Ruhm der Ukraine, Schande der Schweiz

Ein Jahr nach Beginn der Invasion stehen die westlichen Demokratien entschlossen hinter der Ukraine. Das Schweizer Parlament sabotiert derweil Waffen­lieferungen.

Von Constantin Seibt, 17.03.2023

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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Keine Ahnung, ob das ein Grund für Melancholie ist – oder ein Grund für Entspannung: Aber meistens im Leben ist es nicht so wichtig, wer du bist.

Man macht ein paar Dinge richtig, man vermasselt ein paar – aber am Ende kommt es fast immer unsensationell okay.

Und es kommt auch nicht so darauf an, was man dabei denkt.

Politik etwa ist wie Fussball: Mal gewinnt die eigene Mannschaft, mal die andere. Dann freut man sich. Oder flucht. Und dann folgt das nächste Spiel.

Aber es gibt eine Ausnahme: wenn der Faschismus marschiert.

Wir wissen das von unseren Grosseltern: Es ist völlig egal, ob jemand privat seine Kinder mochte, wunderbar Geige spielte, eine Firma gründete oder wissenschaftliche Entdeckungen machte – wenn jemand für die Nazis war, bleibt ein Schatten der Schande, selbst nach dem Tod.

Ebenso hängt der Schatten über allen, die einfach mit dem Leben weiter­machten wie zuvor. Man kann sie zwar verstehen, aber nicht wirklich respektieren. Nicht einmal Blindheit zählt als Entschuldigung: dass man die Nazis nicht ernst nahm. Oder sie nicht kommen sah. Egal wie gebildet, gescheit, gerissen eine Person sonst ist – als es drauf ankam, konnte man nicht auf sie zählen.

Der Faschismus ruiniert Biografien: die der Täter, die der Opfer, aber auch die seiner Zuschauer. Weil der Faschismus – wie eigentlich sonst nur Privates – ein Test ist: ob man dem Leben gewachsen ist oder nicht.

Denn der Faschismus ist keine Idee, keine Haltung, keine Politik wie hundert andere: Er ist das Gegenteil des Lebens selbst. Er ist der Kult der Vernichtung.

Erst der Konventionen: von Höflichkeit, Wahrheit, Verantwortung. (Die proto­faschistische Propaganda besteht aus reinem Ressentiment: aus der Beschwörung vergangener Grösse; dem täglichen Gejammer, Opfer von Minder­wertigen zu sein; und dem Versprechen zukünftiger Vergeltung.)

Darauf folgt die Vernichtung der Institutionen: von Staat, Universität, Kunst, Presse, Justiz.

Dann sehr schnell der Menschen. Erst der fremden. Dann ebenso ungerührt der eigenen.

Seit einem Jahr marschiert der Faschismus in der Ukraine: Der als brüderlich beschriebenen Invasion folgte ohne Zögern das volle Programm mit Folter­kellern, Erschiessungen, Kinds­entführungen, Umerziehungs­lagern, Weltuntergangs­propaganda, Todes­listen, Bomben­terror. Seit die erste Welle scheiterte, ist die russische Militär­strategie ganz offen der Massen­mord: an den Ukrainerinnen, aber auch an den eigenen Soldaten.

Und der Faschismus marschiert nicht nur in Russland: Von Ungarn bis zum Iran, von Ankara bis Peking, von «Weltwoche» bis Fox News wächst eine autoritäre Internationale. Und im demokratischen Westen von Frankreich bis zu den USA arbeiten weiter radikalisierende autoritäre Parteien daran, an die Macht zu kommen.

Und wie vor hundert Jahren stellt sich wieder die Frage: Wer bist du, wenn es wirklich zählt?

Die Ukrainer wissen das genau. Nicht nur aus Erfahrung, weil der Krieg schon seit Jahren schwelt. Und aus Überlebens­willen, weil ein russischer Sieg für sie Tod, Exil, Unterwerfung oder Gulag heisst. Sondern vor allem wissen sie es durch Taten. Immerhin ist die Ukraine das Land, das in diesem Jahrhundert bereits zwei demokratische Revolutionen erlebt hat.

Und die Menschen in der Ukraine wissen, wofür sie kämpfen: für alles. Für die Freiheit, das Leben, die Würde, ihre Kinder, die Zukunft.

Und zum Glück wurden auch sehr viele andere Länder schnell wach: die USA, Grossbritannien, die EU, die Staaten im Norden und im Osten Europas. Selbst zu Beginn noch lavierende Demokratien wie Frankreich oder Deutschland haben sich inzwischen entschieden. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski fasste das am Jahrestag der Invasion so zusammen: «Die Ukraine hat die Welt überrascht. Die Ukraine hat die Welt inspiriert. Die Ukraine hat die Welt geeinigt. Es gibt Tausende Worte, um dies zu beweisen, aber einige wenige genügen: Himars, Patriot, Abrams, Iris-T, Challenger, Nasams, Leopard.»

