Peter Weibel: «Ich glaube, dass wir Energie erzeugen.»

«Lieber Gott, lass mich schneller reden, schneller denken, schneller schreiben»

Anfang Februar sprachen wir mit dem Medien­philosophen und Künstler Peter Weibel über sein Erbe – und seine Zukunfts­pläne. Nun muss das Interview postum erscheinen. Er starb in der vergangenen Woche mit 78 Jahren.

Von Antje Stahl (Text) und Anna Ziegler (Bilder), 08.03.2023

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Vorgelesen von Egon Fässler
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Vor ziemlich genau vier Wochen traf ich Peter Weibel im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien (ZKM), um gemeinsam mit ihm, dem Universal­gelehrten, der sich bereits um Tech-Avantgardistinnen kümmerte, als in vielen Museen nur Gemälde an Wänden hingen und Skulpturen auf Sockeln standen, die vergangenen Jahrzehnte Revue passieren zu lassen.

Fast ein Viertel­jahrhundert lang hatte er als Direktor des ZKM gearbeitet, und all seine Freunde aus der internationalen Kunst­szene bereiteten Abschieds­geschenke und Reden für die grosse Party vor, die anlässlich seiner letzten Ausstellung «Renaissance 3.0» veranstaltet werden sollte. Allerdings hatte Peter Weibel, der Mathematik studierte und bereits zu Zeiten der Studenten­unruhen als Künstler auf die Barrikaden gegen die Staats­macht zog, keineswegs vor, sich nun in die Renten­stille zurück­zuziehen.

«Ich lebe ja nur, weil ich noch Projekte habe. Und die wichtigsten liegen noch vor mir. Wirklich. Also muss ich einfach noch leben», sagte er bei unserem Gespräch. Im Anschluss besuchte ihn unsere Fotografin – und wir tauschten E-Mails zur schriftlichen Fassung dieses Interviews aus. Dann plötzlich kam vom ZKM die Nachricht, dass er krank geworden, und am vergangenen Donnerstag, dass er gestorben sei. Gerade hatte ich eine Einleitung geschrieben, in der er seinen Latte macchiato mit extra Caramel bei einer Mitarbeiterin bestellt.

Am Wochenende erschienen dann auf allen möglichen Kanälen Nachrufe: Man könne sich ihn als «jugendlichen Helden aus Peter Weiss’ ‹Ästhetik des Widerstands›» vorstellen, der «mithilfe von Medien gegen vermeintlich unüberwindliche Grenzen zu opponieren» wusste. Mir persönlich begegnete Peter Weibel wie ein väterlicher Techie, dessen Verstand und dessen Herz im Einklang miteinander sind. Aber lassen wir ihn für sich selbst sprechen.

Herr Professor Peter Weibel, ist es okay, wenn ich Sie einen alten Hasen nenne?
Ja. Ja. Fast Achtzig­jährige darf man durchaus als alte Hasen bezeichnen.

Viele lernen Sie ja bis heute auf allen vieren kennen: Im Februar 1968 führte Sie die Künstlerin Valie Export, Ihre damalige Freundin, an einer Hunde­leine durch die Strassen von Wien spazieren. Wie kam es noch mal dazu?
Ich war damals ein scharfer Kritiker des Regimes der Repräsentation – also der Bilder – und habe versucht, dieses Regime durch die Realität zu ersetzen. Es wurde von allen toleriert, dass auf der Leinwand, in Trick­filmen von Walt Disney, Tiere wie Menschen sprechen. Ich wollte sehen, was passiert, wenn ich das in die Wirklichkeit überführe, also den Übergang von einer ontologischen Stufe zur anderen wähle. Diese Gedanken zum expanded cinema führten dann zu einer weiteren Aktion, die ich ebenfalls mit Valie Export gemacht habe: das «Tapp- und Tastkino» …

Peter Weibel auf allen vieren: «Aus der Mappe der Hundigkeit», 1968. Joseph Tandl/Valie Export/2023, ProLitteris, Zurich

