Feuer in ukrainischen Feldern: Nach einem russischen Raketenbeschuss in der Nähe von Bachmut, 28. Juli 2022.

«Putin betrachtet seine Herrschaft als permanenten Krieg»

Der russische Soziologe Grigori Judin über den russischen Angriff, gekränkte Gesellschaften, den Krieg als Selbstverständlichkeit und den schulmeisterlichen Westen.

Ein Interview von Margarita Ljutowa (Text), Andreas Bredenfeld (Übersetzung) und Daniil Russov (Bilder), 17.03.2023

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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Der Soziologe Grigori Judin war einer der wenigen russischen Experten, die im Februar 2022 überzeugt waren, dass ein militärischer Konflikt zwischen Russland und der Ukraine unausweichlich war. Zwei Tage vor der Invasion prognostizierte Judin in einem Artikel, dass demnächst ein grosser Krieg bevorstehe, dass die russische Bevölkerung sich Wladimir Putins Anschuldigungen gegen den Westen anschliessen und der Kreml sich von Sanktionen nicht aufhalten lassen werde. In allen drei Punkten behielt er recht.

Grigori Judin, viele glauben, dass der Krieg für Putin ein endloses Unternehmen ist. In seiner Rede vor der Föderations­versammlung hat der russische Präsident Wladimir Putin dies neulich anscheinend bestätigt: Er sagte kein Wort darüber, wie Russland siegen will und was danach passieren soll. Plant Putin wirklich einen ewigen Krieg?
Selbstverständlich. Der Krieg wird immer weitergehen. Es gibt keine Kriegs­ziele, die erreicht werden könnten und deren Erreichen ein Ende des Krieges herbei­führen würde. Der Krieg wird weitergehen – einfach deshalb, weil in Putins Vorstellungs­welt die Gegner Feinde sind und wir sie töten wollen. Für Putin ist der Krieg ein existenzieller Kampf gegen einen Feind, der es darauf abgesehen hat, ihn zu vernichten. Machen wir uns nichts vor: Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg nicht aufhören, sondern sich weiter ausbreiten. Gegenwärtig wird die russische Armee rapide aufgestockt, die Wirtschaft auf Waffen­produktion umgestellt und das Bildungs­wesen zum Instrument der Propaganda und Kriegs­vorbereitung umfunktioniert. Das Land wird auf einen langen und schwierigen Krieg vorbereitet.

Und es ist klar, dass Putin unmöglich gewinnen kann?
Das ist absolut klar. Niemand hat irgendein Kriegsziel formuliert oder auch nur definiert, was unter einem «Sieg» zu verstehen wäre.

Es geht also darum, dass Putins Macht erhalten bleibt?
Das ist mehr oder weniger ein und dasselbe. Putin betrachtet seine Herrschaft als permanenten Krieg. Putin und die Leute, mit denen er sich umgibt, haben uns schon vor langer Zeit erzählt, dass ein Krieg gegen uns im Gange ist. Manche haben lieber weggehört. Doch Putin und die Seinen befinden sich ihrer Meinung nach schon lange im Kriegs­zustand. Der Krieg ist lediglich in eine besonders aggressive Phase eingetreten, aus der es ganz offenkundig keinen Ausweg gibt. In dieser Weltsicht ist Krieg im Grunde das Selbst­verständliche. Verabschiede dich von dem Gedanken, Frieden sei der Normal­zustand – und du siehst die Situation so, wie Putin sie sieht. Natalja Komarowa, die Gouverneurin des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen, brachte es auf den Punkt: «Der Krieg ist ein Freund.»

Am 22. Februar 2022 beschrieben Sie in einem Artikel einen bevorstehenden grossen Krieg und bezeichneten den Krieg gegen die Ukraine als «sinnlosesten Krieg in unserer Geschichte». Hat die russische Gesellschaft das allmählich realisiert?
Ich glaube nicht. Es gab eine sehr grosse Gruppe, der das von Anfang an klar war, sie ist seit Kriegs­beginn aber kaum grösser geworden. Das heutige Russland wird von einem sehr starken Gefühl bestimmt, und Wladimir Putin trifft – was selten vorkommt – bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung auf Resonanz. Nicht alle teilen seine wahnhaften Theorien, bei weitem nicht. Aber bei diesem Gefühl trifft er auf Resonanz. Noch wichtiger ist: Er selbst erzeugt dieses Gefühl. Es ist ein Gefühl des Gekränktseins – einer ungeheuren, bodenlosen Kränkung. Nichts kann diese Kränkung lindern. Unter diesen Umständen ist an den Aufbau produktiver Beziehungen zu anderen Ländern überhaupt nicht zu denken.

