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Anna Papst macht Theater, das mit journalistischen Mitteln arbeitet. Was dabei herauskommt, ist nachdrücklicher als so manche Reportage. Kann Kunst vielleicht doch die Demokratie retten?

Von Theresa Hein (Text) und Mischa Christen (Bilder), 24.03.2023

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Selbst wenn sie die Befragte ist, hört Theater­regisseurin Anna Papst mehr zu, als selbst zu sprechen.

«Etwas ist faul im Staate Dänemarks», sagt der Nacht­wächter Marcellus in Shakespeares «Hamlet», kurz nachdem er vom toten König angespukt wurde. Marcellus hat im weiteren Verlauf des Stückes keine tragende Rolle mehr, und doch hat ihn dieses Zitat berühmt gemacht: kluges Kerlchen, dem fällt auf, dass etwas nicht stimmt. Marcellus will wissen, was los ist, eigentlich eine Handlungs­anweisung für den gesamten weltberühmten Text. Auch eine ziemlich gute Handlungs­anweisung für den Alltag.

Warum ist etwas so, wie es ist? Und warum gehen wir davon aus, zu wissen, etwas sei richtig so, wie es ist?

Die Zürcher Regisseurin Anna Papst bringt diese Fragen mit ihrer Arbeit schon seit Jahren auf die Bühne. Sie hinterfragt unausgesprochene Grund­annahmen, die sich in unser tägliches Leben eingeschlichen haben. Was sie beschäftigt, sind Verhältnisse, die scheinbar schon immer so waren, wie sie jetzt sind – Lohn­ungleichheit zwischen Männern und Frauen zum Beispiel. Oder Prozesse, deren genauere Untersuchung mit Anstrengungen wie einem Gespräch mit Unbekannten oder noch mehr Nachfragen verbunden wäre – zum Beispiel, was Depression eigentlich bedeutet. Dinge, bei denen wir es uns, wenn wir nicht direkt betroffen sind, lieber im Status quo eines vermeintlichen Wissens gemütlich machen.

Wenn Papst einer gesellschaftlichen Überzeugung begegnet, die so gut inszeniert ist, dass wir gar nicht mehr darüber nachdenken, beginnt die Regisseurin «zu graben», wie sie es nennt.

«Dann frage ich mich: Warum sind wir so sicher, wie wir zu einer Sache stehen? Warum bist du dir so sicher? Warum bin ich mir so sicher?» Man könnte auch sagen: Wenn die Überzeugung so geschickt verkleidet ist, dass wir sie nicht mehr als kostümiert wahrnehmen, beginnt Anna Papst mit ihrer Arbeit.

Ums Kostümieren, allerdings im Wortsinn, geht es auch in ihrem neuesten Stück «Ich, aber anders».

Anna Papst sitzt in einer Proben­pause in der Sonne, im Hof des Kultur­zentrums Südpol in Luzern. Für das neue Projekt hat sich die Regisseurin mit Menschen unterhalten, die sich für ihr Leben gerne verkleiden, und mit solchen, für die Verkleidungen vielleicht sogar ihr Leben geworden sind. Papsts frühere Themen, Geschlechter­gerechtigkeit, psychische Gesundheit, Strafvollzug, mögen auf den ersten Blick politisch relevanter sein. Aber Papst hat nicht erst im Studium gelernt, dass im Vorteil ist, wer gut beobachten kann, und dass es manchmal auch nicht schadet, das eigene Umfeld als Inszenierung wahrzunehmen.

Verkleidungen, die nicht immer auffällige Kostüme sein müssen, können manchen Menschen Macht geben. Andere vermögen sie zu befreien.

Anna Papst erzählt, wie sie vorgeht, Menschen sucht, die es wissen müssen, weil sie ein Thema, zu dem sie recherchiert, direkt betrifft, sie sucht in Selbsthilfe­gruppen, den sozialen Netzwerken oder über Kontakte in ihrem Umfeld. Sie hat schon mit gleich­geschlechtlichen Eltern über die Schwierigkeiten bei der Adoption gesprochen («Ein Kind für alle», 2015), mit Häftlingen über ihr Leben nach dem Strafvollzug («Freigänger», 2019), mit alten und jungen Menschen über Sex und Identität («Intime Revolution», 2022), mit Menschen, die schon lange mit Depressionen kämpfen («Dancing in the dark», 2022).

