erforschen.

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