Der grösste Betrug – Teil 3

Wer in Tirana in einem illegalen Callcenter arbeitet, kann sich ein Leben in Luxus leisten.

Als ob sie keine Seele hätten

Nach einer Razzia in einem illegalen Callcenter mitten in Tirana steckt die Polizei mehrere Personen ins Gefängnis, die Opfer um grosse Summen betrogen haben. Doch was heisst das für den Kampf gegen Cybertrading? «Der grösste Betrug», 3. und letzter Teil.

Von Franziska Tschinderle (Text und Recherche) und Ilir Tsouko (Recherche und Bilder) sowie Vjosa Çerkini (Vorrecherche), Apostolis Giotopoulos (Animationen und Videobearbeitung) und Juli Ristani (Recherche), 11.03.2023

Vorgelesen von Danny Exnar
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Mitte März 2022 rollt ein weisser Mercedes-Benz von einer Fähre in den Hafen von Durrës, der zweitgrössten Stadt Albaniens. «Paladin» nennt das bayerische Innen­ministerium dieses Fahrzeug, das von aussen wie ein gewöhnlicher Kleintransporter aussieht, tatsächlich aber ein mobiles Forensik­labor ist. Der Mann am Steuer heisst Marco Schröder und arbeitet als Kriminal­hauptkommissar in Oberfranken. Schröder, seit 30 Jahren bei der Polizei, hat einen Auftrag zu erfüllen. Er soll knapp vier Terabyte Daten zurück nach Deutschland transportieren. Er wird uns in das Callcenter führen, das Lorenz Krüger ausgeraubt hat, den Holz­unternehmer aus Bayern.

Durrës ist Albaniens wichtigste Hafenstadt und wurde in der Historie auch als «Pforte zum Balkan» bezeichnet. Die Stadt liegt auf einer Marschroute von West nach Ost, auf der im Laufe der Jahrhunderte römische Heere durchkamen, venezianische Kaufleute, Kreuzritter und osmanische Sultane – sowie schliesslich auch das Heer des faschistischen Diktators Benito Mussolini. Nach dem Zusammen­bruch des kommunistischen Regimes, das Albanien jahrzehntelang vom Rest der Welt isoliert hatte, war Durrës das Nadelöhr, über das verzweifelte Flüchtende aus Albanien auf Booten nach Italien flohen.

Der Hafen von Durrës, Albanien.
Der «Paladin» ist ein Forensik­labor auf vier Rädern und der ganze Stolz der Staats­anwaltschaft Bamberg.

Der grösste Betrug

Ein Mann hat sein gesamtes Erbe verloren. Wie zahllose andere Menschen ist er auf eine gefälschte Investment-Plattform hereingefallen. Eine Kriminalgeschichte über die dunkle Seite der Digitalisierung und die Jagd nach dem schnellen Geld. Zur Übersicht.

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Bonus-Folge

Podcast zur Callcenter-Recherche: Wo findet man die Be­trugs­op­fer?

Francesca, die in Wirklichkeit anders heisst, war 8 Jahre alt, als sie sich mit ihrer Mutter auf eines dieser Boote drängte. Es war das Jahr 1997, und Albanien versank in Anarchie und Chaos. Bürger plünderten Waffen­depots, die staatliche Ordnung brach zusammen. Das Land stand an der Kippe zum Bürgerkrieg. Francescas Vater, ein ehemaliger Tänzer an Albaniens Staatsoper, war wenige Jahre zuvor gestorben.

In Italien wuchs sie bei ihrer Mutter auf und kam erst wieder als junge Frau nach Tirana zurück, weil sie sich in einen Mann verliebt hatte. Sie fand einen Job bei Teleperformance, einem Callcenter. Vier Jahre lang arbeitete Francesca dort, bis eine Freundin an sie herantrat. Es gäbe da eine Firma namens Blue Energy Call, die viel mehr bezahle. Francesca bewarb sich. Ihr Anfangs­gehalt betrug 50’000 Lek, umgerechnet etwa 440 Euro. «Das hat mir gereicht, um den Monat zu überstehen», sagt sie.

