Der grösste Betrug – Teil 1

Lorenz Krüger, Holzunternehmer in Bayern, ist Opfer von Anlagebetrug im Internet geworden.

Am Ende ist das Geld immer weg

Ein Mann investiert auf einer gefälschten Trading-Plattform im Internet und verliert sein gesamtes Erbe. Hinter dem Raub steht eine skrupellose Industrie, die länder­übergreifend arbeitet und kaum Spuren hinterlässt. «Der grösste Betrug», Teil 1.

Von Franziska Tschinderle (Text und Recherche) und Ilir Tsouko (Recherche und Bilder) sowie Vjosa Çerkini (Vorrecherche), Apostolis Giotopoulos (Animationen und Video­bearbeitung) und Juli Ristani (Recherche), 04.03.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
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Eine Reitkoppel am Rande eines tief verschneiten Waldes in Bayern. «Na, ihr Mäuse, kommt her», sagt Lorenz Krüger, 60, ein kleiner Mann mit Pudel­mütze. Er meint seine Pferde, einen Hengst und eine Stute, Abkömmlinge einer alten arabischen Rasse. Jetzt traben sie durch den Schnee vor seinem Hof, ein idyllisches Bild wie aus dem Inneren einer Schneekugel.

Vor vier Jahren wurde Krügers Welt ordentlich durch­geschüttelt. Sein gesamtes Erbe war von einem Tag auf den anderen weg. Bis heute hält der Holz­unternehmer den Diebstahl vor den Nachbarn geheim, nicht einmal die Lokal­zeitung hat berichtet.

Krüger ist Opfer eines Verbrechens geworden, das Ermittlungs­behörden als einen der grössten Betrugs­fälle in der Geschichte des Internets bezeichnen. «Mir wäre im Bereich der Betrugs­szenarien nichts Vergleichbares bekannt, was in einem solchen Umfang in so vielen Ländern so erhebliche Schäden verursacht», sagt Nino Goldbeck, ein deutscher Staatsanwalt, der seit Jahren gegen die Betrüger vorgeht.

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Der grösste Betrug

Ein Mann hat sein gesamtes Erbe verloren. Wie zahllose andere Menschen ist er auf eine gefälschte Investment-Plattform hereingefallen. Eine Kriminalgeschichte über die dunkle Seite der Digitalisierung und die Jagd nach dem schnellen Geld. Zur Übersicht.

Sie lesen: Teil 1

Am Ende ist das Geld immer weg

Teil 3

Als ob sie keine Seele hätten

Bonus-Folge

Podcast zur Callcenter-Recherche: Wo findet man die Be­trugs­op­fer?

Doch bei den Opfern ist nie jemand zu Hause eingebrochen. Niemand hat ihre Firma gehackt und sie dann erpresst. Sie haben auf keinen Link in einer Phishing­mail geklickt oder wurden Opfer des Enkeltricks, bei dem sich die Täter als nahe Verwandte ausgeben, die in einer Notsituation sind. Alle haben das Geld freiwillig überwiesen und waren über Monate mit dem Dieb in Kontakt.

Sie wurden Opfer von Anlage­betrug im Internet.

In Ermittler­kreisen spricht man von Cyber­trading. Polizei­behörden und Justiz ist das Phänomen erst seit ein paar Jahren bekannt. Die Täter stellen seriös anmutende «Broker» ins Netz, also Anbieter, die den Handel mit Aktien, Forex, Krypto­währungen oder CFDs anbieten. Am Ende ist es aber egal, welches Finanz­produkt zum Einsatz kommt: Das Geld ist immer weg.

Denn die Charts, also die Kurs­verläufe, im Handelskonto werden mittels einer speziell entworfenen Software gesteuert und manipuliert. Die Trading-Plattformen sind nur Fassade, die nichts mit den echten Devisen­märkten oder der Börse zu tun haben. Cyber­trading ist, als würde man einen Lottoschein kaufen, ohne dass es je zu einer Ziehung kommt. Es ist ein Handels­geschäft, das nie stattfindet. Eine Simulation. Je höher die simulierten Gewinne, desto sicherer fühlen sich die Opfer und schiessen immer höhere Summen nach. Dass ihr Geld nie wirklich investiert, sondern in komplexen, weltweit installierten Geldwäsche­netzwerken verteilt wurde, merken sie erst, wenn es zu spät ist.

