Ein Andenken an den letzten Besuch bei den Grosseltern in Aidar.

Leben in Trümmern

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Fotograf Lesha erhält einen Anruf vom Militär – was das bedeutet, kann er noch nicht abschätzen. Und seine Freunde erzählen, wie es ihnen nach einem Jahr Krieg geht.

Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Bildredaktion und Übersetzung), 13.03.2023

Vorgelesen von Danny Exnar
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Ich bin ziemlich nieder­geschlagen in der letzten Zeit. Das bringe ich vor allem mit dem Jahrestag der Gross­invasion in Zusammen­hang; der Tatsache, dass der Krieg nun schon über ein Jahr dauert, und der Erkenntnis, dass er nicht so bald enden wird. Deprimierend. Natürlich kamen auch viele Erinnerungen hoch, an den Anfang. An die ersten Tage der Invasion, unsere Entscheidung, hierzubleiben, und den Druck, der mit dieser Entscheidung verbunden war.

Auch die Sirenen sind wieder präsenter und haben auch ein Jahr später nichts von ihrem Schrecken verloren. Im Gegenteil, sie kommen mir heute noch lauter vor als damals. Aber das ist vielleicht nur in meinem Kopf. Am Abend des 26. Februar war es besonders schlimm. Wir lagen im Bett, draussen war es ungewöhnlich still. Dann durchbrachen die Sirenen die Nacht. Ich dachte: «Das muss es sein. Das ist der grosse Angriff.» Die Attacke, die wir unbewusst ständig erwarten. Sie war es nicht – aber Russland hat uns bis zum Morgen­grauen beschossen.

Die Strassenbeleuchtung in Kiew ist zurück.
Die Region Luhansk mit der Grenze zu Russland.

Am 23. Februar riefen mich die Militär­behörden an. Es war kein offizielles Aufgebot für die Einberufung, aber sie wollen mich und meine Papiere sehen und wahrscheinlich den Gesundheits­check machen. Das kann dann Verschiedenes bedeuten. Zum Beispiel, dass ich fit genug bin, um den Kampf­truppen zugeordnet zu werden. Unklar ist auch, wie viel Zeit mir bleibt zwischen einem solchen Befund und dem Start der Ausbildung. Im schlimmsten Fall beginnt die am Tag darauf.

Deshalb versuche ich, den Termin hinaus­zuschieben, solange es irgendwie legal möglich ist. Ich will noch ein paar wichtige Projekte abschliessen im März. Und dann werden wir sehen. Ich nehme schon mal ein paar Schiess­lektionen und absolviere freiwillige Trainings, die für Zivilisten angeboten werden, vielleicht auch einen Drohnenkurs. Denn wenn man einmal im System ist, kann es schnell gehen. Die Ausbildung dauert nur drei bis fünf Wochen. Da lerne ich lieber jetzt schon so viel wie möglich.

Und natürlich habe ich auch Hoffnung, dass sie beim Militär an meiner Berufs­ausbildung, Erfahrung, meinen Fertigkeiten interessiert sind und mich entsprechend einsetzen. Aber das weiss man echt nicht. Persönlich würde ich es sehr bedauern, wenn ich bei der Armee weniger nützlich sein kann als mit der Arbeit, die ich jetzt mache. So oder so, es sieht aus, als müssten wir uns dieses Jahr für weitere Heraus­forderungen wappnen. Um aus diesen wie bis anhin das Beste zu machen.

Ein Jahr Krieg, das scheint mir auch ein guter Moment, um wieder mal meinen Freunden das Wort zu geben, sie auf das Jahr zurück­blicken zu lassen und ihre Gedanken zur Zukunft mit uns zu teilen:

Vitalii, 31

Ich komme ursprünglich aus Konotop im Nordosten der Ukraine und arbeite als Fotograf in Kiew. Lesha kenne ich, seit er nach Kiew gezogen ist. Er suchte ein Zimmer, mein WG-Partner wollte ausziehen, und da habe ich Lesha das Zimmer angeboten. Wir haben vier Jahre zusammen­gewohnt.

Den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft habe ich das erste Mal während der Maidan-Revolution 2014 erlebt. Er war richtig­gehend spürbar und hat mich und meine Generation schon geprägt. Ich denke, dieses Zugehörigkeits­gefühl ist ein wichtiger Teil unserer Gegenwart und erklärt in meinen Augen die grosse Solidarität und Empathie, die wir unter­einander verspüren, seit die Gross­invasion begann.

Die ersten Tage waren die Schwierigsten. Niemand begriff, was los war und was als Nächstes geschehen würde. Alle hatten ein Bedürfnis nach Unter­stützung, und gleichzeitig versuchten alle, sie zu geben. In solchen Momenten realisiert man, was gesellschaftlicher Zusammen­halt bedeutet. Wir sind wie eine grosse Familie.

Die Stadt, in der ich geboren bin, Konotop, wurde im ersten Monat von den Russen besetzt. Allerdings wurde sie nie vollständig eingenommen, ukrainische Partisanen haben diesen Plan durchkreuzt. Ich war sehr besorgt um meine Familie. Die Russen hatten viele Truppen und Kriegs­material in der Gegend versammelt, um von dort aus nach Kiew zu gelangen. Dazu kam es zum Glück nicht.

Für mich persönlich ist es sehr wichtig, meinen Liebsten nahe zu sein. Sie zu sehen, zu hören, zu dokumentieren, was gerade passiert. Arbeiten. Im Moment kann ich mir nicht vorstellen, woanders zu sein.