Eine rationale Aussen­politik ist nicht mehr möglich?
Es ist wie bei einem Kleinkind, das sich zutiefst beleidigt fühlt und um sich schlägt. Es richtet immer mehr Schaden an und beginnt früher oder später, das Leben anderer Menschen und auch sein eigenes Leben zu zerstören. Aber das Kind macht sich das nicht klar. Dass es Beziehungen aufbauen muss, kommt ihm gar nicht in den Sinn. Der Groll, der in Russland neuerdings überhandnimmt, wird meiner Meinung nach von ganz oben unterstützt, und wir sind noch nicht an dem Punkt, dass jemand realisieren könnte, dass wir Russen normale und legitime Interessen haben und richtige Beziehungen zu anderen Ländern entwickeln müssen, um diese Interessen zu verfolgen. Es gibt in Russland eine treffende Redensart: «Die Beleidigten sind die Wasser­schlepper», was so viel bedeutet wie «Groll ist eine schwere Bürde». Irgendwann werden wir begreifen, dass wir mit diesem Groll nur uns selber schaden. Doch bis jetzt gibt es allzu viele, die gekränkt sein wollen.

Zerstört: Ein Dorf in der Nähe von Kiew nach dem russischen Rückzug, 8. April 2022.

Von wem fühlen Wladimir Putin und die russische Gesellschaft sich gekränkt? Von der ganzen Welt? Vom Westen? Von den USA?
Von einer Weltordnung, die ihnen ungerecht vorkommt, und somit von allen Mächten, die in dieser Weltordnung Verantwortung und die «Führungs­rolle» übernehmen – primär also von den USA. Ich muss immer wieder an eine Äusserung Putins denken, der Mitte 2021 aus heiterem Himmel sagte: «Es gibt kein Glück im Leben.» Das ist eine heftige Aussage für eine politische Führungs­figur, die den Menschen zwar nicht zwingend den Himmel auf Erden bescheren, aber – zumindest theoretisch – ihr Leben verbessern sollte. Damit sagt er sinngemäss: «Es gibt kein Glück im Leben. Die Welt ist schlecht und ungerecht, ein Ort der Mühsal, der nur eine Daseins­form zulässt: das permanente Kämpfen und im Extremfall das Töten.»

Die USA bleiben der Erzfeind?
Der Groll auf den Rest der Welt ist in Russland tief verwurzelt und wird auf die USA projiziert, die für die Welt verantwortlich gemacht werden. Irgend­wann übernahmen die Vereinigten Staaten ja tatsächlich die Verantwortung für die Welt – und nicht immer mit Erfolg. Den Groll, von dem ich spreche, gibt es bekanntlich nicht nur in Russland. Weite Teile der Welt beklagen sich mit guten Gründen über die bestehende Weltordnung und damit über die USA, die die Verantwortung übernommen haben, sich zum Hegemon entwickelten und auf vielfältige Weise von dieser Weltordnung profitieren. Wo man diesem Ressentiment verfallen ist, hat man für Putin sichtlich mehr Verständnis. Allerdings würde ich nicht sagen, dass dieses Verständnis sich auch in Unterstützung umsetzt. Das liegt schlicht und einfach daran, dass Putin der Welt nichts anzubieten hat. Putin will selber genau das tun, wofür er die USA kritisiert. Das macht es schwer, ihn zu unterstützen. In ihrem Gefühl der Kränkung fühlen sich viele aber dennoch mit ihm verbunden.

Hat das Gefühl der Kränkung sich schon vor Putin in der russischen Gesellschaft festgesetzt – also in den 1990er-Jahren? Oder entstand es erst unter Putin?
Es gibt allerhand Gründe für den Groll in der russischen Gesellschaft. Das hat mit der Schulmeister­rolle zu tun, die die USA und Teile Westeuropas sich angemasst haben. Ideologisch kam diese Rolle im Gewand der Modernisierungs­theorie daher. Sie besagt, dass es auf der einen Seite entwickelte Länder und auf der anderen Seite Entwicklungs­länder gibt und dass die entwickelten Länder die Entwicklungs­länder – mit guter, unterstützender Absicht – belehren: «Leute, ihr müsst das so und so machen.»