Die Razzia

Als der «Paladin» Tirana erreicht, sitzt Francesca gerade mit einem Headset auf dem Kopf bei der Arbeit. Es ist der 16. März 2022, ein Mittwoch. Zwei Dinge weiss sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Dass sie bald Grund haben wird, mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken, weil sie schwanger werden wird. Und dass vor der Türe gut 60 Polizisten auf das Signal warten, um ihr Büro zu stürmen. 9 davon sind mit dem Flugzeug aus Deutschland angereist. 2 von ihnen, darunter Marco Schröder, kamen mit dem «Paladin» über Italien. Der Deckname der Aktion: Skema. Albanisch für: Scam.

Kurz darauf treten mehrere Polizisten vor die Presse, darunter Tonin Vocaj, Direktor der Kriminal­polizei Albaniens. Insgesamt 8 Büros sind durchsucht worden. 15 Personen sässen in Haft und nach 23 weiteren werde immer noch gefahndet, sagt er. Und er bestätigt den Verdacht der Staats­anwaltschaft in Deutschland: Seit 2018 habe das Callcenter Investorinnen aus Deutschland um grosse Summen Geld betrogen.

Für die Polizei war es gar nicht so einfach, Blue Energy Call zu stürmen. Es liegt an einer dicht befahrenen Verkehrsader, auf der sich am Morgen laut hupend die Autos aneinander­reihen. Am schmalen Trottoir drängen sich die Fussgänger, vorbei an Zeitungs­kiosken und Gemüse­händlern. Blue Energy Call lag nicht in irgendeinem Hinterhof, sondern in einem Shopping­center mit vielen Geschäften, das tagsüber gut besucht ist. Darüber liegen Wohnungen, von deren Balkonen Wäsche flattert. Francesca erinnert sich, wie überrascht sie war, als die Polizisten herein­stürmten und «Hände hinter den Kopf!» riefen. Dann mussten sich alle Mitarbeiter mit dem Gesicht zur Wand aufstellen. «Als ob wir Kriminelle wären», sagt Francesca.

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In diesem Komplex mitten im Zentrum von Tirana befand sich das illegale Callcenter Blue Energy Call.

Die 34-Jährige sitzt in einem Café im Zentrum von Tirana, während sie diese Geschichte erzählt. Es ist der 20. April 2022, wenige Wochen nach der Razzia. Vor dem Café wachsen zwei Palmen in den Himmel, um die Ecke liegt das Polizei­kommissariat von Tirana, bei dem sich Francesca jede Woche melden muss. Ohne Erlaubnis der Behörden darf sie das Land nicht mehr verlassen. Zum Interview hat sie ihre Mutter und ihren Anwalt mitgebracht.

«Als mich Francescas Familie fragte, ob ich sie vertreten könne, war mein erster Gedanke: Nein! Nicht schon wieder diese Börsen­geschäfte!», sagt ihr Anwalt Arben Llapi. Er hatte von den betrügerischen Callcentern in Tirana gehört, aber er wusste nicht, dass Francesca in einem dieser Büros arbeitete.

Francesca wusste es auch nicht.

«Wann komme ich hier raus?» war ihre erste Frage an den Anwalt, als dieser sie in der Zelle besuchte.

«Du musst zuerst vor Gericht», antwortete Arben Llapi.

Francesca brach in Tränen aus: «Was habe ich mit alledem zu tun?»

Der Callcenter-Manager

Das Callcenter, für das Francesca arbeitete, war ganz legal als Unternehmen angemeldet und verfügte auch über eine Lizenz­nummer. Im Firmen­register Albaniens ist der 4. April 2017 als Beginn der Firmen­tätigkeit angegeben. Blue Energy Call gab an, auf dem Gebiet Telemarketing, Webmarketing und als Callcenter für Kundinnen im In- und Ausland tätig zu sein.