In «Ich, aber anders» hat Anna Papst das Sichverkleiden zum Teil konkret auf die Fasnacht bezogen, aber auch Menschen getroffen, die unabhängig von der Jahreszeit in unter­schiedlichen Rollen auftreten. In ihrem Text beschreibt sie das uralte Ritual, in die Haut eines oder einer anderen zu schlüpfen, als gesellschafts­politischen Reibungs­punkt der Gegenwart.

Wir hören zum Beispiel Erzählungen von einer jungen Dragqueen, die bei ihren Auftritten nicht immer nur gute Abende hat:

Ich werde auch begrapscht
Es ist anders
als wenn mir als Mann an den Hintern gefasst wird
Die Geschlechter­hierarchie wird errichtet
und das Begrapschen wird zu einer Erniedrigung

Aus: Anna Papst, «Ich, aber anders».

Existenziell wird es auch bei einer über 70-jährigen Frau, die sich schon als Kind gerne verkleidete und sich von einer Hausfrau in einer psychisch missbräuchlichen Beziehung zur erfolgreichen Strassentheater­künstlerin wandelte. Was ihre Emanzipation lostrat, war ein besonders einprägsames Erlebnis mit ihrem Mann an der Fasnacht. Auch wenn das Leben erst einmal noch schwerer wurde, blieb die Fasnachts­freude ein jährlicher Hoffnungs­schimmer:

Nach der Scheidung gehe ich wieder an die Fasnacht
Ich gehe jedes Jahr mit einem anderen Kostüm
Es ist Ehrensache dass ich nicht zwei Jahre hintereinander dasselbe trage
Eher zwei verschiedene Kostüme
an der gleichen Fasnacht
Es ist mein Befreiungsschlag
Gleichzeitig muss ich mich und meinen Sohn alleine durchbringen
mein Ex-Mann ist mit unserer gemeinsamen Tochter nach Italien abgehauen

Anna Papst: «Ich, aber anders».

Die Menschen, obwohl sie die Regisseurin in den meisten Fällen vorher nicht gekannt haben, erzählen Anna Papst beinahe alles. Diese Offenheit spiegelt sich im Stück­text in der Entscheidung wider, keine Zeichen­setzung zu verwenden. Der Redebedarf, den die Gesprächs­partnerinnen der Regisseurin gegenüber offenbar verspüren, dringt durch die monologischen Gedanken­ströme der einzelnen Figuren bis auf die Bühne durch.

Es wird viel getanzt, Musik ist wichtig: Probe von «Ich, aber anders» im Südpol Luzern.

«Reportagen» nennt Anna Papst ihre Arbeit, und hat damit einen Begriff gewählt, den man nicht sofort mit Theater verbindet. Bei den Projekten geht sie zutiefst journalistisch vor. Sie sucht manchmal bis zu ein Jahr lang nach Gesprächs­partnerinnen, hört ihnen lange zu, verfasst erst dann ihre Texte, denen sie nichts Fiktionales hinzufügt. Schliesslich lässt sie die Aussagen ihrer Gesprächs­partnerinnen autorisieren. «Es ist eine Respekts­sache», sagt Papst, die Menschen schenkten ihr ja nicht nur ihr Vertrauen, sondern auch ihre Geschichte.

Was Anna Papst aus diesen Reportagen macht, ist aber ganz und gar Theater. In ihren Inszenierungen wird viel getanzt, Musik spielt meistens eine tragende Rolle. Auch Humor ist wichtig, weil er ausgleicht, dass die Stücke meistens ziemlich unter die Haut gehen, dass man traurig wird, weil man sich vielleicht für reflektiert hielt und schon mal eine arrogante Überzeugung an sich selbst entlarven muss.