Und das ist kränkend?
Niemand lässt sich gerne schulmeistern – erst recht nicht ein grosses Land, das selbst einmal ein Imperium war. In Wahrheit war die Situation, die sich im Laufe der 1990er-Jahre herausbildete, weitaus vielschichtiger. Nach dem Zusammen­bruch der Sowjetunion wurde Russland eingeladen, in einer ganzen Reihe wichtiger internationaler Gremien mitzuwirken, und Russland nahm Einfluss auf Entscheidungen über zentrale Fragen von globaler Tragweite. Doch es gab da immer diesen schulmeisterlichen Tonfall, der auf einer gravierenden ideologischen Fehl­einschätzung beruhte. Nachdem das sozialistische Projekt gescheitert war, sahen viele nur noch einen einzigen Königsweg: das berühmte «Ende der Geschichte». Die Voraus­setzungen für Kränkung waren also gegeben, aber ebenso waren auch die Voraus­setzungen für andere Gefühle gegeben.

Der Groll hätte nicht zwingend gewinnen müssen?
Es gibt konkurrierende Narrative über die Frage, was der Zusammenbruch der Sowjetunion für deren Bevölkerung bedeutete. Eines dieser Narrative lautet, dass das Ende der UdSSR das Ergebnis einer Revolution des Volkes war, ein ruhmreicher Moment der russischen Geschichte und der Geschichte anderer Nationen, weil es dem Volk gelang, sich gegen ein verhasstes und tyrannisches Regime durchzusetzen. Dieses Narrativ hätte natürlich keinen Groll produziert. Putin jedoch entschied sich für den Groll. Zum Teil lag das vermutlich an seinen Persönlichkeits­merkmalen. Und: Groll ist ansteckend. Es ist ein bequemes Gefühl: Erstens fühlt man sich immer im Recht, und zweitens hat man immer das Gefühl, dass auf einem herum­getrampelt wird und man das nicht verdient hat.

Sie haben mehrfach geäussert, Putin werde in der Ukraine nicht haltmachen. Woran denken Sie konkret? An die Republik Moldau, die baltischen Staaten, an einen selbst­zerstörerischen Krieg gegen die USA?
In Putins Weltsicht gibt es keine Grenzen. Diese Formel ist inzwischen praktisch zur offiziellen Linie geworden: Russland hört nirgendwo auf. Das ist die klassische Definition des Wortes «Imperium»: Imperien erkennen keine Grenzen an. Ich erinnere an Putins Ultimatum vom Dezember 2021. Damals erklärte er unzweideutig und im vollen Ernst, dass seine Einfluss­sphäre sich auf ganz Osteuropa erstreckt. Wie das ausgestaltet wird und ob das formelle Souveränitäts­verluste bedeutet oder nicht – was macht das für einen Unterschied? Die imaginierte Einfluss­zone erstreckt sich mit Sicherheit auch auf Ostdeutschland – einfach deswegen, weil Putin mit Ostdeutschland persönliche Erinnerungen verbindet. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Putin dieses Territorium nicht als sein Eigentum betrachtet. Er hat definitiv die Absicht, den Warschauer Pakt territorial wiederher­zustellen.

Putin hat die abtrünnigen «Republiken» in der Ostukraine anerkannt. Doch wo verlaufen für Moskau die Grenzen dieser Republiken?
Ich höre häufig Sätze wie «Was für ein Unsinn! Das ist doch abwegig. Vollkommen unmöglich!» Genau dasselbe wurde vor nicht allzu langer Zeit über die Ukraine und vor noch kürzerer Zeit über Moldau gesagt. Inzwischen hören wir, dass die moldauische Regierung, die ukrainische Regierung und die USA Moldau in grosser Gefahr wähnen. Wir wissen, dass Moldau in die aktuelle Militär­operation mit eingeplant wurde und Russland bis jetzt einfach noch nicht bis dorthin vorgedrungen ist.

Die Grenzen dürften also immer weiter verschoben werden?
Im Grossen und Ganzen sieht die russische Strategie ungefähr so aus: Wir zwacken uns ein Stückchen ab. Dann wird dieses Stückchen als rechtmässig anerkannt, und im nächsten Schritt berufen wir uns auf diese Anerkennung und zwacken uns das nächste Stückchen ab. Nach dieser Logik greifen wir uns die Ostukraine. Schon bald hören wir dann aus Europa die ersten Stimmen, die sagen: «Na ja, im Grunde war es ja ihr Land. Okay. Einverstanden.» Aber Moment mal: Wenn es «ihr» Land – also russisches Land – ist, weil dort Russisch gesprochen wird, wie steht es dann eigentlich mit dem Osten Estlands? Nun kann man einwenden: Estland ist doch Nato-Mitglied. Aber ob die Nato für Estland in den Kampf ziehen wird?