Alles Fassade, glaubt die Staats­anwaltschaft in Bamberg. Die Mitarbeiterinnen sollen für Cybertrading-Plattformen gearbeitet haben. Zwei davon sind in Bayern mittlerweile aktenkundig, weil Opfer Anzeige erstattet haben. Die Websites heissen Globalix und Brokerz – letztere ist die Plattform, bei der Lorenz Krüger sein Geld verloren hat.

Was ist Cybertrading?

«Cybertrading» ist ein Begriff aus Ermittler­kreisen, auch bekannt als Anlagebetrug im Internet. Beim Cybertrading locken Betrüger ihre Opfer auf seriös anmutende Online-Trading-Plattformen. Über ein professionell gestaltetes Trading-Konto werden den Investoren Gewinne vorgegaukelt. Ein «Broker» betreut die Kunden telefonisch und verleitet sie zu immer höheren Einsätzen. Aber: Das Geld wurde zu keinem Zeitpunkt investiert. Es ist gestohlen. Die Trading-Plattformen entpuppen sich als kompletter Fake. Schätzungen zufolge werden in Europa dadurch jedes Jahr zweistellige Milliarden­summen erbeutet. Genau sagen kann das aber niemand, weil die Dunkel­ziffer gewaltig ist. Sicher ist: Cybertrading wird nicht von einer, sondern mehreren Betrugs­netzwerken betrieben – grenz­überschreitend und arbeitsteilig. Man kann sich das System wie einen Konzern vorstellen, der auf vier Säulen basiert. Eine Säule liefert die Kunden­daten, die nächste wickelt Software und Technik ab. Eine weitere Säule stellt das Geldwäsche­netzwerk, in dem die Überweisungen versickern, zur Verfügung. Herz des Betrugs ist das Callcenter, aus dem die «Broker» anrufen. Um Letzteres geht es in dieser Recherche.

All das ergibt sich aus einem 40 Seiten langen Gerichts­entscheid, der der Republik auf Albanisch vorliegt. Er zeigt, dass die Ermittlungen in Deutschland seit 2019 laufen, in Albanien seit Dezember 2021. Die verantwortliche Sonder­staatsanwaltschaft gegen Korruption und organisierte Kriminalität gilt als Speerspitze der Justiz in Albanien.

Der zuständige Staatsanwalt Eneid Nakuçi sagt im Gespräch mit der Republik, er habe eine Nachricht an die jungen Menschen in seinem Land: «Wenn ein Callcenter einen zu hohen Bonus zahlt, dann ist das ein Indikator dafür, dass es betrügerisch ist. Haltet euch von diesen Scams fern. Die Welt ist klein geworden. Wenn ihr morgen aufwacht, könnte die spanische, deutsche oder italienische Polizei euer Büro stürmen.»

Bisher hat Nakuçi noch keine Anklage erhoben. Ein Jahr nach der Razzia sitzen noch immer 7 Verdächtige in Untersuchungs­haft, darunter der ranghöchste Manager des Callcenters, der IT-Fachmann sowie mehrere Telefon­agenten.

Francesca aus Italien steht nicht mehr im Fokus der Justiz, weil sie ganz offensichtlich nicht zur Retention-Abteilung gehörte, in der die Top-«Broker» arbeiten. Am Telefon erzählt sie im Februar 2023, dass sie Albanien wieder verlassen durfte und in wenigen Wochen ihr Kind erwartet. Die Zeit bei Blue Energy Call will sie einfach nur hinter sich lassen. Mit der Freundin, von der sie damals angeworben wurde, spricht sie kein Wort mehr. Für den Rest der Mitarbeiter, die noch immer in Untersuchungs­haft sitzen, schaut die Lage düster aus.

Zum Beispiel für Francescas ehemaligen Boss Elton Brahimi.

