Sony gegen Schweizer Stiftung: Runde zwei im Kampf um die Internet-Freiheit
Ein deutsches Gericht befindet heute über die Klage des Musikgiganten Sony gegen Quad9. Der Ausgang des Verfahrens könnte Folgen für die ganze Welt haben.
Von Adrienne Fichter, 01.03.2023
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Es ist ein klassischer Fall von David gegen Goliath. Auf der einen Seite der Musik-, Film- und Game-Gigant Sony als Kläger, auf der anderen Seite die Schweizer Stiftung Quad9 als Beklagte.
Worum geht es?
Um die Frage, was sogenannte DNS-Resolver wie Quad9 dürfen – und was nicht.
DNS-Resolver sind wichtige Dienstleister im Internet. Wenn Nutzerinnen im Netz die Adresse einer Website aufrufen, schlagen die Dienste die entsprechenden Webadressen wie in einem Adressbuch nach und lösen sie, wie es technisch heisst, in IP-Adressen auf.
Im Frühling 2021 hatte Sony Quad9 aufgefordert, diese Dienstleistung bei zwei Piraterie-Portalen zu unterlassen. So würden die Portale im Internet gesperrt.
Doch die Schweizer Stiftung, die ihren Sitz in Zürich hat, verweigerte sich der Forderung. Sie sieht sich als neutrale Infrastruktur-Anbieterin und will spezifischen Zensurwünschen nicht nachkommen. Der DNS-Dienst sperrt lediglich Webseiten, die von Malware verseucht sind.
In der Folge klagte Sony gegen Quad9 wegen Urheberrechtsverletzung, unter anderem im Rahmen eines Eilverfahrens in Hamburg; und bekam im November 2021 recht. Die Republik hat darüber berichtet.
Zum Beitrag vom Juni 2022: Wie ein Musikgigant das freie Internet bedroht
Sony verklagt in Hamburg eine Schweizer Internet-Stiftung wegen Urheberrechtsverletzung. Diese wehrt sich mit allen Mitteln. Und aus Gründen, die uns alle betreffen. Hier gehts zum Artikel.
Seither muss Quad9 die beiden Piraterie-Portale für alle deutschen Nutzerinnen sperren, was technisch aufwendig und kostspielig ist. Deshalb zog die Stiftung den Fall weiter; er ist vor dem Oberlandesgericht Hamburg hängig.
Dass Sony seine Klage in Deutschland einreichte, war wohlkalkuliert: Ein entsprechendes Begehren hätte in der Schweiz kaum Chancen gehabt. Zwar wurden hier ausländische Glücksspiel-Webseiten gesperrt, ähnliche Klagen wie jene von Sony lehnte das Bundesgericht aber ab. Also beauftragte der Konzern eine Firma damit, Musik in Deutschland via Quad9-DNS-Dienst von den betreffenden Piraterie-Portalen herunterzuladen – und damit eine Urheberrechtsverletzung zu provozieren. Dies erlaubte es Sony, vor dem Hamburger Landgericht, das als besonders «urheberrechtsfreundlich» gilt, gegen Quad9 zu klagen.
Parallel zum Hamburger Eilverfahren wird über die angebliche Urheberrechtsverletzung auch vor dem Landgericht Leipzig gestritten. Sony hatte dort ebenfalls Klage eingereicht. Am 8. Februar 2023 fand eine Anhörung statt. Und heute fällt das Gericht mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Urteil.
Bedrohte Internet-Freiheit
Sollte Sony mit seiner Klage in Leipzig oder jener in Hamburg letztlich recht bekommen, wäre das ein Grundsatzentscheid, der fatale Folgen für das gesamte Netz haben dürfte. Künftig wären alle Konzerne legitimiert, bei DNS-Resolvern Sperrungen zu verlangen – und das aus rein kommerziellen Motiven. Hinzu kommt: Lokale Restriktionen für eine bestimmte Website sind technisch komplexer und aufwendiger umzusetzen als eine globale Sperrung. DNS-Dienstleister müssten sich wohl aus betrieblichen Gründen notgedrungen für Letzteres entscheiden. Ein entsprechender Entscheid wäre deshalb ein Dammbruch. Er würde die Internet-Freiheit, so wie wir sie heute kennen, massiv gefährden.
Allerdings beschäftigen sich nicht nur Gerichte in Leipzig und Hamburg mit möglichen DNS-Resolver-Sperren. So lief in Italien ein Verfahren gegen das grosse US-Unternehmen Cloudflare, das ebenfalls DNS-Dienste anbietet. Die italienische Musikbranche hatte in Mailand die Sperrung von drei Piraterie-Portalen erwirkt. Die Berufung gegen das Urteil wurde im November 2022 abgewiesen. Auch das Landgericht Köln entschied gegen Cloudflare.
Seit dem Kölner Verdikt steht das US-Unternehmen Cloudflare vor dem gleichen Problem wie die Schweizer Stiftung Quad9. Beide müssen Webseiten für sämtliche Nutzer in Deutschland sperren, beide versuchen mit allen Mitteln, den gefährlichen Präzedenzfall zu verhindern. Kein Wunder, stehen die Anwältinnen der beiden Dienstleister in regem Austausch miteinander.