Hundert­tausende haben in den letzten Jahren ihr Geld verloren – immer weitere kommen dazu. Wie viele es genau sind, kann niemand sagen. Schätzungen zufolge erbeuten die Täter in ganz Europa jedes Jahr zweistellige Milliarden­beträge, ohne dass sie irgendwo einbrechen oder eine Bank überfallen müssen. Die weltweite Schadens­summe übersteigt sogar diejenige des Bilanz­skandals von Wirecard, des grössten Betrugsfalls der deutschen Nachkriegs­geschichte. Doch die verurteilten Banden­mitglieder, um die es in dieser Geschichte gehen wird, bekommen bei weitem nicht die Aufmerksamkeit, die einem Jan Marsalek zuteilwurde, dem flüchtigen Ex-Vorstand von Wirecard. Ihr Fahndungs­plakat hing an keinen Bahnhöfen, und auch sonst scheint sich abgesehen von ein paar speziell geschulten Staats­anwälten und Fintech-Blogs niemand für sie zu interessieren.

Was sind Krypto­währungen, CFDs und Forex?

Krypto­währungen sind digitale Währungen, von denen der Grossteil auf der Blockchain-Technologie basiert. Bei einer Blockchain handelt es sich um eine Art dezentral verteiltes und durch Kryptografie gesichertes, digitales Kassenbuch. Krypto­währungen können sich, im Gegensatz zu anderen Währungen, der Kontrolle von Finanz­institutionen und Regierungen entziehen.

CFD steht für «Contract for Difference», zu Deutsch: Differenz­kontrakte. Dabei handelt es sich um ein hoch­spekulatives, derivatives Finanzprodukt, bei denen Trader auf sinkende oder steigende Kurse von diversen Finanz­produkten wie zum Beispiel Aktien, Krypto­währungen oder Rohstoffen setzen. Vereinfacht gesprochen könnte man von einer Wette sprechen, bei der, üblicherweise unter Einsatz von Hebeln, auf die Differenz eines Kurses zwischen Kauf- und Verkaufszeit­punkt gesetzt wird.

Forex steht für «Foreign Exchange», zu Deutsch: Devisen­handel. Dabei werden Währungen paarweise gegeneinander gehandelt. Ein Beispiel: Man spekuliert, ob der Euro gegenüber dem Dollar steigt oder sinkt. Weitere beliebte Währungs­paare sind der US-Dollar gegen den japanischen Yen oder das britische Pfund gegen den US-Dollar.

Das ist verwunderlich, weil es Opfer in ganz Westeuropa gibt – und bis nach Australien. Meist sind es ältere Menschen, die viel Geld angespart und wenig Erfahrung mit dem Internet haben. Viele von ihnen verlieren nicht bloss ein paar hundert oder tausend Euro, sondern das gesamte Ersparte. Manche sechsstellige Beträge, manche sogar mehr als eine Million.

Sie ruinieren sich und ihre Familien finanziell und ziehen die Firma mit in den Konkurs. Sie nehmen Kredite auf, verkaufen ihre Häuser und Lebens­versicherungen. Manche – so wie Lorenz Krüger aus Bayern – hören früh genug auf und kommen darüber hinweg. Andere verheimlichen den Schaden vor ihren Kindern, beklauen ihre Ehefrauen und gehen durch Scheidungen. Auch Fälle von Suizid sind dokumentiert.

Über ein Jahr lang hat ein Team der Republik zu dieser Form des Verbrechens recherchiert, das an der Schnittstelle zwischen Cyber­crime und Wirtschafts­delikt liegt. Wir haben mit 15 Geschädigten in Österreich, Deutschland und der Schweiz gesprochen, Gerichts­akten eingesehen und die Strategien der Betrüger studiert. Wir haben Staats­anwälte und Polizistinnen bei der Arbeit begleitet und mit Menschen geredet, die sich vor ihnen verstecken. Wir sind auf Grossraum­büros in Niedriglohn­ländern gestossen, in denen Mittzwanziger sitzen, die psychologisch geschult und mit Rolex-Uhren bezahlt werden.