Der 37-Jährige, der in Wirklichkeit anders heisst, versuchte am Tag der Razzia das Land in Richtung Tschechien zu verlassen und wurde am Flughafen von Tirana festgenommen. Sein Anwalt betont, es habe sich um keine Flucht, sondern eine Geschäfts­reise gehandelt. Brahimi habe einen Rückflug nach Tirana gebucht.

Sein Werdegang will so gar nicht zum Profil eines Cyber­kriminellen passen. Elton Brahimi ist ein studierter Zoologe, schlug dann aber eine andere Laufbahn ein. Anstatt Tierarten zu erforschen oder Löwen zu betreuen, eröffnete er ein Holz­unternehmen, genau wie Lorenz Krüger in Bayern. Am Stadtrand von Tirana besitzt er eine Werkstatt mit 10 Mitarbeitern, die Möbel, Holzwaren sowie Brennholz nach Italien exportiert.

Vor der Razzia haben albanische Medien noch nie über Elton Brahimi berichtet. Er ist ein Unbekannter. Die Republik hat ihm einen Brief ins Gefängnis geschickt, aber nie eine Antwort bekommen. Stattdessen spricht sein Anwalt Rezart Tërshana für ihn.

Tërshanas Büro liegt mitten im «Blloku», früher das Wohnviertel der kommunistischen Elite, heute Tiranas bekanntestes Ausgeh­viertel. Hier reihen sich Cocktailbars, Clubs und Cafés aneinander. Tërshana trägt eine blaue Krawatte und Turnschuhe von Adidas. In seinem Regal stehen Souvenirs in Form von bunten, verzierten Tellern aus der ganzen Welt: Seychellen, Côte d’Azur, Paris, Istanbul.

«Ich kenne Elton seit dem Jahr 2013», erzählt der Anwalt. «Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und ist ein charismatischer und hart arbeitender Mensch. Früher hat er in England gearbeitet. Nach seiner Rückkehr eröffnete er ein Internetcafé und eine Holz­werkstatt in Albanien.» Der Anwalt bestätigt, dass Elton Brahimi im August 2018 anfing, als Manager bei Blue Energy Call zu arbeiten. Bereits davor hatte er, der fliessend Englisch spricht, Erfahrungen in Callcentern gesammelt.

«Ich dachte nur noch an das Geld», sagt ein Insider.

Auf dem Papier hatte Blue Energy Call wechselnde Geschäfts­führer. Ehemalige Mitarbeiterinnen bestätigten im Polizeiverhör aber, dass Brahimi das Callcenter geleitet habe. «Im November 2017 war ich auf Jobsuche und stiess auf eine Annonce im Internet», gab einer an, «und so lernte ich Elton kennen, der mir als der Manager der Firma vorgestellt wurde.»

Anwalt Tërshana bestreitet diese Führungs­rolle nicht. Aber dass sein Mandant betrogen habe, davon will er dennoch nichts wissen. «Ich bin überzeugt, dass Elton nicht wusste, was passiert», sagt er. Sein Mandant habe die Plattform Brokerz nicht aufgesetzt. Wenn sich Investorinnen dort verzockt hätten, dann sei das ihr Problem beziehungsweise die Verantwortung der Plattform.

Auch er selber nutze eine App, um Aktien zu traden, sagt Tërshana. Nichts daran sei illegal. «Manchmal gewinne ich, manchmal verliere ich.»

Wo Tërshana recht hat: Brokerz war nicht in Albanien registriert. Hinter der Handels­plattform steckt die gleichnamige Firma Brokerz Ltd mit Sitz auf St. Vincent und die Grenadinen, einem kleinen Inselstaat mitten in der Karibik. Auf der traumhaft schönen Insel St. Vincent wurden Teile des berühmten Disney-Films «Fluch der Karibik» gedreht. Doch die Insel ist nicht nur berühmt für türkis­farbenes Wasser, weisse Strände und Palmen­haine. Sie ist auch Steueroase und Hort für Briefkasten­firmen. Laut den «Paradise Papers», einem 2016 der «Süddeutschen Zeitung» zugespielten Datenleak, waren am Firmensitz der Brokerz Ltd noch zahlreiche andere Offshore-Firmen gemeldet.