Das wird sie nicht?
Putin ist fest davon überzeugt, dass die Nato auseinander­fällt, wenn man zum richtigen Zeitpunkt die Tragfähigkeit von Artikel 5 des Nato-Vertrags, in dem die Beistands­pflicht im Bündnisfall festgeschrieben ist, auf die Probe stellt. Um es klar zu sagen: Was ich hier darlege, ist nicht das wahrscheinlichste Szenario. Ich beschreibe nur Putins Strategie, aber Putin ist nicht der Welten­herrscher. Er wird so viel bekommen, wie man ihm überlässt. Unvorstellbar ist das Szenario, das ich hier beschreibe, jedenfalls nicht.

Von den Russen markiert: Ein kaputter Lastwagen in Balakliia (Charkiw), 17. September 2022.
Artilleriekämpfer der ukrainischen Brigade 53 an der Front bei Bachmut, 15. November 2022.

Dass Putin und sein Team am 24. Februar 2022 so dachten, ist leicht vorstellbar. Inzwischen ist allerdings ein Jahr vergangen, und der Westen ist nicht eingeknickt. Für die russische Armee laufen die Dinge nicht wie erwartet. Hat diese Entwicklung Putins Sicht der Dinge, die Sie gerade beschrieben haben, möglicher­weise beeinflusst?
Nicht nur möglicher­weise, sondern mit Sicherheit. Das Jahr hat Putin eines vor Augen geführt: Indem der Westen sich an die Ukraine hängt, zeigt er, dass er die Ukraine als Schlüssel­region betrachtet und von dort aus Russland angreifen wollte. Davon abgesehen ist es aus Putins Sicht gut, dass diese Probleme vor dem wirklichen Krieg sichtbar geworden sind, den die russische Führung für unausweichlich hält. Nach deren Logik wäre es viel schlimmer, mit einer solchen Armee in einen zukünftigen grossen Krieg zu ziehen. Für Putin stellt die Situation sich also so dar, dass alles, was geschieht, ihn stärkt.

Die Rückschläge bestärken ihn?
Putin hat diesen Krieg seit vielen Jahren vorbereitet. Es wäre sonderbar, wenn er nur mit einem Plan A in der Tasche in diesen Krieg gezogen wäre: «Na ja, es ist nicht alles nach Plan verlaufen – kein Problem; wir machen weiter Druck. Wir sind bereit, so viel Blut zu vergiessen wie nötig – die Gegenseite ist dazu nicht bereit.» Ich behaupte nicht, dass diese Taktik erfolgreich sein wird. Ich glaube vielmehr, dass Putins Logik ihn zur Niederlage verdammt und dass er unbewusst verlieren will. Die Frage ist, wie viele Menschen bis dahin sterben werden. Doch wenn wir Prognosen stellen wollen, müssen wir die Logik verstehen, von der sich die Macht­habenden in Russland leiten lassen.

Glauben Sie, dass irgendetwas Putin dazu bringen könnte, seine Weltsicht in Zweifel zu ziehen?
Nein. Nichts.

Im Vorgespräch zu diesem Interview sprachen Sie über den aktuellen Zustand der russischen Gesellschaft. Sie sprachen von ihrer Atomisierung, von kollektiver Handlungs­unfähigkeit. Sie sagten, das Gefühl der erlernten Hilflosigkeit könnte durch ein Gespräch wie dieses nur verstärkt werden, und das sei nicht, was Sie wollten. Gibt es Möglichkeiten, mit der Gesellschaft zu sprechen, ohne diesem Gefühl der Hilflosigkeit neue Nahrung zu geben?
Wenn das vorherrschende Gefühl in Russland das Gekränktsein ist, so ist der Hauptaffekt, auf dem alles andere aufbaut, die Angst. Diese Angst ist existenziell – Angst vor dem Zorn eines einzelnen Menschen, Angst vor Krieg oder eine abstrakte Angst vor Chaos. Das Gegen­mittel gegen Angst ist Hoffnung. Hoffnung ist der Gegen­affekt. Man muss den Menschen Hoffnung machen. So gesehen sind die Vorwürfe gegen das russische Volk zwar absolut nachvollziehbar und begründet, aber politisch kurzsichtig. Ich wiederhole: nachvollziehbar, begründet und legitim, aber politisch kurzsichtig. Die entscheidende Frage ist, woraus die Menschen in dieser Situation Hoffnung schöpfen können.