Das ist alles andere als harmlos. Es geht, wie immer in der organisierten Kriminalität, um beinharte Interessen, um Auftrags­morde und Einschüchterungs­versuche, um Stroh­männer, Korruption und Geldwäsche.

Unsere Recherche zeigt die Ausmasse einer skrupellosen Industrie, die länder­übergreifend arbeitet und kaum Spuren hinterlässt. Es geht nicht um eine Tätergruppe oder eine Firma, sondern um Tausende Websites, betrieben von mehreren, oft unabhängig voneinander agierenden Betrugs­netzwerken, die Syndikaten ähneln. In drei Teilen erzählt die Republik hier eine Kriminal­geschichte der anderen Art. Es ist die Geschichte des Holz­unternehmers Lorenz Krüger, die mit einer Telefon­bekanntschaft beginnt und sich am Ende als Raub entpuppt. Sie dreht sich um die dunkle Seite der Digitalisierung und die Jagd nach dem schnellen Geld.

Denn Opfer und Täter sind einander am Ende nicht so unähnlich. Was sie eint, ist der Wunsch, über Nacht reich zu werden – oder noch reicher. Das zeigen auch zwei weitere Beispiele:

  • Pierre Rosset aus Bern ist ein Mann mit Smartwatch, weissem Rollkragen­pullover und goldener Kreditkarte der Credit Suisse. Heute, ein Montag, ist Zibelemärit. Die Menschen essen Zwiebelkuchen und trinken Glühwein. Rosset bleibt keine Zeit zum Flanieren. Als CEO in der Lebensmittel­industrie hat er 400 Mitarbeiter unter sich und um 6 Uhr morgens die erste Video­konferenz. «Aufstehen, arbeiten, schlafen, zwischendurch essen» ist sein normaler Tages­ablauf. Rosset heisst – wie alle Geschädigten in diesem Artikel – eigentlich anders. Dass ein erfahrener Manager wie er Opfer eines Finanz­betrugs wurde, ist ihm peinlich: «Dummheiten erzählt man nicht weiter.»

  • «Nicht gerade das Reichen­viertel hier», sagt der Taxifahrer und biegt in eine Plattenbau­siedlung aus DDR-Zeiten. Hier lebt Johanna Hartmann, eine Witwe von 71 Jahren, die seit ein paar Monaten eine Notruf­uhr am Handgelenk trägt, für den Fall, dass sie stürzt und nicht mehr allein hochkommt. «Nehmen Sie Zucker?», fragt sie. «Und vielleicht einen Keks dazu?» Die alte Frau redet gerne und viel. Vom Betrug hat sie ihrer Tochter trotzdem nie erzählt und auch nicht, dass heute, an einem nebligen Tag Ende Oktober, eine Journalistin angereist ist, um sich ihren alten Laptop näher anzuschauen. «Ich habe nur mit zwei Menschen über die Sache gesprochen: mit Ihnen und mit meinem Anwalt.»

Pierre Rosset, dem Manager aus Bern, wurden 20’000 Franken gestohlen.

Johanna Hartmann, die Witwe aus Ostdeutschland, hat einen Schaden von 8000 Euro.

Lorenz Krüger aus Bayern hat 160’000 Euro verloren.

Justiz, Polizei und Finanzaufsichts­behörden scheinen machtlos zu sein.

«Es handelt sich hierbei um organisiertes Verbrechen», schreibt eine Rechtsanwalts­kanzlei in ihrer Strafanzeige.

«Das ist ein Kampf gegen Wind­mühlen», sagt ein Sprecher des Bafin, des deutschen Bundesamtes für Finanz­dienstleistungs­aufsicht. Das Bafin ist dafür zuständig, vor betrügerischen Investment-Plattformen zu warnen. Doch häufig passiert das zu spät, oder die Anleger bekommen nichts davon mit.