… das aus einem Papp­karton mit einem vorne angebrachten Vorhang bestand, der vor Exports nackte Brüste geschnallt war. Sie standen neben ihr auf der Strasse in München und forderten Passanten auf, hinein­zugrapschen.
Damals gab es so einen Busen-Fetischismus. Es wurde ja sogar von Atom­busen gesprochen. Abartig. Diesem Voyeurismus und dieser Fixierung auf die Bilder wollte ich in der Realität begegnen. Neben dieser Kritik am Kino beschäftigte ich mich ausserdem mit dem «aufrechten Gang». Das ist ein Slogan von Ernst Bloch, der für mich tief in der Ideen­geschichte verankert ist. Bei Johann Gottfried Herder gibt es eine Passage darüber, wie im aufrechten Gang die Pfoten zu Händen wurden und wir mit diesen ersten Werkzeugen den «Ausstieg aus der Schöpfung» bewältigten. Und ich teile diese Meinung: Mit der Fähigkeit, eigene Werkzeuge herzustellen, haben wir uns vom Diktat der Evolution befreit.

Wie meinen Sie das?
Wenn man sich vorstellt, im Leben vor Jahrtausenden von Jahren schossen Kometen hin und her, es blitzte und donnerte, und dann sind die Menschen auf die animistische Idee gekommen, über uns seien Geister und sie könnten diese besänftigen durch Opfer­gaben. Das war eine Katastrophe und sozusagen der falsche Ansatz. Wir können die Natur steuern – durch einen Blitz­ableiter – und uns durch technische Erfindungen schützen.

Und als Sie sich auf allen vieren durch Wien führen liessen …
… wollte ich zeigen: Wir leben noch nicht im Zeit­alter des aufrechten Gangs, sondern in einer enorm repressiven Zeit, ganz besonders in Österreich. Lehrer und Minister waren noch Faschisten und Kriegs­verbrecher. In der Kirche wurden damals Flug­blätter verteilt. Die hiessen «Aus der Mappe der Menschlichkeit».

Die Sie dann die «Mappe der Hundigkeit» nannten.
Von der Menschlichkeit waren wir ja weit entfernt. Wir waren noch eher im Bereich der Tiere.

«Sie wollten mir verbieten, drei Professuren gleichzeitig zu besetzen.»

In München griffen einige Passanten ja dann auch in den Papp­karton und Valie Export an die Brüste. War das ein Heiden­spass oder eher schrecklich?
Aktionen wurden oft in einer Galerie oder in einer anderen Institution als Kunst­aktion angekündigt. Ich verliess diesen Schutz­raum und wollte die Zonen der Öffentlichkeit und der Intim­sphäre auf der Strasse verschränken. Das war für mich kein Spass, sondern eine Freiheits­behauptung. Mich hat schon immer irritiert, dass Sexualität desavouiert wurde. Wenn eine Hand aus dem Ärmel heraus­schaut, sagt kein Mensch etwas, wenn aber ein Glied aus der Hose guckt, schauen alle entsetzt auf. Wir wollten zeigen, dass wir diese Tabu­zonen, Scham- und Ekel­grenzen nicht kennen und dass sie ein Individuum einschränken, sozusagen einsperren.

Sie waren auch Wegbegleiter von Otto Muehl und Hermann Nitsch und haben den Begriff «Wiener Aktionismus» geprägt. Welcher Auftritt ist Ihnen im Gedächtnis geblieben?
Unsere Aktion «Kunst und Revolution» im Juni 1968 an der Universität Wien war die spektakulärste.

Sie besetzten damals im Namen des sozialistischen österreichischen Studenten­bunds das neue Instituts­gebäude, um einer «staats­erhaltenden Kunst» eine Kunst entgegen­zuhalten, «die Politik ist». Die National­flagge kam dabei nicht so gut weg.
Für jede Aktion gab es eine Choreografie, die festlegte, wer wann auf die Bühne kommt. Während Oswald Wiener und ich noch unsere Parteireden schwangen – ich mit flammendem Handschuh –, war das Publikum jedoch schon so erregt, dass alle Angst bekamen, sie würden nicht mehr drankommen. Günter Brus hat sich dann schon ausgezogen, defäkiert und onaniert, Muehl trat mit seinen Masochisten auf, und ein anderer Trupp befriedigte sich mit Bier­flaschen. Der sozialistische Studenten­bund wusste, was die Wiener Aktionisten machten, und wollte sie eigentlich nicht dabeihaben. Aber Oswald Wiener und ich sagten: Bei jedem Partei­tag gibt es ein Unterhaltungs­programm – und unsere Künstler greifen auch den Staat an. Nur nicht mit verbalen Mitteln, sondern mit körperlichen Mitteln. Es war ein Riesen­medienskandal. Der Polizei­präsident sagte später, er werde diese Leute persönlich verhaften. Es kursierten damals alle möglichen Fotos, auch Studierende wurden für die Ferkel beziehungsweise «Kakademiker» gehalten.