Papst ist 38 Jahre alt und schafft es, selbst wenn eigentlich sie die Befragte ist, mehr zuzuhören, als selbst zu sprechen. Sie wirft die Fragen dann auf die Frage­stellerin zurück, freundlich, holt ihr Gegenüber ins Gespräch und schafft es, dass sich die Unter­haltung um beide sprechenden Menschen dreht, als würde sie mit ihren Antworten nicht zu viel Platz wegnehmen wollen. Es ist eine Qualität, die sofort auffällt, weil sie so selten ist. Die Gesprächs­führung und das Zuhören sind es, die Anna Papst helfen, dass sich ihr Menschen öffnen, die sie überhaupt nicht kennt, die sie aber für ihre Arbeit braucht.

Dann sagen ihr Gesprächs­partnerinnen, die eigentlich mit ihr über ihre Fasnachts­begeisterung reden wollen, plötzlich Sätze, die mehr übers Menschsein aussagen als übers Feiern:

Ich weiss eigentlich gar nicht warum ich das mache mich verkleiden
oder warum ich es gern mache
Ich glaube ich mache es gerne
weil ich im Grunde meines Herzens eine Spötterin bin

Aus: Anna Papst, «Ich, aber anders».

Oder sie beichten ihr Dinge, wie die junge Dragqueen, die berichtet, dass es nicht immer nur Freude bereite, in eine Rolle zu schlüpfen:

Für mich ist Geschlecht zu kompliziert um das was ich auf der Bühne performe
und was ich im Alltag performe komplett voneinander zu trennen
Aber ich kann sagen dass ich nicht immer in Drag sein will
Weil es furchtbar anstrengend ist
Es geht ewig bis ich geschminkt bin
von den hochhackigen Schuhen tut mein Rücken weh ich schwitze unter der Perücke
Und in Drag werde ich nie einfach in Ruhe gelassen

Aus: Anna Papst, «Ich, aber anders».

Als ich Anna Papst einmal frage, was sie am Theater stört, antwortet sie, «dass das Theater so gut mit dem Finger auf Miss­stände zeigen kann und selbst so schwerfällig ist, wenn es darum geht, sie zu beheben». Papst sagt, ihr sei das Theater als Institution manchmal zu langsam. Und dann passiert es, dass auch mir etwas herausrutscht, dass auch ich mich ihr öffne, als ich zurückgebe: «wie im Journalismus».

Bei den Proben in Luzern laufen die Schau­spielerinnen in Sweat­klamotten über die dunkle Bühne, dazu spielt der Sankt Galler Ausnahme­musiker Raphael Loher Klavier. An den Aufführungs­abenden werden abstrakte Draht­kostüme mit Schaum gefüllt, Schaum soll auch von einer Rinne über der Bühne auf den Boden tropfen. Die Bühne wird wandelbar, wie die Menschen. Die Darstellerinnen, die jetzt noch sicher ihre Schritte tun, werden mit dem glitschigen Boden zu kämpfen haben. Aber die Wirkung des Bühnen­bildes, das kann man jetzt schon ahnen, gemeinsam mit der Klavier­improvisation und dem Text, könnte wunderbar sein.

Die Rechercheurin ist zugleich Autorin des Textes, Regisseurin und …

An dem Probentag, an dem die Republik zusieht, greift die Regisseurin behutsam ein, tanzt auch mal etwas vor, geht mit den Schau­spielerinnen die Schritte der Choreografie mit, lobt, bestärkt, sagt aber deutlich, wenn ihr eine früher dargestellte Version der Schau­spielerinnen besser gefallen hat, wenn sie etwas gerne lauter, leiser, anders gesprochen hätte. Einmal ruft sie dem Schauspieler Martin Carnevali zu: «Sei nicht so streng mit uns! Offener.»

Papst ist wichtig, dass die Vortragenden die Texte nicht persiflieren. Die Geschichten, die sie ausgewählt hat, sind es wert, erzählt zu werden, eine Haltung, von der sie sich wünscht, dass die Vortragenden sie teilen.

Auffällig an ihren Theater­inszenierungen ist, dass häufig ältere Menschen zu Wort kommen. Die Regisseurin begründet das so: «Ältere Menschen haben politisch viel Macht. Sozial sind sie aber eher ein bisschen abgeschrieben.» Es ist wieder ein Punkt, an dem die Nachtwächter­aussage aus Hamlet ins Spiel kommt, dieses «es ist was faul». Eine Diskrepanz im Denken, die zumindest junge Menschen kaum hinterfragen – alte Menschen zählen also, wenn sie wählen. Was sind sie der Gesellschaft darüber hinaus noch wert?