«Das wird niemals aufhören», sagt Martin Grasel und seufzt. Er ist ein Ermittler aus Österreich, und er hat den Begriff «Cyber­trading» 2017 erfunden. Grasel stuft das Phänomen unter die Top Five der Verbrechens­formen in Europa ein und prognostiziert, dass es eines Tages lukrativer als der Drogen­handel sein könnte.

Wie viel Geld jedes Jahr durch Cyber­trading erbeutet wird, kann aber auch er nicht sagen. Sicher ist: Der Hype um Krypto­währungen, die niedrigen Bankzinsen und nicht zuletzt die Corona-Pandemie haben die Schäden zuletzt in die Höhe schnellen lassen. Man müsse sich das Phänomen wie einen Eisberg vorstellen, sagt Grasel. Nur die Spitze ragt hervor, also jene Fälle, die bei der Polizei angezeigt wurden. Der Rest schlummert unter der Oberfläche.

Die österreichische Wirtschafts­prüferin Elfriede Sixt, die mit ihrer «European Funds Recovery Initiative» viele Opfer vertritt, schätzt den Schaden in Europa auf 20 Milliarden Euro pro Jahr. Die Initiative selber, ein Verein mit Sitz in Wien, vertrete 1100 Opfer mit einem Schaden von 55 Millionen Euro, sagt Sixt.

Die Dunkelziffer sei «unfassbar riesig», sagt auch Arthur Wilms, der für die deutsche Kanzlei Herfurtner tätig ist und jedes Jahr Hunderte Geschädigte vertritt. Einer von ihnen ist Lorenz Krüger.

Die wenigsten wüssten, dass sie Opfer eines Betrugs geworden seien, erklärt Wilms. Sie glauben, dass die Kurse schlecht standen. Viele gehen erst gar nicht zur Polizei: aus Scham oder weil sie völlig resignieren.

Der Rechtsanwalt Alexander Engelhard aus München macht es konkret: «Unsere Kanzlei vertritt 400 Cyber­trading-Opfer pro Jahr. Seit 2018 kam so ein Schaden von 7 Millionen Euro zusammen.»

Bei dem in Liechtenstein ansässigen Rechtsanwalt Florian Scheiber ist die Schadens­summe noch grösser. Seine Mandantinnen haben in den letzten drei Jahren zusammen­gerechnet etwa 15 Millionen Euro verloren.

Die Republik hat für diese Recherche ausserdem zwei Finanz­ermittler von Europol getroffen. Im Interview bleiben sie in Bezug auf konkrete Schadens­summen vage, aber dann im Flur, als das Mikrofon ausgeschaltet ist, raunte uns einer von ihnen eine Zahl zu: 50 Milliarden Euro in Europa. Es ist eine Schätzung.

Wie kann es sein, dass so viele Menschen auf diese Plattformen hereinfallen? Und wie hat das alles überhaupt angefangen?

Die Höhle der Löwen

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Diese Fragen haben uns nach Bayern geführt, in das verschneite Dörfchen von Lorenz Krüger. Minus 14 Grad war es früh an diesem Morgen, eines der Pferde ist erkältet und trägt eine karierte Wärmedecke. Krüger stapft in Jogging­hose und Ferrari-Zip-Jacke durch den Hof und kratzt Eis von der Windschutz­scheibe seines Lieblings­autos: ein gelber Sportwagen von Audi mit Allrad­antrieb, Ledersitzen und 280 PS. «Der kleine Floh wird unterschätzt», sagt Krüger.

Mit Krüger dürfte es ähnlich sein. Er ist nicht sonderlich gross, eher schmächtig, aber ein Mann, der anpackt und gut mit Werkzeug umgehen kann. Stall, Scheune und Werkstatt hat er eigenhändig renoviert und für sich und seine Lebens­gefährtin einen Whirlpool eingebaut. Seinen Holzbetrieb führt er im Alleingang ohne Mitarbeiter. In der Freizeit widmet er sich seinen Hobbys: Motorsport und Autos. Neben dem gelben Sportwagen hat Krüger noch drei weitere Autos, darunter einen VW-Bus, den man mittels Fern­steuerung beheizen kann.