Die Trading-Seite gab es auf Englisch, Griechisch, Italienisch und Deutsch. Laut einer Pressemitteilung der Staats­anwaltschaft Bamberg in Bayern operierte die Gruppierung aus mehreren europäischen Ländern heraus, darunter Bulgarien und Serbien.

Vieles deutet darauf hin, dass es sich – ähnlich wie bei den Fällen um den «Wolf of Sofia» oder Greg Mathias, den CEO eines als Marketingfirma getarnten illegalen Callcenters – um ein ganzes Betrugs­netzwerk handelte und Elton nicht der ranghöchste Kader war. Wie viele Mitarbeiterinnen Blue Energy Call über die Jahre beschäftigte, ist schwer zu sagen. Zum Zeitpunkt der Razzia befanden sich etwa 70 Menschen in den Büros. «Der Grossteil von ihnen waren Telefon­agenten, die unter falschem Namen mit Personen im Ausland sprachen. Waren die Kunden interessiert an den Investments, wurden sie an das sogenannte Retention weitergeleitet», heisst es in den Gerichtsunterlagen.

Die britische Finanzmarkt­aufsicht FCA warnte erstmals am 26. Februar 2019 vor Brokerz. Zu spät für Lorenz Krüger, der sein Geld da schon verloren hatte. Doch die Website blieb weiter aufrufbar. Ausser in Italien. Dort wurde sie im September 2019 von der italienischen Finanzmarkt­aufsicht gesperrt. Das wurde möglich, nachdem Italien im selben Jahr ein entsprechendes Gesetz verabschiedet hatte. Seither hat die Finanzmarkt­aufsicht mehr als 850 Websites gesperrt, hinter denen sie betrügerische Aktivitäten vermutete. «Wir nehmen jede Woche 5 oder 6 Sites vom Netz», sagt Mitarbeiterin Emanuela Reggio. «Das ist sehr effektiv, und es ist die einzige Massnahme, mit der verhindert werden kann, dass Menschen mehr und mehr Geld investieren.»

Weil die Finanzmarkt­aufsichten von Österreich, Deutschland und der Schweiz keine solche rechtliche Grundlage haben, blieb die Website für den deutsch­sprachigen Markt noch mindestens bis Dezember 2022 online. Das lässt sich über das Web-Archiv nachprüfen. Lorenz Krüger erzählt, dass er Jahre nach dem Betrug noch immer Anrufe bekommen habe. Nicht aus England – wie wir mittlerweile wissen –, sondern aus einem Shopping­center mitten in Tirana.

An einem Freitag Mitte Januar ist reger Betrieb an der Rruga e Kavajës, der dicht befahrenen Verkehrsader vor dem Shopping­center. Händler verkaufen Obst und Gemüse aus Kisten. An einer Palme hängt ein Käfig, in dem ein gelber Kanarien­vogel zwitschert. Er steht zum Verkauf – genau wie das Büro, aus dem Lorenz Krüger angerufen wurde. Wer sich von der Rolltreppe in die erste Etage des Shopping­centers hinauftragen lässt, sieht rechts ein Nagelstudio namens Barbie und links einen Gang mit einer Glastüre am Ende. Auf einem Zettel steht auf Albanisch: «Das Büro ist zu vermieten. Zu einem guten Preis. Fläche: 130 Quadrat­meter.»

Das Café, in dem die Callcenter-Mitarbeiter jeweils ihren Espresso getrunken haben, heisst «Xhaki». Es hat eine mit Glas verkleidete Veranda, auf die fast den ganzen Tag die Sonne scheint. Kein schlechter Ort, um sich während der Mittagspause von der Arbeit zu entspannen. Haben die «Broker» hier Pause gemacht, nachdem sie Lorenz Krüger abgezockt hatten? Hatte niemand von ihnen ein schlechtes Gewissen?