Papst sagt, es bewege sie immer noch jedes Mal, wenn die Leute ihr Vertrauen entgegen­bringen. Umso schwieriger sei es für sie, wenn sie aus den vielen Gesprächs­partnerinnen dann ein paar auswählen müsse. «Wenn ich den Menschen dann sagen muss, dass ich mich für drei, vier Geschichten entschieden habe, und ihre ist nicht darunter, dann ist das schon schwierig.» Aber die Rechercheurin ist eben zugleich Autorin des Textes und Regisseurin – sie muss auswählen und sich entscheiden, welche Geschichte sie intensiv verfolgen will. Von zehn geführten Gesprächen für «Ich, aber anders» kommen vier auf die Bühne.

Die Geschichten, die Papst dann letztendlich auswählt, sind nicht nur diejenigen, von denen man schon ahnt, dass man zu wenig über sie weiss. Sondern auch solche, von denen man denkt, mehr müsse man gar nicht wissen. In «Ich, aber anders» tritt ein Furry auf, ein Mensch, der sich als Tier verkleidet und der ziemlich gut erklärt, was daran reizvoll ist:

In einer normalen Vorstellungs­runde wird oft als Erstes gefragt
was man arbeitet
und dann wirst du kategorisiert
Studium oder Verkäufer­lehre
steile Karriere oder arbeits­unfähig

Aus: Anna Papst, «Ich, aber anders».

Stimmt schon, ist manchmal anstrengend, diese Kategorisierung, das Auf-die-Strasse-Gehen mit dem immer gleichen Gesicht. Deswegen suchen wir uns ja schliesslich auch bestimmte Kleidung aus, kämmen uns die Haare, vergrössern optisch unsere Augen.

Es macht vieles angenehmer. Wir können dann die Person mit einer bestimmten Leder­jacke sein. Mit einer bestimmten Frisur. Mit den dunklen Augen. Das ist unser Fuchs­kostüm.

Seit sieben Jahren macht Papst nun ihr dokumentarisches Theater. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Mats Staub hat sie die «Reportage fürs Theater» entwickelt, die nach bestimmten Regeln funktioniert. Eine davon ist, dass die Gesprächs­partnerinnen ihre eigenen Geschichten auch dann nicht selbst erzählen, wenn sie als Laien­darsteller auf der Bühne zu sehen sind. Papst sagt, man «stolpere» als Zuschauerin anders, wenn zum Beispiel eine junge Frau von ihren Träumen für die Zeit nach der Haft erzählt und nicht ein tätowierter, muskulöser älterer Mann. Wenn das Bild, das wir beim Lesen eines Textes im Kopf haben, auf der Bühne durch ein anderes ersetzt wird.

Das ist der grosse Unterschied zur Reportage im Journalismus, der Punkt, an dem die Theater­reportage ihre ganze Kraft entfalten kann. Der Trick ist gut, weil dann bei den Zuschauenden die Verwirrung im Bauch losgeht und die Frage folgt:

«Was ist hier los?»

Es ist ein Theater, in das man mit Sicherheiten hineingeht, und wenn man hinaus­kommt, haben sie sich in Unsicherheiten verwandelt. Max Frisch schrieb einmal über eine seiner bekanntesten Figuren, sie probiere Geschichten an wie Kleider. Anna Papst führt das weiter. Ihre Figuren ziehen sich Geschichten an, die wir als Zuschauende unwillkürlich uns selbst anziehen – um zu schauen, wo sie uns passen, wo sie zwicken, wo wir am liebsten ganz darin verschwinden würden. Und wo wir auch uns selbst mal demaskieren müssen.

Zum Stück

Anna Papst (Regie): «Ich, aber anders». Luzerner Theater. Mit: Martin Carnevali, Dario Dinuzzi, Wiebke Kayser, Anna Elisabeth Kummrow und Ilaria Rabagliati. Ab 1. April 2023, Termine bis Mitte Mai.

Die Bühne ist in den Stücken von Anna Papst wandelbar wie die Menschen.

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