Und was ist die Antwort?
Um Hoffnung zu erzeugen, muss man zeigen, dass alles auch ganz anders sein könnte, dass Russland anders organisiert werden könnte. Die Wahrheit ist: Solange die russische Bevölkerung nicht erkennt, dass sie in eine Sackgasse geraten ist, hat sie keine grosse Motivation, sich diesen Dingen zu stellen, denn sie machen Angst. Dafür müssten die Menschen in Russland den Status quo infrage stellen. Allein das ist aber schon so bedrohlich, dass die Menschen sich darauf lieber nicht einlassen. In Russland wurde jeder normative Diskurs erfolgreich unterdrückt. Schon seit sehr langer Zeit ist es schwer, zu fragen, wie man die Gesellschaft gerecht, ehrlich und gut organisieren könnte. Der normative Diskurs wird unterdrückt, aber wenn die Menschen realisieren, dass sie in einer Sackgasse stecken, werden sie unweigerlich das Bedürfnis nach einem solchen Diskurs entwickeln. Deshalb ist es wichtig, dass die Menschen Hoffnung haben.

Sie kennen die Theorien, die derzeit im Westen und vielerorts die Meinung über die russische Kultur bestimmen: Diese Kultur sei imperial, habe eine Sklaven­mentalität hervorgebracht und genährt …
Ich glaube, dass die russische Kultur ein starkes imperiales Element enthält und dass es an der Zeit ist, sich dem zu stellen. Der Zusammen­bruch eines Imperiums ist dafür ein guter Zeitpunkt. Aber erschöpft sich die russische Kultur darin? Nein. Vielleicht erschöpft sich nicht einmal das Werk eines einzelnen Autors darin. Kann man im Werk eines konkreten Autors imperiales Gedankengut aufspüren? Ja, das kann man und sollte man auch. Aber warum sollte man ihn in Bausch und Bogen gutheissen oder verdammen? Man will ihn doch nicht heiraten und ihm bedingungslose Liebe schwören. Die Kultur entwickelt sich dadurch weiter, dass sie sich mit ihrer Geschichte auseinander­setzt und sich auch selbst kritisiert. Doch die Kritik darf nicht zur Selbst­verleugnung werden. Es ist ja auch die Kultur, die die Positionen liefert, von denen aus sie sich kritisieren lässt. Das hat nichts Erniedrigendes an sich. Man kann ohne weiteres in der russischen Kultur imperiales Gedankengut erblicken, es heraus­präparieren und untersuchen, wie es mit anderen Aspekten zusammenhängt.

Aber haben Sie ein Rezept, wie sich aus der russischen Kultur Weisheit und Hoffnung schöpfen lassen?
Der Klassiker der Imperialismus­kritik in der Geschichte des politischen Denkens ist Wladimir Lenin. Es war Lenin, der mit Bezug auf die Ukraine von «grossrussischem Chauvinismus» sprach und dem Imperialismus in anderen Ländern den Kampf angesagt hat. In allen Universitäten der Welt beginnt die Auseinander­setzung mit dem Imperialismus heute mit Lenin. Russland hat dem globalen politischen Denken auch Möglichkeiten an die Hand gegeben, über den Staat hinaus­zudenken: mit Michail Bakunin, Lew Tolstoi, Peter Kropotkin – und in manchen Punkten eben auch mit Lenin. Die Liste liesse sich fortsetzen. Russland hat keinen bedeutenden etatistischen oder zentralistischen Denker hervorgebracht. Alle Zentralisierungs­gedanken in Russland sind Importware. Gedanken von Freiheit, gegenseitiger Hilfe und Würde wanderten in die entgegen­gesetzte Richtung.

Was denken Sie über die Spaltung zwischen denen, die Russland verlassen haben, und denen, die geblieben sind?
Ich habe den Eindruck, dass uns allen und unserem Land ein Unheil zugestossen ist. Jeder, der sich heute ausserhalb Russlands befindet, sollte sich Gedanken darüber machen, wie er denen helfen kann, die in Russland sind. Und in Russland sollte jeder darüber nachdenken, wie er denen helfen kann, die in der Ferne leiden. Wir werden das Ganze durchstehen, aber nur gemeinsam. Nur gemeinsam.

Zur Autorin und zur Übersetzung

Margarita Ljutowa ist Sonder­korrespondentin beim Magazin «Meduza». Das Interview erschien dort zuerst Ende Februar im russischen Original und in einer gekürzten englischen Version. Andreas Bredenfeld fertigte die vorliegende Übersetzung auf der Grundlage der englischen Version an, mit Bezugnahme auf das russische Original. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit haben wir an einigen Stellen Fragen eingefügt, die in der englischen Version nicht gestellt wurden.

Zerstörte Schule in Vil’khivka nahe Charkiw, 9. Mai 2022.

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