Der Insider

Das fragt man am besten einen Mann, der sich selbst Insider nennt. Er weiss, wie Blue Energy Call funktioniert hat, weil er in einem ähnlichen Callcenter gearbeitet hat. Er hat sich mit der Republik über Monate hinweg ausgetauscht und das System bis ins kleinste Detail erklärt. Er hofft, dass weniger Menschen auf die Masche hereinfallen, wenn Journalistinnen über den Betrug berichten.

Der Insider ist Ende 20 und spricht fliessend Deutsch. Er fährt ein gewöhnliches Auto und sagt, seit der Erfahrung im Callcenter mache er sich nicht mehr viel aus Geld.

Früher war das anders. Er wollte endlich unabhängig von seinem Vater werden, den er als sehr dominant beschreibt. Wenn der Sohn für den Familien­betrieb schuftete, bekam er dafür keinen Lohn. Als er auszog, sagte sein Vater zu ihm: «Du wirst eines Tages zurück­kehren und bei mir betteln.» Der Insider schwor sich, dass das niemals passieren würde. Er ging auf Jobsuche.

«Ich habe einfach im Internet nach Annoncen für Callcenter gesucht, den Chef angerufen und gefragt, ob ich vorbeischauen kann», erzählt er. Die Arbeit­geber seien diskret gewesen: «Am Anfang erzählen sie dir überhaupt nichts. Sie sagen nur: ‹Du wirst kommen und du hörst einfach zu, was die anderen reden.›»

Der Blick in ein Callcenter, gegen das die Polizei ermittelt.

Zuerst arbeitet er in der Conversion-Abteilung, der ersten Stufe. Dort gibt es pro Nummer 5 bis 20 Euro Bonus. Im ersten Monat liefert er den «Brokern» 10 neue Kunden und bekommt 1000 Euro Gehalt. Im zweiten Monat telefoniert er bis in die Nacht hinein. Er schafft 69 Verträge und verdient 2000 Euro. «Ich war nur noch am Telefonieren. Ich dachte nur noch an das Geld und daran, dass ich noch härter arbeiten muss», sagt er.

Im dritten Monat wurde er «auserwählt», wie er sagt. Er beginnt in der Retention-Abteilung zu arbeiten. Die Menschen, die dort arbeiten, seien anders, sagt er: «Als ob sie keine Seele hätten.»

«Habt ihr den Film ‹The Wolf of Wall Street› gesehen?», fragen die Chefs im Training. «So ist es auch hier. Wenn die Kunden verlieren, dann verdient ihr.»

An seinen ersten Kunden erinnert er sich bis heute. «Sein Sohn war 18 Jahre alt und hat auch investiert, aber auf einmal waren sie im Mega-Tief», erzählt er. Die Chefs sagen: «Super, nimm mehr Geld von denen.»

Im ersten Monat in der Retention-Abteilung sammelt der Insider 50’000 Euro von verschiedenen Kunden. Davon bekommt er 7 Prozent. Die meisten Kundinnen sind älter als 50 Jahre und freundlich. Sie halten ihn für einen Profi, der viel vom Finanzmarkt versteht. Sie fragen ihn, wie seine Woche war, sie respektieren ihn.

Doch der Insider fühlt sich von Tag zu Tag schlechter.

Sein Vater habe ihn schliesslich dazu gebracht, auszusteigen. Denn: «Mein Vater glaubt an Gott. Und an harte Arbeit.»

Heute sagt er: «Ich bereue jeden Cent, den ich genommen habe. Es gibt ein paar Personen, deren Namen ich nicht vergessen habe. Ich habe von ihnen geträumt. Ich wünschte, ich könnte sie treffen und ihnen das Geld zurückgeben.»