Kurz: Die westlichen Demokratien haben sich – einige schneller, andere zögernder – auf der Höhe der Zeit gezeigt.

Wer seinen Job nicht tat, sind wir.

Das Einzige, was wir taten, war das Minimum: nach einigen Windungen die Sanktionen der EU zu übernehmen. Plus humanitäre Hilfe. Mit 240 Millionen Franken – 0,034 Prozent unseres Brutto­inlandprodukts – stehen wir auf Platz 23, bezogen aufs BIP auf Rang 27 der Hilfeleister der Ukraine.

Der Rest ist Abwarten, Abwehr, Gefummel.

Bundesrat und Parlament haben weder bei den Oligarchen­geldern noch beim Rohstoff­handel die geringste Neugier gezeigt. Bis heute weiss niemand, wie viel russische Gelder in unserem Land gebunkert sind.

Die Bankier­vereinigung schätzte zu Anfang des Krieges die russischen Gelder auf Schweizer Konten auf mehr als 150 Milliarden Franken. Doch bis jetzt sperrte die Schweiz nur 7,5 Milliarden. Das Parlament arbeitet noch nach einem Jahr Krieg daran, eine Taskforce einzusetzen. (Der Bundesrat hält sie für unnötig.)

Diesen Januar, am WEF, versprach Bundesrat Ignazio Cassis, juristische Wege zu suchen, eingefrorene russische Oligarchen­gelder zum Wieder­aufbau an die Ukraine zu überweisen. Der Bundesrat setzte eine Arbeits­gruppe ein. Ihre Vorschläge für mögliche Lösungen – keine. Ende der Recherche.

Noch entscheidender: Niemand weiss, wie viel Gelder zur Finanzierung der russischen Invasion aktuell über unser Land laufen. Und niemand will es wissen.

Doch genau das wäre das Gebiet, wo die Schweiz am Hebel sitzt. Vor dem Krieg liefen rund 80 Prozent des russischen Öl- und Gashandels über die Schweiz. Und seit Kriegs­ausbruch boomte das Geschäft wie nie: Im letzten Jahr machten die Rohstoff­giganten Rekord­profite.

Doch als die Republik beim Seco, dem Staats­sekretariat für Wirtschaft, nachfragte, ob sich die Händler an die Sanktionen gegen Russland hielten, hiess es: «Wir haben keine Daten zum Transit­handel der Rohstoff­händler.» Alle bisherigen Vorstösse zu Transparenz hatten Bundesrat und Parlament abgelehnt. So wie das Parlament im Herbst auch die Schaffung einer Möglichkeit zu eigenen Sanktionen gegen Russland abgelehnt hatte. (Weil: unvereinbar mit Neutralität.)

Letzte Woche schaffte es das Parlament, Waffen­lieferungen an die kämpfenden Ukrainerinnen so gut wie unmöglich zu machen. Dabei ging es nicht einmal um Lieferungen. Sondern um die Weitergabe von in der Schweiz produzierten Waffen durch andere Länder: Flieger­abwehr­kanonen aus Spanien, Piranha-Panzer aus Dänemark, Gepard-Munition aus Deutschland. (Letztere wird dringend benötigt gegen Luft­angriffe auf ukrainische Städte.)

Es war von Anfang an klar, dass es knapp werden würde. Die SVP und die Grünen sperrten sich aus Prinzip: wegen Neutralität, wegen Pazifismus. Die Mitte war gespalten. Doch FDP und die SP hatten einen Kompromiss ausgehandelt. Bis der SP-Politiker Daniel Jositsch den FDP-Vorstoss im Ständerat mit einer leidenschaftlichen Grundsatz­rede pro Neutralität abschoss. Darauf rächte sich die FDP, indem sie den SP-Vorschlag im Nationalrat sabotierte.

So beschloss das Schweizer Parlament am Ende nur etwas Zynisches: Schweizer Waffen können unter der Bedingung an eine Kriegs­partei geliefert werden, dass der Uno-Sicherheitsrat den Aggressor verurteilt. Da dort Russland ein Vetorecht hat, heisst das: Die Ukraine bekommt dann in der Schweiz gefertigte Munition, wenn Putin persönlich zustimmt.

Während die Debatte im Parlament lief, äusserte sich SP-Bundesrat Alain Berset während eines Uno-Besuchs in New York zur Anfrage Deutschlands und Tschechiens, eingemottete Leopard-2-Panzer zu kaufen. Die Antwort war ein Nein mit Schnörkeln: «Wir wollen in dieser Frage moderat und konservativ bleiben.»

Später gab Berset der «NZZ am Sonntag» ein hochzufriedenes Interview: «Ich verstehe, dass andere Länder eine andere Haltung haben. Aber die Schweizer Position muss ebenfalls respektiert werden.»