Krüger klopft den Schnee von seinen Schuhen und führt in sein Haus und in ein gelb gestrichenes Büro. Die Tastatur seines Computers leuchtet neongrün, als wäre er ein Jugendlicher, der Computer­spiele zockt.

Hier fing alles an, im April 2018.

Krüger sagt über sich selbst: «Ich bin jetzt nicht so der Internet­spezialist.» Er und seine Lebens­gefährtin haben kein Profil auf Facebook und erst seit kurzem eine Kreditkarte. Die einzige Website, die das Paar regelmässig besucht, ist «T-online», eine Nachrichten­plattform mit Wetter­prognose. Im Frühjahr 2018 poppte dort ein Werbebanner auf, das eine Investment-Plattform namens Brokerz bewarb. Die Seite ist mittlerweile offline, aber im Webarchiv kann man sie noch finden. Sie erinnert an einen Nespresso-Werbespot und zeigt einen gut aussehenden Mann, der George Clooney ähnelt. Im weissen Hemd und mit Kaffee­tasse sitzt er in einem Büro, hinter ihm die Skyline einer Metropole. «Trade with confidence» steht darüber.

Lorenz Krüger wurden 160’000 Euro gestohlen.
Motorsport und Autos sind seine Hobbys.
Der Holzunternehmer kann mit Werkzeugen gut umgehen.
Die Homepage von Brokerz war als seriöse Trading-Plattform getarnt.Screenshot

Die Krügers geben Brokerz auf Google ein und stossen auf einen ihnen vertrauten Begriff: «Die Höhle der Löwen», eine bekannte Unterhaltungs­show des deutschen Privatsenders Vox, in der Start-up-Gründer einer Jury ihre Geschäfts­ideen vorstellen. Millionen Deutsche schauen sich diese Sendung jede Woche an, darunter auch die Krügers. Im Internet findet das Paar eine Reihe von Online-Artikeln, unter anderem von der «Bild»-Zeitung, die behaupten, die Jury­mitglieder der «Höhle der Löwen» hätten bei Brokerz investiert. Dass die Artikel gefakt sind, wissen die beiden damals noch nicht. Sie denken sich: Wenn die Promis dort ihr Geld investieren, warum dann nicht auch wir?

Lorenz Krüger hinterlegt seine Daten auf der Seite und füllt eine Absichts­erklärung aus. Eine Sekretärin von Brokerz ruft an und erklärt, wie die Plattform funktioniert. Krüger muss eine Startgebühr – ein Mindest­investment von 250 Euro – zahlen und legt sich dafür extra eine Kreditkarte zu.

Bald bekommen die Krügers ihren persönlichen, Deutsch sprechenden Finanz­experten an die Seite gestellt: David Jordon mit Sitz in London, der fortan jeden Tag um 17 Uhr unter einer englischen Vorwahl anruft.

«Er wirkte sehr vertrauenswürdig und wurde nie aufdringlich oder laut», sagt Krügers Lebens­gefährtin.

«Er hatte eine sympathische Stimme, und man hatte den Eindruck, dass er weiss, wovon er spricht», sagt Krüger.

Jordon rät Krüger, in das Forex-Geschäft einzusteigen, also auf Wechselkurse zu wetten. «70 Prozent der Trades laufen gut und 30 Prozent ins Minus», prognostiziert er. Und genau so passiert es dann auch.

Auf Krügers Handelskonto wächst der Gewinn. Er schiesst Geld nach und investiert immer mehr.

Am 10. Juli 2018: 2500 Euro
Am 13. Juli 2018: 2700 Euro
Am 16. Juli 2018: 5000 Euro
Am 23. Juli 2018: 9930,90 Euro
Am 10. August 2018: 40’000 Euro

Bis Ende August hat er insgesamt gut 60’000 Euro überwiesen – und sein Trading-Konto zeigt bereits einen satten Gewinn von einer Viertel­million Euro an. Warum aufhören, wenn man immer weiter­machen kann?