Fast jede Generation meiner Familie hat in irgendeiner Form Unrecht erfahren, Sklaverei, den Holodomor oder Unter­drückung. Wir haben keine andere Wahl, als fest daran zu glauben, dass wir das erste Mal in hundert Jahren frei sein können, frei vom Einfluss unseres östlichen Nachbarn. Das stimmt mich optimistisch und gibt mir Hoffnung für eine Änderung zum Guten.

Lina, 33

Ich arbeite als Grafikerin und lebe in Kiew. So genau kann ich mich nicht erinnern, seit wann ich Lesha kenne, es ist lange her und er hat damals noch nicht in Kiew gewohnt. Wir waren jung und wild!

Das Ausmass der Heraus­forderungen ist nach wie vor schwer zu erfassen, und noch weniger verstehen wir, was noch auf uns zukommt. Ich denke, das wird alles erst im Nachhinein – nach unserem Sieg – sichtbar.

Freunde, Familie und Arbeit helfen mir dabei, mit diesen Ungewissheiten umzugehen. Vieles in meinem Leben hat sich radikal geändert, und noch mehr als früher lebe ich im Heute, verschwende keine Zeit mehr mit Dingen, die mir nicht guttun, verschiebe nichts mehr in die Zukunft. Im Hier und Jetzt leben heisst auch, dass Traurigkeit genauso Platz haben darf wie Momente der Zufriedenheit oder gar des Glücks. Beides müssen wir uns erlauben.

Ich schätze kleine, einfache Dinge wie den ersten Kaffee am Morgen, denn selbst­verständlich sind sie nicht mehr in einem Land, in dem jeden Tag Menschen umkommen. Und ich bin unendlich dankbar für die Männer, die das möglich machen, indem sie uns verteidigen.

Was wir tun können, ist Verantwortung übernehmen für unsere Zukunft und unsere Werte. Sie sind die Identität, die wir mit erhobenem Kopf und mit beiden Füssen auf dem Boden verteidigen.

Anna, 28

Ursprünglich komme ich aus Charkiw, ich lebe aber schon lange in Kiew. Hier arbeite ich als Artdirektorin. Lesha und ich haben uns vor sechs Jahren kennen­gelernt, durch unser gemeinsames Interesse für Grafik, wir haben zwei Jahre zusammen­gearbeitet.

Bis jetzt ist es mir gelungen, nicht zu verzweifeln. Klar habe ich, wie alle anderen auch, Momente der Wut oder der Ohnmacht, aber sie gehen vorbei. Ich habe in diesem Jahr viel verändert in meinem Leben, das gibt mir Energie.

Diese brauche ich, um den neuen Alltag ausserhalb der Komfort­zone zu bewältigen. Denn die gibt es nicht mehr, wir sind unter ständiger Anspannung, können dieser nicht entgehen. Es ist, als wären wir alle in einem Zug, der nicht mehr hält. Das ist unsere Realität. Und sie ist so präsent und mächtig, dass sie alles überstrahlt, was uns vor der Gross­invasion umgetrieben hat.

Die Sorgen eines gewöhnlichen Lebens scheinen nun unbedeutend. Sie haben aber auch einer Zuversicht Platz gemacht, die uns alle verbindet. Und dieser Zusammen­halt begleitet uns täglich; im Austausch mit Freunden und Fremden, bei der Arbeit, bei Entscheidungen. Er kompensiert für all die schlimmen Dinge, die wir hören, sehen und fühlen. Eine merkwürdige Dissonanz.

Ich selber bin offener geworden, sage den Menschen um mich herum, warum ich sie mag und was sie mir bedeuten. Meine Beziehung zur Aussenwelt hat sich also wegen des Krieges sehr verändert, früher war ich zurück­haltender. Ich verschiebe auch nichts mehr auf morgen, das Jetzt hat eine neue Bedeutung bekommen. Wir müssen heute leben. Wer weiss, was morgen ist. Dinge tun, die uns wichtig sind. Ich will zum Beispiel seit meiner Kindheit Musik machen. Damit habe ich nun angefangen.

Es beruhigt mich, wenn ich – wie wahrscheinlich sehr viele Ukrainerinnen – etwas für unser Land machen kann. Für unsere Kultur oder Gesellschaft. Darum sammle ich Bücher auf Floh­märkten und Bibliotheken, die etwas mit der ukrainischen Kultur zu tun haben, scanne Interessantes ein und baue ein Archiv auf.

Alle meine Gedanken an die Zukunft drehen sich um den Moment nach unserem Sieg und um das, was danach kommt. Wie viele Jahre es dauern wird, bis wir unser Land wieder­aufgebaut haben.

Planen tun wir entsprechend wenig, und wenn, dann sehr kurzfristig, maximal einen Monat im Voraus. Vor der Gross­invasion war mein Zeit­horizont langfristiger und umfasste Reisen, Besuche, Konzerte. Das fällt nun alles weg, und es fehlt mir nicht mal besonders. Obwohl, das stimmt nicht ganz, ich plane kurze Ferien ausserhalb der Ukraine und frage mich jetzt schon, wie das dann sein wird. Aber ich will mir eine Pause gönnen. Es war ein verstörendes Jahr, und vielleicht tut es mir gut, mal ein paar ganz normale, sorgenfreie Tage zu erleben. Wir müssen uns schützen, unsere Kraft bewahren.

Blick vom Michaelplatz in Kiew auf die Sophienkathedrale.

Zum Fotografen

Lesha Berezovskiy arbeitet als freier Fotograf in Kiew. Er ist 1991 im ostukrainischen Bezirk Luhansk geboren. Als dort 2014 der Krieg ausbricht, zieht er in die Hauptstadt, wo er heute mit seiner Frau Agata lebt.

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