Otto Muehl gründete Anfang der 1970er-Jahre eine Kommune im österreichischen Burgenland, in der Kinder missbraucht wurden. Hatten Sie damals nie den Eindruck, zu einem Männer­bund zu gehören, der vorgibt, die unterdrückten Triebe der bürgerlichen Nachkriegs­gesellschaft zu entfesseln, am Ende aber nur die eigenen Gewalt­fantasien auslebt und künstlerisch legitimiert?
Ich kann die Skepsis durchaus teilen. Als Muehl seine Kommune gründete, begann die Verdunklung. Ganz am Anfang war der Wiener Aktionismus allerdings interessant. Er hat sich dem Problem des Körpers gestellt. Und zwar nicht in der Abbildung. Wir erhoben den Körper zur Kunst­form und griffen damit das Monopol des Staates und der Medien an, über die Wirklichkeit zu bestimmen. Österreich stilisierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer, Nitsch beschmutzte sich stellvertretend für das Land der Täter mit Blut. Und diese Selbst­besudelung hat mir noch gut gefallen. Selbst seinem Mystizismus gegenüber den Gedärmen konnte ich noch etwas abgewinnen. Jackson Pollocks Gekräusel-Bilder zeigen ja letztlich nichts anderes. Im Gegensatz zu ihm fasste Nitsch die Innereien allerdings tatsächlich an. Diese Phase, die für mich noch künstlerisch war, faszinierte mich. Leider hatten viele damals nur vage Ahnungen von Wilhelm Reich und Sigmund Freud – vieles wurde zu Ideologien verzerrt. Von Muehl habe ich mich nicht zuletzt anlässlich einer Ausstellung seiner Werke in einem Text über das Verhältnis von «Geschlecht und Gewalt» distanziert.

Diese Ausstellung im Frankfurter Portikus fand allerdings erst viel später statt, im Jahr 1992, als Otto Muehl bereits verurteilt worden war und in Haft sass.
Ja, aber ich war schon vorher kritisch. Auch wenn ich anfangs nicht gemerkt habe, dass es den anderen in diesem ganzen Affen­theater um die Befreiung ihrer eigenen sexuellen Triebe ging. Sie kamen von der Malerei und waren mir visuell überlegen. Ich kam von den Medien und wollte mich mithilfe der Technik vom Körper befreien. Ich habe eine kleine Maschine gebaut mit einem Stein. Und abhängig davon, wie viel Gas zugeführt wurde, fing der Stein an zu stöhnen. Das Stöhnen ist ja die menschliche Stimme schlechthin, wurde damals aber als «Erregung öffentlichen Ärgernisses» empfunden. Die Polizei verhaftete mich jedenfalls.

Das würde heute wohl nicht mehr passieren. Die Sitten ändern sich, Sie beurteilen den Wiener Aktionismus von damals heute wahrscheinlich auch noch einmal anders?
Der Ossi Wiener hat neulich mal wieder gesagt, also bevor er gestorben ist: «Das war ein Aufstand mit untauglichen Mitteln.» Anna Freud hat ein Buch über die Abwehr­mechanismen des Ichs verfasst. Aus heutiger Sicht würde ich vieles von damals als die von ihr beschriebene «Reaktions­bildung» einstufen. Man hat die österreichischen Konflikte und die eigenen nicht durch­gearbeitet. Die patriarchale Macht wurde angegriffen, ohne die eigene männliche Vormacht­stellung und das gewalttätige Geschlechts­denken zu reflektieren.

Max Frisch würde nun vielleicht fragen: «Was, meinen Sie, nimmt man Ihnen übel und was nehmen Sie selbst übel, und wenn es nicht dieselbe Sache ist: Wofür bitten Sie eher um Verzeihung?»
Also, wenn ich in einer gutbürgerlichen Familie aufgewachsen wäre, wäre ich nur Natur­wissenschaftler gewesen. Ich bin als Heimkind beziehungs­weise bei Pflege­eltern aufgewachsen, und da wird man so zornig und sieht so viel Unrecht, dass ich – leider ja – eine ungeheure Sehn­sucht nach Gerechtigkeit entwickelt habe. Anfang der 1970er-Jahre hatte ich so viele Prozesse am Hals, dass ich wusste: Wenn ich jetzt mit meinen Aktionen nicht aufhöre, ende ich im Irren­haus oder im Gefängnis. Aber das war mir der Staat nicht wert, und ich habe mich dann auf Mathematik, Logik und Computer konzentriert. Trotzdem habe ich viel Zeit verloren durch Rebellionen und Angriffe, und ich bin mir heute nicht sicher, ob sich das gelohnt hat. Mir wäre lieber gewesen, ich hätte eine Familie gehabt und mich erholen können.