Der «Konzern»

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Nino Goldbeck, 43, ein deutscher Staats­anwalt aus Bamberg, weiss, was jetzt kommt. Die Akte von Lorenz Krüger ist auf seinem Schreibtisch gelandet wie zuvor schon einige tausend ähnlich gelagerte Fälle. Die Masche ist immer dieselbe, nur die Namen der Plattformen ändern: Option888, XTraderFX, Globalix, Golden Markets, Swissinv24. Seit vier Jahren schon spürt Goldbeck den Tätern hinter dem Scam nach, stürmt mit Sonder­einheiten Callcenter in verschiedenen Staaten und lässt Tat­verdächtige nach Deutschland ausliefern. «Am Anfang wusste ich nicht, welche Ausmasse das noch annehmen wird», sagt er heute.

Ein Hotel in Den Haag, Niederlanden. Goldbeck, ein gross gewachsener Mann im Slim-Fit-Anzug, blickt aus dem Fenster von Zimmer 722. Weisse Möwen segeln an seinem Fenster vorbei, bis zum Hafen und zur Nordsee sind es nur zwei Kilometer. Der Himmel ist eisblau, Teiche und Kanäle zugefroren, und in der Rezeption steht ein meterhoher, funkelnder Christbaum. Noch eineinhalb Wochen bis Weihnachten.

Nino Goldbeck, Staatsanwalt in Bamberg, spürt Online-Betrügern seit vier Jahren nach.
Ein IT-Forensiker untersucht die Daten von beschlagnahmten Geräten und Festplatten.
Bildschirme in der Zentralstelle Cybercrime Bayern bei der General­staatsanwaltschaft Bamberg.
Die Stelle ist für die Bearbeitung besonders schwerer Fälle von Cyber­kriminalität zuständig.

Goldbeck ist für ein Vernetzungs­treffen mit europäischen Staats­anwältinnen angereist. Gestern hat er einen Vortrag über Cyber­trading gehalten, heute geht es wieder zurück nach Bamberg, einer Stadt im Norden Bayerns, die für ihre denkmal­geschützten Häuser und Barock­musik berühmt ist. Von hier aus kämpft Goldbeck gegen eine Armada aus gefakten Namen, Briefkasten­firmen und fingierten Telefon­nummern. Am Anfang waren er und ein Kollege allein mit dem Phänomen, mittlerweile leiten er und ein weiterer Oberstaats­anwalt zwei Arbeits­gruppen mit acht Staats­anwälten.

Früher arbeitete Goldbeck als Richter – Strassen­kriminalität, Sexual­delikte, Drogen. «Alles, was schnell in die Schlagzeilen kommt», sagt er. Oft hatte er Mitleid mit den Menschen auf der Anklagebank, die «Opfer ihres eigenen Lebens» wurden. Bei Cyber­trading sei das anders: «Da ist viel kriminelle Energie, aber auch Verstand.»

Goldbeck nimmt einen Notizblock zur Hand. «Cyber­trading muss man sich wie einen Konzern vorstellen, der auf vier Säulen basiert», sagt er. Wer genug Geld und Kontakte hat, kann sich alle Säulen wie einen Baukasten zusammen­stellen, die Ermittler nennen das crime as a service.

Goldbeck zeichnet die erste Säule.

Sie steht für das Callcenter, den Ort, aus dem Lorenz Krüger angerufen wurde. «Das ist, wenn man so möchte, der Motor und das Herzstück der Betrugs­masche», sagt Goldbeck. Die Menschen am Telefon benutzen gefakte Namen und bauen eine Beziehung zum Opfer auf. Je nachdem, wie erfolgreich sie sind, können sie hohe Boni kassieren.

Viel Geld fliesst auch an das sogenannte Affiliate-Marketing, die zweite Säule, die für die Generierung der Daten zuständig ist. Die Callcenter telefonieren nicht wahllos Telefon­verzeichnisse ab, sondern folgen sogenannten hot leads, heissen Spuren. Das sind Menschen wie Lorenz Krüger, die durch schrille Werbe­banner oder Massen­mails geködert wurden und ihre Daten freiwillig hinterlassen haben.

Für jeden hot lead, der in das Trading-Geschäft einsteigt, erhält die Säule des Affiliate-Marketings eine Provision von bis zu 1600 Dollar. «Die dritte Säule», sagt Goldbeck, «sind die Geldwäsche-Netzwerke.» Sie schicken die Bank­überweisungen binnen kurzer Zeit einmal um die Welt, bis sich die Spur verliert.