Das Geld an die Opfer auszahlen: Genau das ist jetzt die Aufgabe der Behörden in Tirana. Die Republik hat den zuständigen Staatsanwalt Eneid Nakuçi zum Interview getroffen und ihn gefragt: «Werden die Opfer jemals ihr Geld zurückbekommen?»

«Das hängt von den Finanz­ermittlungen ab», sagt Nakuçi. «Wir haben Geld eingefroren, und wir werden unser Bestes tun, es den Opfern auszuzahlen.»

Aber wie meistens beim Cybertrading sind die Schadens­summen sehr hoch. Allein Lorenz Krüger hat 160’000 Euro verloren. Wie viele weitere Opfer betroffen sind, ist schwierig herauszufinden. In Deutschland führt die Kriminal­polizei Bayreuth die Ermittlungen, gibt sich gegenüber Medien­anfragen aber bedeckt. Die Republik hat einen schriftlichen Fragen­katalog geschickt, der nicht beantwortet wurde, weil die Ermittlungen laufen.

Doch eine Quelle in der Polizei hat die Zahlen für die Republik aus dem System gefiltert: Demzufolge liegen allein in Bayern rund 37 Anzeigen gegen Brokerz vor. Diese Geschädigten haben zusammengerechnet 2 Millionen Euro verloren. Der kleinste Verlust liegt bei 250 Euro, der grösste bei einer Million. Und das ist nur der Schaden, den eine einzige Plattform verursacht haben soll – in einem einzigen Bundesland.

Dazu kommt: Die Betrüger parkieren ihr Geld nicht auf einem Girokonto. Das weiss Vjoldi Danaj, ein albanischer Wirtschafts­experte und Unternehmens­berater. Er vermutet, dass ein Teil des Geldes in der albanischen Baubranche gewaschen wird. Auf diese Weise lassen sich illegal erwirtschaftete Vermögens­werte wieder dem Finanz­kreislauf zuführen. Der informelle Sektor in Albanien ist gross – das heisst der Teil der Volks­wirtschaft, der nicht in offiziellen Statistiken erfasst wird. Laut Angaben der Zentralbank umfasst er 35 Prozent der Gesamtwirtschaft.

Danaj schätzt, dass 10 Prozent dieses informellen Sektors illegale Callcenter betreffen. Stimmt diese Zahl, dann nehmen diese Betrüger ähnlich viel ein wie die Drogenmafia.

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Das geklaute Geld aus dem Callcenter-Business fliesst laut Danaj über verschiedene Wege nach Albanien: «Über Krypto­währungen. Über Schwarzgeld und über Offshore-Firmen, die in Albaniens Immobilien­markt investieren.» Dass in Albanien viel gebaut wird, ist unübersehbar – und unüberhörbar. Überall rattern Pressluft­hämmer, werden alte Ziegelstein­häuser abgerissen oder brachliegende Parkplätze in Tiefgaragen und Shopping­center verwandelt.

7 Prozent der Arbeitskräfte im Land arbeiten auf Baustellen, insgesamt rund 82’000 Menschen. Laut der «Global Initiative against Transnational Organized Crime», einer Nichtregierungs­organisation mit Sitz in der Schweiz, werden in Albanien jedes Jahr bis zu 500 Millionen Euro im Bausektor gewaschen. Nirgendwo ist der Boom so sichtbar wie in der Hauptstadt Tirana. Rund 60 Prozent der Neubauten wurden mit Geld aus dem informellen Sektor errichtet.

Im Januar 2021 wurden Telefon­mitschnitte der italienischen Anti-Mafia-Behörde öffentlich, die zeigen, dass Clan­mitglieder der kalabrischen Mafia interessiert waren, in Albaniens Bauwirtschaft zu investieren. «Aus den telefonischen Abhörungen geht der Verdacht auf Verbindungen zu hochrangigen Beamten der Gemeinde Tirana und der aktuellen Regierung hervor», schreibt die Schweizer Botschaft in einem Bericht.