(Er schweigt kurz.)

Mit dreizehn Jahren wollte ich von der Haupt­schule aufs Gymnasium wechseln, weil ich mich langweilte. Die Fürsorge wollte mir das nicht zugestehen und die Schule mich zurück­stufen, aber ich wehrte mich dagegen und holte Latein, Griechisch und so weiter in den Ferien nach. Allerdings lebte ich in diesen Ferien bei Pflege­eltern und musste für diese arbeiten. Ich habe es trotzdem durch­gesetzt, ich musste nur immer wahnsinnig kämpfen für das, was andere geschenkt bekamen. Mit siebzehn Jahren arbeitete ich den Sommer über in Schweden am Tag in der Fabrik, am Abend als Abwischer im Spital und in der Nacht reinigte ich Hotel­flure. Später wollten sie mir verbieten, drei Professuren gleich­zeitig zu besetzen, in Kassel, Wien und New York. Da habe ich gesagt, das ist lächerlich verglichen mit dem, was ich als Jugendlicher geleistet habe.

Versucht Weibel, seinen persönlichen Schmerz wenigstens theoretisch zu überwinden?

Wenn Sie ein gutbürgerliches Leben geführt hätten, wären Sie 1999 vielleicht nicht Direktor des Zentrums für Kunst und Medien geworden. Was war im Rückblick Ihre wichtigste Ausstellung?
Ich habe 1996 eine Ausstellung und eine Konferenz gemacht über «Inklusion und Exklusion» – es war der «Versuch einer neuen Kartographie der Kunst im Zeitalter von Post­kolonialismus und globaler Migration». Es war schon damals klar, dass bestimmte symbolische Prozesse umgeschrieben werden. Kunst, wie wir sie kannten, war eine westliche Erfindung, die bestimmte kulturelle Artefakte als Museums­ware akzeptierte und andere in sogenannte Häuser der Kulturen oder ethnologische Museen abschob. Künstler wie Rasheed Araeen, geboren 1935 in Karachi, waren nach London gezogen – ins Zentrum der einstigen Kolonial­herren. Ihre Kunst verstand ich immer als wegweisend für die kulturellen Umschreibe­programme, in deren Verlauf dann irgendwann jemand wie Sadiq Khan zum Bürger­meister von London gewählt wird.

2002 kuratierte der in Nigeria geborene Okwui Enwezor dann die «erste wirklich globale, postkoloniale Documenta» in Kassel.
Ja, er sass 1996 bei unserer Konferenz im Publikum und soll die Publikation, die daraus entstanden ist, immer auf seinem Schreib­tisch liegen gehabt haben.

Enwezors Documenta war auch der Versuch, die Kunst­szene zu dezentralisieren – er schuf sogenannte Platt­formen in Delhi und Lagos, um andere «Wissens­systeme» zu erschliessen. Im ZKM erforschten Sie gemeinsam mit dem Bild­wissenschaftler Hans Belting ab 2006 dann über zehn Jahre eine «Global Art».
Belting hat sich von diesen Projekten inspirieren lassen und wollte heraus­finden, wann und wo der Begriff «global» in der Kunst aufgetaucht ist. Es erschienen ja Kunst­magazine wie «Art in America» mit einem Titel wie «Global Issue» (im Juli 1989, also noch vor dem Fall der Mauer; Anm. d. Red.).

Schon damals erkannten Künstler, dass Kultur unter dem Eindruck der Globalisierung niemals in einem Macht­vakuum entsteht.
Mir fiel damals auf, dass viele Künstler mit Stoff arbeiteten und Installationen beispielsweise mit diesen Stoff­säcken gemacht haben, die Migranten als Reise­taschen nutzen. Ich habe versucht, diese globalen Bewegungen theoretisch zu erschliessen. Hans prägte dann den Begriff des «global contemporary», weil er davon ausging, dass sowohl die Moderne als auch die Post­moderne zugunsten einer totalen Zeit­genossenschaft über­wunden würden und die ganze Welt im Zustand des globalen Austausches sei.

