Strassberg

Wenn Weltbilder wackeln

Wir befinden uns inmitten eines Paradigmen-Tsunamis. Das macht es schwierig, sich treu zu bleiben. Aber soll man das überhaupt?

Von Daniel Strassberg, 28.02.2023

Vorgelesen von Dominique Barth
0:00 / 14:06
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Ein Liebes­paar durchquert mit offenem Verdeck die nächtliche Wüste. Am Steuer ein Mann mit entschlossenem Gesicht, der Mund verkniffen, das Kinn nach vorne geschoben. Die Frau neben ihm klammert sich an seinen Arm und lehnt ihren Kopf an seine Schulter. Sie sind offensichtlich auf der Flucht. Die Haare flattern im Wind, der Wagen wird von den holprigen Strassen durchgeschüttelt, er wirbelt eine Staub­wolke auf.

Die Saxofone werden leiser.

Verliebt und verängstigt zugleich wendet die Frau ihre Augen dem Geliebten zu und flüstert: «Fahr nicht so schnell, Darling, ich möchte noch nicht sterben.» Im fernen Hintergrund ziehen langsam die Berge vorbei, die Sträucher am Strassen­rand verschwinden rasend schnell im Nichts.

Alles in Schwarz-Weiss.

Diese Szene könnte einem Film der 40er- oder 50er-Jahre entstammen. Dass der Wagen auf einem Podest steht und von Arbeitern oder Maschinen geschüttelt wird, dass der Fahrtwind von einer Wind­maschine erzeugt und die Landschaft im Hintergrund auf eine Leinwand projiziert wird, wissen alle, doch niemand stört sich daran. Das Verfahren, die Illusion von Bewegung zu erzeugen, indem der bewegte Hintergrund auf eine Lein­wand projiziert wird und der anscheinend bewegte Vordergrund an Ort bleibt, nennt die Film­fachfrau rear projection.

Stellen Sie sich nun vor, ein Praktikant hätte aus Versehen den im Hinter­grund laufenden Film falsch geschnitten. Plötzlich erschiene eine Szene in einem öffentlichen Schwimm­bad: Spielende Kinder springen vor Freude kreischend ins Wasser. Ein holpernder Chevrolet würde da ebenso grotesk erscheinen wie der Satz: «Fahr nicht so schnell, Liebling, ich möchte noch nicht sterben.»

Der «falsche» Schnitt entspricht dem, was der amerikanische Wissenschafts­philosoph Thomas Kuhn einen Paradigmen­wechsel nannte. In den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts stellten Kuhn und Michel Foucault beinahe gleichzeitig fest, dass Theorien und Begriffe nur in einem entsprechenden konzeptuellen Rahmen Sinn ergeben – oder um in unserem Bild zu bleiben: Sätze sind nur vor dem richtigen Hinter­grund sinnvoll.

Selbst wissenschaftliche Erkenntnisse brauchen ein stimmiges Referenz­system: In einem geo­zentrischen Weltbild erklären die Berechnungen des Ptolemäus die Planeten­bahnen ausreichend – in einem Universum, in dem die Sonne im Zentrum steht, «stimmen» hingegen die Planeten­bahnen von Johannes Kepler. Vor dem Hintergrund der Evolutions­theorie ist der Axolotl ein missing link und nicht mehr ein von Gott geschaffenes Monstrum, das die Menschen in Staunen versetzen und sie zur Rückkehr zu Gott auffordern soll.

Auch politische Begriffe, wie der der Gewalt, werden in verschiedenen Rahmen unterschiedlich verwendet: Für diejenigen, die sich auf die buchstäbliche Einhaltung des Gesetzes, the rule of law, berufen, war der Klima­protest in Lützerath gewalt­tätig und die Reaktion der Polizei legitim. Wenn aber das Überleben des Planeten den Denk­rahmen bildet, ist der weitere Abbau von Kohle gewalttätig und der Protest legitim.