Albanien habe gar kein Interesse, die illegale Callcenter-Industrie zu bekämpfen, glaubt der Wirtschafts­experte Danaj: «Sie bringt Geld ins Land und kurbelt den Konsum an.» Er beschreibt das Phänomen als ein Katz-und-Maus-Spiel: Die Polizei wirft ein paar Personen ins Gefängnis, aber in der Zwischenzeit entstehen zig neue Plattformen.

Der Cyber-Cop

Hergis Jica will, dass das aufhört. Seit 2020 ist er der Chef der Abteilung C, der Cybercrime-Unit in der Polizei Albaniens. Er war es, der Blue Energy Call stürmen liess. Und er geht weiter gegen betrügerische Callcenter vor, zuletzt bei einer gross angelegten Razzia im Dezember 2022, gemeinsam mit Nino Goldbeck, dem Staatsanwalt aus Bamberg, der das gleiche Ziel hat wie er.

Jica weiss, dass die Szene der Callcenter-Betrüger ihn hasst. Fragt man ihn, ob er Angst hat, zieht er eine Kette unter seinem T-Shirt hervor, an der ein Kreuz baumelt, und sagt: «Ich hoffe, dass Gott mit mir ist.»

Hauptkommissar Hergis Jica, Leiter der Cyber­einheit in Albanien.

Es ist Ende November, als Jica in einem Flugzeug in Richtung Brüssel sitzt. Das, was jetzt kommt, klingt ein bisschen verrückt, ist aber genau so geschehen. Hergis Jica steigt also ins Flugzeug und setzt sich genau auf den Platz neben der Autorin dieses Texts – nachdem sie zuvor monatelang versucht hat, Jica in einem ruhigen Moment in Tirana abzufangen und zum Interview zu treffen. Reporterinnen-Glück nennt man das.

Jica trägt eine abgewetzte Lederjacke und spielt Tetris auf seinem Smartphone. Man sieht ihm nicht an, dass er auf dem Weg nach Brüssel ist, weil er als Experte in die EU-Beitritts­gespräche Albaniens eingebunden ist. Das Flugzeug hebt ab, und Jica lehnt sich zurück.

Fragt man ihn, warum er sich den Job trotz Drohungen antue, meint er: «Mein Herz sagt mir, dass es richtig ist. Ich muss es tun.» Doch auch er sei in einem Kreislauf gefangen. Cybertrading ist wie ein Hamsterrad. Opfer und Täter wollen immer mehr Geld und befeuern sich gegenseitig. Und so hört das Spiel nie auf, egal wie früh Finanzmarkt­aufsichten warnen, und egal wie oft Ermittlerinnen Grossraum­büros stürmen.

Zum Rechercheprojekt und zu den Autorinnen

Franziska Tschinderle, geboren 1994, ist Journalistin, schreibt schwerpunkt­mässig zum Balkan und lebt in Tirana.

Ilir Tsouko, geboren 1990, ist ein visueller Storyteller und lebt zwischen Tirana und Berlin.

Vjosa Çerkini, geboren 1993, ist eine Journalistin aus Pristina und arbeitet unter anderem für die Deutsche Welle (DW).

Juli Ristani, geboren 1976, ist eine investigative Journalistin aus Albanien und arbeitet für den TV-Sender Top Channel in Tirana.

Apostolis Giotopoulos, geboren 1985, ist ein Filmemacher und Video­editor aus Griechenland.

Diese Recherche wurde vom Förder­programm «Investigative Journalism for Europe» (IJ4EU) mitfinanziert. Das Programm zielt darauf ab, grenz­überschreitende Geschichten in mehreren Ländern und Sprachen zu publizieren.

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Als ob sie keine Seele hätten

Bonus-Folge

Podcast zur Callcenter-Recherche: Wo findet man die Be­trugs­op­fer?