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Goldbeck zeichnet die vierte Säule: die Plattform-Provider. Sie kümmern sich um die gesamte technische Infrastruktur, darunter auch die Software, mit der die Charts im Trading-Konto manipuliert werden können. Viele Anbieter – so vermuten die Ermittler – sitzen in Israel oder haben ihre Firmen dort gegründet. Whistle­blower aus der Szene gaben in Polizei­verhören an, dass die Industrie zu 90 Prozent in israelischer Hand sei. «Egal, mit wem man spricht: Jeder sieht den Beginn dieses Phänomens in Tel Aviv», sagt der österreichische Ermittler Martin Grasel.

Staatsanwalt Goldbeck kann letztlich nur spekulieren: «Israel ist im Bereich der technischen Entwicklung und im IT-Sektor eine führende Nation, hat dort eine hohe Innovations­kraft und viel Entwickler­geist. Das gilt auch für die Finanz­branche und in der Fintech.» Viele Grössen aus der legalen Trading-Szene sind in Israel beheimatet. Davon haben die Betrüger profitiert und schon vor Jahren Plattformen aufgesetzt, die mit sogenannten «binären Optionen» warben: hoch­spekulative Finanzwetten, die zeitweise in der Szene ein Renner waren und mittlerweile verboten sind. Im Januar 2017 hielt Europol einen Sonder­gipfel zum Handel mit binären Optionen ab, an dem, neben zwanzig europäischen Staaten, auch das US-amerikanische FBI teilnahm. Der Druck auf Israel stieg, etwas gegen die Anbieter im eigenen Land zu unternehmen.

Als die Knesset, das israelische Parlament, im Oktober 2017 den Handel mit binären Optionen verbieten liess, wanderten viele Callcenter ins Ausland ab. Festmachen lässt sich das an einem Fall, der 2022 vor einer Jugend­kammer des Landgerichts München verhandelt wurde. Der Republik liegt die Anklage­schrift vor. Die Täter, die unter anderem hinter der «Zurich Financial Group» und der «Geneva Capital Group» standen, stiegen im Jahr 2016 mit zwei Callcentern in Tel Aviv in das Geschäft ein. 2017 wanderten die deutsch­sprachigen Mitarbeiter nach Sofia in Bulgarien ab. Ein Jahr später folgte der Rest der Belegschaft, bis schliesslich sämtliche Callcenter der Gruppierung in Israel schlossen. «Fortan dienten die Büro­räumlichkeiten in Tel Aviv nicht mehr als Callcenter, sondern als Backoffice für das Callcenter in Sofia», heisst es in der Anklage­schrift.

Allein schon seine Kanzlei vertritt 400 Cyber­trading-Opfer pro Jahr: Anwalt Alexander Engelhard.

«Die Plattform- und Software­entwickler sitzen nach wie vor in Israel», sagt der Rechts­anwalt Alexander Engelhard. «Das Telefonieren passiert aber mittlerweile woanders. 80 Prozent der Callcenter sind in Ost- und Südost­europa angesiedelt.» In den Callcentern arbeiten junge Digital Natives, die der Boomer-Generation in Westeuropa das Ersparte abzocken.

Ermittlungs­akten, die der Republik vorliegen, zeigen, wie abgebrüht die Szene sein kann: «Wir ficken jeden verdammten Deutschen», schreibt ein «Broker» in einem firmeninternen Chat. Das letzte Geld aus jemandem herauszu­quetschen, wird squeezen genannt. Will man einen Kunden loswerden, dann sagt man: «Let’s burn the client!», lasst uns den Kunden verbrennen.

Burn the client!

Längst nicht alle Opfer von Cyber­trading nehmen sich wie Lorenz Krüger – hier auf seinem Hof – einen Anwalt.