Stimmen Sie dieser Analyse zu?
Für die Kultur gilt dasselbe wie für die Natur­wissenschaften: Modelle ändern sich, zwei unterschiedliche können gleichzeitig neben­einander bestehen und später als überholt gelten. Es gibt de facto bis heute nicht eingelöste Umschreibe­programme. Nehmen Sie Jackson Pollock. Es ist bekannt, dass er mit mexikanischen Künstlern zusammen­arbeitete, die wiederum von indigenen Künstlern inspiriert waren, die auf dem Boden malten. Später wird dann behauptet, Pollock habe das Action-Painting erfunden, also den Malakt über einer Leinwand, die auf dem Boden liegt. Er wird als sogenannter moderner Künstler bezeichnet, der mit der Technik von sogenannten Primitiven arbeitet, als ob es keine anderen Kategorien gäbe. Das sind Konflikte, die wir bis heute austragen. Wir erleben gerade in den letzten zehn Jahren einen sehr starken Umschreibe­prozess. Etwas, das nie und nimmer als Kunst akzeptiert worden ist, zieht in die Museen ein: Die Kunst erscheint im Augenblick wie eine NGO, die Aufgaben erfüllt, die eigentlich der Politik zugeschrieben werden.

«Damals gab es so einen Busen-Fetischismus»: Peter Weibel und Valie Export mit ihrem «Tapp- und Tastkino» 1968. Valie Export/2023, ProLitteris, Zurich

Sie sprechen von der Documenta fifteen, für die das indonesische Kollektiv Ruangrupa keine Unterscheidung zwischen politischem Aktivismus und Kunst gestattete?
Walter Benjamin hat schon seinerzeit gesagt: Die Faschisten haben die Politik ästhetisiert und die Kommunisten politisieren die Kunst. Letzteres beherrscht unsere Gegenwart. Kunst und Kultur werden auf Grundlage neuer Bedürfnisse umgeschrieben.

Bazon Brock kritisierte die Documenta heftig. Die Gross­ausstellung spiegele die gegenwärtige Situation der Welt, «also des Untergangs des Westens und des Aufgangs des Ostens» – das kommunistische Kollektiv schaffe die Freiheit des Einzelnen ab. Teilen Sie diese Meinung?
Nein. Das, was heute passiert, ist ja schon ganz lange angelegt. Ich kann mir gut vorstellen, dass Politiker Kunst sehen möchten und nicht das Theater, das sie den ganzen Tag ohnehin verhandeln. Die Documenta wurde als grosser Affront gesehen gegen das westliche Kunst­modell. Es gibt allerdings gute Gründe dafür, dass die Kunst sich der politischen Sache annimmt und diese umschreibt. Die Gesellschaft muss sich ändern, und die Kunst leistet ihren Beitrag.

Hans Belting wurde kürzlich in Berlin beerdigt.
Ja, ich konnte aus profanen Gründen leider nicht an der Trauer­feier teilnehmen. Ich habe zu viele Termine im Moment. Wir haben bis zum Schluss telefoniert.

Es ist der zweite Abschied von einem lang­jährigen Kollegen in kürzester Zeit. Ihr Bruder im Geiste, Bruno Latour, mit dem Sie sogenannte Gedanken­ausstellungen realisierten, verstarb im Oktober vergangenen Jahres. Woran erinnern Sie sich am liebsten, wenn Sie an ihn denken?
An seinen Enthusiasmus. Seine Angst­freiheit beziehungsweise seine Freiheit im Denken haben mich auch sehr beeindruckt. Kurz vor seinem Tod hat er mir einen sehr schönen langen Brief geschrieben, in dem er sagte, wenn jemand sein Bruder sei, dann sei ich das. Wir haben gemeinsam Gedanken­experimente gemacht, auch wenn wir gegen­sätzliche Ansichten hatten. Er war ikonophil, ich war Ikonoklast, aber wir teilten das Interesse an Bildern – und die Sorge um die Demokratie. Er plädierte bekanntlich für das Parlament der Dinge, für Zusammen­künfte, bei denen beispielsweise einem Fluss eine Stimme gegeben wird, wir Insekten oder Muscheln einbeziehen, die in ihrem Verhalten ja zeigen, ob der Fluss gesund oder krank ist.