Kurz: Tatkraft entwickelte die Schweizer Politik nur auf kantonaler Ebene. Quasi zum Jahrestag der Invasion beschlossen der Aargau plus weitere Kantone, per 10. März die Vorschriften für ukrainische Flüchtlinge zu verschärfen: Diese müssen nun ihr Auto verkaufen, falls sie weiter Sozialhilfe erhalten wollen.

Es ist schwer zu sagen, was an dieser Politik überwiegt: ihre Miesheit oder ihre Dummheit. Letztere deshalb:

  1. Weil die Amerikaner das alles wenig amüsant finden werden. Das «Wall Street Journal» beschrieb die Schweiz schon vor dem Nein zur Weitergabe von Waffen als «Bremsklotz», «Flaschenhals» und als «frustrierend für die westlichen Verbündeten». Gut möglich, dass die USA nun die Geduld verlieren. Und bis jetzt – etwa bei Bank­geheimnis oder Holocaust­geldern – hat die Schweiz jede Auseinander­setzung gegen die USA teuer verloren.

  2. Weil bereits Frankreich und die Niederlande höflich warnten, dass im Fall weiterer Blockaden die Schweizer Rüstungs­industrie kein ernst zu nehmender Lieferant mehr sein werde. Dann blieben als Kunden vor allem Staaten wie Saudi­arabien oder Katar. Das ist keine leere Drohung: Deutschland hat bereits die Geduld verloren und produziert in Zukunft die Gepard-Munition selber.

  3. Was heisst, dass die Schweiz ihre Sicherheit gleich dreifach schwächt. Erstens, indem das Verhältnis zur Nato deutlich abkühlt: Trittbrett­fahrerinnen werden nicht geschätzt, wenn sämtliche Nachbarn hohe Kosten und Risiken eingehen. Zweitens, indem die Schweizer Rüstungs­industrie zum Paria wird – und dadurch die Produktion für die Schweizer Armee noch einmal merklich teurer. Drittens, weil die Schweiz de facto Position bezieht: zugunsten Russlands.

Doch der aussen­politische Ärger ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist: Der Faschismus marschiert und die ganze freie Welt handelt. Nur wir nicht. Wir machen weiter wie gewohnt: mit der üblichen Bürokratie, den üblichen Tricks und mit den üblichen Predigten.

Als wären es Zeiten wie immer. Als ginge es um nichts. Und nicht um alles: Demokratie, Freiheit, Zukunft.

Als ginge es nicht um den Test, wer wir sind. Und die Frage, was unsere Enkelinnen von uns halten werden.

So wie damals, als es vernünftig, verständlich, wahrscheinlich unabwendbar schien, sich mit den Nazis zu arrangieren. Und es klappte ja: Wir blieben verschont. Doch es hatte seinen Preis. Ein Leben lang hing der Geruch nach Verwesung über der Aktivdienst­generation. Fast niemand, der später geboren war, konnte sie ernst nehmen.

Dabei kämpfte sie hart. Unzählige Broschüren, Reden, Gedenk­feiern zur eigenen Stärke und zum eigenen Heldentum, kalte Krieger an jedem Kneipen- und Sitzungs­tisch.

Aber bei aller Wut war auch ihnen allen klar, wer sie waren: die Generation, die neutral blieb, als der Faschismus marschierte.

Nun, es gibt keinen Grund, gegenüber unseren Grossvätern arrogant zu urteilen. Das letzte Jahr hat gezeigt: Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass wir Enkel ihr Schicksal teilen werden. Und das nicht nur wegen des Bundesrats. Oder des Parlaments. Wie die Umfragen zur Wahl im Herbst zeigen, bleiben trotz Pandemie, Klimakrise und Ukraine-Invasion die Wahl­anteile der einzelnen Parteien fast unverändert – mit leichten Gewinnen der russland­freundlichsten Partei, der SVP.

Auf eine veränderte Welt, auf den Kampf zwischen Demokratie und Faschismus, auf die eskalierende Klimakrise reagieren wir mit: weiter wie bisher.

Das ist verständlich, ja, aber wirklich ernst nehmen kann man uns nicht. Eine der Peinlichkeiten der Demokratie ist, dass man mehr oder weniger die Regierung bekommt, die man verdient.

Was wir im Minimum tun können: diesen Herbst genau zu prüfen, wo die Leute stehen, die wir wählen: bei der Rohstoff­kontrolle, den Oligarchen­geldern, der Flüchtlings­hilfe, den Waffen­lieferungen. Und eine Wahl zu treffen.

Mal sehen, was passiert. Doch mit grösster Wahrscheinlichkeit gilt auch in Zukunft:

Ruhm der Ukraine.

Ruhm den Verteidigern.

Keinen Ruhm uns.

Zu diesem Beitrag

Dieser Text basiert auf einer Rede des Autors im Zürcher Grossmünster anlässlich des Jahrestags des Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar.

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