Zurück zum Verfahren vor dem Landgericht Leipzig. Das Anwaltsteam von Quad9 hatte bei der Anhörung im letzten Februar ein neues Rechtsgutachten der deutschen Professorin Ruth Janal vorgelegt. Diese hält fest: Quad9 sei ein neutraler Durchleitungsdienst und könne daher nicht als Verursacher von Urheberrechtsverletzungen von Dritten in Betracht kommen.
Janal zieht ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom 13. Oktober 2022 als Grundlage für ihre Argumentation bei. In dem Fall ging es um Folgendes: Der Wissenschaftsverlag Elsevier hatte von der Deutschen Telekom die Sperrung auf dem Portal Sci-Hub verlangt, einer «Schattenbibliothek» von wissenschaftlichen Papers. Doch der Verlag scheiterte, der Bundesgerichtshof entschied in diesem Fall zugunsten des DNS-Dienstleisters.
Eine DNS-Sperre müsse immer das «letzte Mittel» sein, heisst es im Urteil des Bundesgerichtshofs. Sie dürfe deshalb erst in Betracht gezogen werden, wenn ein Vorgehen gegen tatnähere Beteiligte nicht funktioniere. Zum Beispiel gegen die Hosting-Anbieter, die Webseiten wie Sci-Hub betreiben.
Auf ein ähnliches Urteil arbeitet nun auch Quad9 hin: Unterhaltungskonzerne sollen nicht nach Belieben Sperrungen bei Dienstleistern der Internet-Infrastruktur erwirken können. Die Stiftung will mit dem Prozess eine Lösung für die gesamte DNS-Branche erreichen. «Es braucht ein Prozedere, an das sich die Rechteinhaber halten müssen, wenn sie Sperrungen verlangen», sagt Nadia Alter, CEO von Quad9.
Das neue EU-Recht
Daneben haben die Anwälte der Schweizer Stiftung einen weiteren Trumpf im Ärmel: den Digital Services Act, ein neues Regelwerk der EU, das bereits in Kraft ist und das ab 2024 für alle Mitgliedsstaaten verbindlich sein soll.
Der Digital Services Act will DNS-Resolver ausdrücklich mit einem sogenannten Haftungsprivileg versehen. Das bedeutet: Ein DNS-Resolver gilt als Vermittlungsdienst, wird als neutral betrachtet und kann nicht für vermittelte Inhalte haftbar gemacht werden. Er bietet einen Dienst zum «reibungslosen Funktionieren des Internets» an, wie es im neuen EU-Recht heisst.
Gut möglich, dass die Leipziger Richterinnen auf dieser Grundlage zugunsten von Quad9 entscheiden werden.
Doch wenn dem so sein sollte, würde Sony mit grosser Wahrscheinlichkeit Berufung bei der nächsten Instanz einlegen, dem Oberlandesgericht Dresden. Anschliessend könnte der Konzern den Fall auch an den Bundesgerichtshof weiterziehen. Und in letzter Instanz müsste sich wohl die EU-Gerichtsbarkeit damit auseinandersetzen.
Für die Schweizer Stiftung, der allmählich das Geld ausgeht und die fürs Prozessieren auf Spenden angewiesen ist, kehrt also voraussichtlich noch lange keine Ruhe ein.
Doch Quad9 gibt sich kämpferisch. CEO Nadia Alter sagt: «Wir sind bereit, den gesamten Instanzenzug, gegebenenfalls bis zum Europäischen Gerichtshof, in diesem Verfahren gegen Sony auszuschöpfen.»
Ausserdem soll die Schweizer Bevölkerung, die mehrheitlich noch nicht von diesem Fall gehört hat, besser sensibilisiert werden: «Wir müssen aufzeigen, dass diese Sperrungen nicht allein Deutschland betreffen, sondern die gesamte Welt – und auch die Schweiz.»
Würde Sony dieses Verfahren gewinnen, «könnte bald auch die iranische Sittenpolizei kommen und die Regeln des Internets nach Belieben ändern», sagt Nadia Alter. Es müsse den Schweizerinnen bewusst werden, «dass sie dann ebenfalls keinen Zugang mehr zu diesen von der Sittenpolizei zensierten Inhalten haben».
Ob «Sony versus Quad 9» oder Cloudflare: Einer dieser Fälle wird letztlich als Präzedenzfall von der europäischen Judikative behandelt werden. Sie wird darüber befinden, ob DNS-Resolver gewisse Webseiten sperren müssen – und so eine entscheidende Weichenstellung vollziehen. Denn sowohl das von Sony eingeklagte Urheberrecht als auch die Internet-Freiheit gelten in der EU als wichtige Rechtsgüter. Fest steht bereits jetzt: Der Entscheid wird Folgen für die ganze Welt haben.
Sobald bekannt ist, zu welchem Urteil das Landgericht Leipzig in der Sache gekommen ist, werden wir Sie in unserem Journal darüber informieren.