Sie wurden 1944 in Odessa geboren – und gehören zu den Erst­unterzeichnern eines offenen Briefes an den deutschen Bundes­kanzler Olaf Scholz, der keine weiteren Waffen­lieferungen an die Ukraine fordert. Verbindet Sie noch etwas mit Ihrem Geburtsort?
Und nun habe ich auch das «Manifest für Frieden» unterschrieben. Ich war nach meiner Geburt ja nur zwei, drei Wochen in Odessa. Meine Mutter, eine Deutsch­russin, musste 1944 fliehen, und wir landeten nach einer langen Odyssee durch Europa für Jahre in einem amerikanischen Flüchtlings­lager in Ober­österreich.

Wieso wuchsen Sie in einem Heim und bei Pflege­eltern auf?
Meine Mutter hatte einen Job bei reichen Leuten gefunden – Stiefel putzen –, und diese duldeten keine Kinder. Wenn sie krank wurde, stand ich als Kind manchmal alleine nachts auf der Strasse und weckte das Interesse von Fürsorge­einrichtungen. Sie nahmen mich meiner Mutter weg und steckten mich in Heime.

Und warum sind Sie gegen Waffen­lieferungen an die Ukraine?
Russland opferte in diesem Krieg, in dem wir vertrieben wurden, allein eine Million Menschen­leben in Stalingrad. Die Geschichte zeigt uns, dass dieses Land nicht aufhören wird – und dass es seit Jahr­hunderten territoriale Grenz­verschiebungen gibt. Deutschlands Staats­gebiet erstreckte sich einst nach Ostpreussen über Danzig bis nach Königs­berg, heute gehören diese Städte zu Polen und Russland. In einem Briefwechsel zwischen Einstein und Freud wird das Prinzip der Souveränität zu Recht grundsätzlich infrage gestellt. In ihrem Namen sollten niemals Menschen­leben geopfert werden. Ich halte eine pazifistische Lösung deshalb für die angemessene.

Peter Weibel als Figur auf seinem Schreibtisch …
… im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien.

Sind im Museum zum Ausdruck gebrachte Hoffnungen auf eine bessere Zukunft da überhaupt noch zeitgemäss?
Es gibt zwei Punkte, die uns optimistisch stimmen können. James Lovelock hat am Ende seines Lebens noch ein Buch über das Novozän verfasst, in dem er sich für die künstliche Intelligenz ausspricht. Bruno Latour kommentierte meine Euphorie dafür mit den Worten: «Peter, aber er ist ein alter Mann.» Das heisst, er hat Lovelock ausgelacht, so wie es die Leute damals schon taten, als er erstmals über Gaia sprach, die griechische Göttin der Erde, mithilfe deren wir unseren Planeten endlich als lebenden Organismus zu begreifen lernten. Zudem realisiert sich nun die Fern­gesellschaft. Oder zumindest scheinen die Leute während der Pandemie endlich begriffen zu haben, dass ihre Körper nicht mehr reisen müssen, um miteinander zu kommunizieren. Woran erinnern wir uns, wenn wir an diese Zeit zurück­denken? An einen Bildschirm, in dem zahlreiche Köpfe in kleinen Fenstern stecken. Die Botschaft hat sich vom Boten getrennt, der Gebrauch der Technik könnte das Ende des globalen Massen­verkehrs sein, der ja überhaupt erst die Grund­lage geschaffen hat für die Ausbreitung des Virus – und den Klima­wandel, die Zerstörung unseres Planeten.

Zu Beginn unseres Gesprächs sagten Sie, Sie wollten sich mithilfe der Technik von Ihrem Körper befreien. Die von uns allen geforderte «social distance» machte Sie also glücklich?
Die symbolische Sprache ist menschlicher als die körperliche in der Nah­kommunikation.

Warum?
Tiere verfügen nicht über eine symbolische Sprache, wir haben die Tele­kommunikation und den Zeichen­apparat erfunden. Es ist allein den Menschen vorbehalten, über Dinge und Ereignisse zu sprechen, zu lesen oder nach­zudenken, die nicht da sind, die vielleicht sogar erst kommen werden. Wir können das Gefängnis des Hier und Jetzt verlassen – die Bilder, das Radio, der Fernseher, diese technischen Errungen­schaften waren erst der Anfang. Und diese Befreiung von der Nah­kommunikation geht ja schon bei Kindern los. Haben Sie ein Kind?