Es ist früher Herbst, als Lorenz Krüger, der Holz­unternehmer aus Bayern, «burnt» wird. Er will einen Teil des gutgeschriebenen Gewinns ausbezahlt haben, aber David Jordon, sein «Broker», rät ihm von dem Schritt ab: «Wir haben nicht genug Gewinn als Puffer, um einen möglichen Absturz abzufangen.» Krüger glaubt ihm und investiert weiter.

Am 24. September 2018: 51’150,68 Euro
Am 19. Oktober 2018: 20’023,56 Euro
Am 22. Oktober 2018: 10’000 Euro
Am 6. November 2018: 10’012,40 Euro

«Die letzte Überweisung war am Tag der midterms in den USA», erinnert sich Krüger, «und dann sind wir abgestürzt.» Jordon nutzt die Wahl als Vorwand und warnt vor Turbulenzen am Devisen­markt. Er ruft immer öfter an, einmal sogar nachts. «Wir haben ein Problem, alles stürzt ab. Wir müssen Geld nachschiessen», sagt er. Auf dem Handels­konto wechselt die Farbe der Charts von Grün auf Rot.

Ende November fliegt Krüger nach Abu Dhabi zur Formel-1-Welt­meisterschaft, in ein Hotel mit Palmen und Pool. Er will sich die Laune nicht vermiesen lassen, fotografiert die rot lackierten Rennautos in der Boxengasse und macht ein Foto mit Charles Leclerc, dem späteren Ferrari-Fahrer.

Nur zweimal loggt er sich in sein Trading-Konto ein. «Da standen wir bei 300’000 Euro im Minus», erinnert er sich. Rückblickend glaubt er, dass die Betrüger sein Konto absichtlich «an die Wand gefahren» haben. Nach seiner Rückkehr nach Bayern ruft Jordon noch ein paarmal an. Ob er nicht noch einmal von vorne anfangen wolle?

«Ich bin pleite», lügt Krüger und nimmt sich einen Anwalt. «Es besteht der dringende Verdacht, dass mein Mandant Opfer eines Betruges wurde», schreibt dieser in seiner Strafanzeige.

Seither warten die Krügers, und die Staats­anwaltschaft ermittelt. «Irgendjemand da draussen führt mit meinem Geld ein Leben in der High Society», glaubt Lorenz Krüger. «Wir hätten damit etwas Sinnvolles gemacht. Den Dachboden gedämmt zum Beispiel», sagt seine Lebensgefährtin.

Die Republik ist dem Geld von Lorenz Krüger in die reale Welt gefolgt. Denn Cybertrading ist nur bedingt ein digitales Phänomen. Es braucht Menschen, die psychologisch geschult sind, um den Betrug durchzuführen. Sein Fall wird uns auf eine kleine tropische Insel führen, in mehrere Gefängnis­zellen, auf Rooftop-Partys, in die Büros verschiedener Ermittler und schliesslich auf eine Autofähre in der Adria.

Krüger weiss nicht, wer sein Geld genommen hat, aber er sagt: «Irgendwann kommt der aus dem Knast raus. Und ich würde ihm am liebsten eine aufs Maul hauen.»

Zum Rechercheprojekt und den Autorinnen

Franziska Tschinderle, geboren 1994, ist Journalistin, schreibt schwerpunkt­mässig zum Balkan und lebt in Tirana.

Ilir Tsouko, geboren 1990, ist ein visueller Storyteller und lebt zwischen Tirana und Berlin.

Vjosa Çerkini, geboren 1993, ist eine Journalistin aus Pristina und arbeitet unter anderem für die Deutsche Welle (DW).

Juli Ristani, geboren 1976, ist eine investigative Journalistin aus Albanien und arbeitet für den TV-Sender Top Channel in Tirana.

Apostolis Giotopoulos, geboren 1985, ist ein Filme­macher und Video­editor aus Griechenland.

Diese Recherche wurde vom Förder­programm «Investigative Journalism for Europe» (IJ4EU) mitfinanziert. Das Programm zielt darauf ab, grenz­überschreitende Geschichten in mehreren Ländern und Sprachen zu publizieren.

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Am Ende ist das Geld immer weg

Teil 3

Als ob sie keine Seele hätten

Bonus-Folge

Podcast zur Callcenter-Recherche: Wo findet man die Be­trugs­op­fer?