Ja.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, als Klein­kind liege ich da und schreie vollkommen hilflos und brülle wie so ein Trottel, bis endlich jemand kommt. Diese Abhängigkeit wird durch eine Reihe von Symbolen abgeschafft – der Schnuller ersetzt die Brust der Mama, der Teddy schenkt Nähe beim Einschlafen. Und erst wenn ich solche Formen der symbolischen Anwesenheit auf- und ausbaue, kann ich erwachsen werden und letztlich unser aller Freiheits­grade steigern. Wir können uns dann bewegen, ohne Angst zu haben, etwas zu verlieren.

Herr Weibel, ich hoffe, ich darf jetzt so direkt sein. Aber mit Rücksicht auf Ihren unerfüllten Wunsch nach einer bürgerlichen Familie und Ihre Einsamkeit im Heim und im Schul­wesen bekommt man den Eindruck, Sie versuchten, Ihren persönlichen Schmerz wenigstens theoretisch zu überwinden.
Es kann sein, dass ich meine Erfahrungen, dass ich keine Nähe hatte und auch keine eingegangen bin, nun in etwas Positives umwandle. Aber das bedeutet nicht, dass ich unrecht habe. Man braucht keine Nähe zu anderen Körpern, um Befriedigung zu erlangen, das beweist nicht zuletzt das schmutzige Beispiel der Porno­industrie, wenn Sie es gestatten, eine Distanz­industrie, die zu den umsatz­stärksten des gesamten Internets zählt. Und nicht die Medizin hat Stephen Hawking gerettet, sondern die Technologie. Er hat seinen Körper überwunden. Der Ausstieg aus der Schöpfung, über den wir anfangs sprachen, schreitet in der Fern­gesellschaft voran. Wir müssen nur lernen, die Kommunikation in reinen Zeichen zu geniessen, wie wir das mit Liebes­briefen machen.

«Polizei lügt»: Peter Weibel ergänzt Schriftzüge, ab 1970. Peter Weibel/ZKM Karlsruhe

Im Film «Her» verliebt sich die Haupt­figur Theodore in eine künstliche Intelligenz. Diese technische Errungenschaft darf uns optimistisch stimmen, sagten Sie. Als Direktor des ZKM haben Sie die neuesten Medien­künste erforscht und institutionalisiert. Nutzen Sie AI-Schreib- und Bild­programme wie Chat GPT und Dall-E 2, über die zurzeit alle diskutieren?
Ja. Meine letzte Ausstellung am ZKM schliesst an die arabische und die italienische Renaissance an und heisst «Renaissance 3.0».

«Künstlerische Labor­situationen» werden da gezeigt, für die sich die Kunst die Werkzeuge der Wissenschaft aneignet – «von der Biochemie über Genetic Engineering und Informations­design zu den Neuro­wissenschaften und Unconventional Computing».
Ich habe schon immer davon geschwärmt, dass Rechen­maschinen uns eines Tages entlasten und aus der Misere befreien werden. Zum Beispiel im Schul­wesen. Schüler haben unterschiedliche Lern­geschwindigkeiten, und die schnelleren Köpfe leiden unter den langsameren.

Sie plädieren für KI-Lehrerinnen, die auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen abgestimmt sind?
Das wird kommen, ja, auf jeden Fall.

Würden Sie nun auch lieber mit einer KI das Interview führen?
Nein, nein. Das ist ja keine Frage.

Im Rahmen des Festivals «Driving the Human», das auch vom ZKM getragen wurde, konnte man Proto­typen für eine ökologisch-soziale Wende bestaunen, darunter eine künstliche Intelligenz von Xiaoyu Iris Qu, die von Eichen, Pilzen und Schmetterlingen lernen soll, um eine «kybernetische Sprache der Symbiose» heraus­zubilden. Verstehen Sie das noch?
Ja. Ich bin wie James Lovelock ein Fan von künstlicher Intelligenz – sie könnte uns vor dem Untergang retten.

Auf Ihrem Twitter-Account gibt es nur einen einzigen Tweet, er stammt aus dem Jahr 2009: «selbst noch verloren in der post­modernen Ambivalenz der Unüber­sichtlichkeit». Finden Sie sich in den sozialen Medien nicht zurecht?
Ich lehne sie ab. Das sind Stamm­tische. Nur mit dem Unterschied, dass sie nicht von einer Handvoll Leuten abgehalten werden, sondern von Millionen. Das Niveau allerdings ist das gleiche.

Auf Ihrem Instagram-Account scheint die Zeit ganz stehen geblieben zu sein. Man lernt Sie dort als jungen Künstler­typen der 1960er- und 1970er-Jahre kennen. Nervt Sie, dass Sie Ihre eigene künstlerische Laufbahn gegen eine Karriere im Museums­betrieb aufgegeben haben?
Oh, das ist eine sehr gute Frage. Der Künstler Donald Judd hat einmal gesagt, dass er aufgehört hat, Texte zu schreiben, weil man seine Kunst sonst nicht mehr ernst genommen hätte. Dass ich das nach wie vor tue und sogar kuratiere, ist für meine eigene Kunst eine Katastrophe. Als Kommunist habe ich die Arbeits­teilung in der Kunst immer bekämpft und sie dann selbst bedient. In Wien traf ich auf die Aktionisten, die alle älter waren als ich, aber weniger gebildet. Und als sie mich baten, Vorträge zu halten und Ausstellungs­texte zu schreiben, fühlte ich mich geehrt. Später fragten mich andere, ob ich nicht kuratieren und dann ein Museum leiten könnte. Ich habe nicht gemerkt, wie sehr mir das schadet. Erst – und auch auf die Gefahr hin, dass das eitel klingt – wenn ich tot bin, wird man meine Kunst wieder ernst nehmen, vielleicht auch erst verstehen.

Auf Instagram führt uns nur ein Foto in die Gegenwart: Es zeigt Sie und die Schrift­stellerin Friederike Mayröcker im Wiener Café Korb. Sie haben es kurz nach Mayröckers Tod im Juni 2021 gepostet. Um noch einmal aus Max Frischs Frage­bogen zu zitieren: «Wenn wieder ein Bekannter gestorben ist: Überrascht es Sie, wie selbst­verständlich es Ihnen ist, dass die anderen sterben? Und wenn nicht: Haben Sie dann das Gefühl, dass er Ihnen etwas voraushat?»
Es war relativ selbst­verständlich, dass die anderen vor mir sterben. Ich lebe ja nur, weil ich noch Projekte habe. Und die wichtigsten liegen noch vor mir. Wirklich. Also muss ich einfach noch leben – und bete jeden Tag: Lieber Gott, lass mich schneller reden, schneller denken, schneller schreiben, schneller lesen.

Sie werden im April Ihr Amt im ZKM nieder­legen und zurück nach Wien ziehen. Lassen Sie sich dort wieder an die Leine legen?
Nein. Ich habe zum ersten Mal die Möglichkeit, nur für mich zu arbeiten. Es war ja ein Fehler, sechzig Jahre lang eher die Ideen von anderen verwirklicht zu haben, ich bin da hinein­gerutscht und habe das zu spät entdeckt. Wenn sich die Leute nun bei mir melden, werde ich ihnen sagen, dass ich ihnen nicht mehr helfen kann. Ich kann nur noch für mich arbeiten.

Und was passiert, wenn wir sterben?
Mit dem Energie­erhaltungs­satz geht man ja davon aus, dass das Universum seit dem Urknall immer dieselbe Energie hat.

Einem Atheisten kann das durchaus Hoffnung schenken – nach dem Tod wird er nicht einfach verschwinden.
Ich glaube aber, dass wir Energie erzeugen.

Also zusätzlich? Die Energie steigert sich – quasi durch Ihre Anwesenheit?
Das muss man eben nur beweisen. Wir werden den einfachen Begriff der Gravitation hinter uns lassen. Seit Newton sind wir gewohnt, vieles über die Anziehung zwischen zwei Massen zu erklären. Nun lernen wir, es gibt Gravitations­wellen, also Schwankungen in der Raum­krümmung. Und wenn man das einmal verstanden hat, was schwierig genug ist, dann können wir auch merken, dass sich der Energie­begriff ändert. Dass das Universum expandiert, ist ja gesetzt, und dass es beschleunigt expandiert, auch. Aber dafür braucht es zusätzliche Energie. Und woher soll diese kommen?

Peter Weibel: «Die künstliche Intelligenz könnte uns vor dem Untergang retten.»

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