Um keine Miss­verständnisse aufkommen zu lassen: Weder Kuhn – dessen Bezeichnung für den Hintergrund­rahmen Paradigma lautet – noch Foucault – der von Diskursen sprach – vertreten eine relativistische oder subjektivistische Auffassung von Wissenschaft; sie insistieren lediglich darauf, dass man kein Objekt und keine Aussage isoliert vom jeweiligen Kontext betrachten kann.

Seit Covid verläuft die unsichtbare Linie, die unterschiedliche politische Positionen trennt, nicht mehr verlässlich zwischen links und rechts. Früher konnte man sicher sein: Wer gleicher Meinung war, wählt links, die anderen rechts. Das hat sich radikal geändert: Bei Themen wie Covid, Demokratie, Gewalten­teilung, Grundrechte, Ukrainekrieg, Einstellung zu Krieg und Gewalt werden die erbittertsten Debatten oft zwischen (ehemaligen) Freunden geführt und die Verbündeten unter den (ehemaligen) Feinden gefunden.

Habe ich mich verändert, bin ich mir untreu geworden, habe ich meine Ideale verraten, wenn ich plötzlich für Waffen­lieferungen an die Ukraine oder covid­bedingt für staatliche Einschränkungen der Grund­rechte bin? Das sind die bohrenden Fragen, die sich immer häufiger stellen. Die Antwort ist so einfach nicht, wie die beiden folgenden Beispiele zeigen:

1. Die deutsche Links­politikerin Sahra Wagenknecht habe ich für ihre intellektuelle Schärfe und ihren unermüdlichen Einsatz für unter­privilegierte Menschen stets bewundert. Nun bekämpft sie die Waffen­lieferungen an die Ukraine mit dem Argument, sie würden den Konflikt eskalieren lassen. Stattdessen plädiert sie für Friedens­verhandlungen.

Natürlich verlängern die Panzer den Krieg. Doch Wagenknecht blendet aus, dass ohne sie die Ukraine längst von der russischen Armee überrollt worden wäre, in Kiew eine russische Marionetten­regierung sässe, die mithilfe der Wagnersöldner-Armee ein Terror­regime errichten würde, wie wir es aus den Orten kennen, die die russische Armee bereits erobert und dann wieder aufgegeben hat. Menschen würden mit Vorschlag­hämmern erschlagen, es käme zu brutalen Massen­erschiessungen, zu Massen­vergewaltigungen, zu sinnloser Zerstörung, zu Kindes­entführungen und zur systematischen Folter. Sahra Wagenknecht nimmt das in Kauf, ohne mit der Wimper zu zucken. Ebenso bizarr ist ihr Appell für Friedens­verhandlungen. Als ob die Parteien bloss vergessen hätten, dass es diese Möglichkeit gibt.

2. Giorgio Agamben ist ein von mir hochgeschätzter italienischer Jurist und Philosoph der Biopolitik. Die Bio­politik untersucht, wie Staaten, unter dem Vorwand, Leben zu retten oder zu schützen, rechts­freie Zonen errichten, in denen elementare Grund­rechte ausgesetzt werden. Agambens ursprüngliches Beispiel ist Auschwitz, aber er nannte auch Guantanamo oder die geheimen CIA-Gefängnisse in Ost­europa. Auschwitz sollte das Leben des deutschen Volkes vor den Juden schützen, Guantanamo das der US-amerikanischen Bürger vor dem islamistischen Terror. Während der Pandemie trat Agamben nun mit der Behauptung an die Öffentlichkeit, die staatlichen Massnahmen zur Eindämmung der Seuche seien ein Fall von Biopolitik. Die Covid-Massnahmen in die Tradition von Auschwitz zu stellen, ist nicht nur höherer Blödsinn, es führt Agamben auch tief ins rechts­extreme Lager.

Agamben und Wagenknecht würden zu ihrer Verteidigung wohl behaupten, sie wären sich im Gegensatz zu «uns» treu geblieben. «Wir» schwämmen nun, wie nach einer Gehirn­wäsche, mit dem Mainstream. Damit hätten sie nicht ganz unrecht, doch vielleicht ist genau das das Problem. Was heisst, sich treu bleiben eigentlich? Ist es immer richtig, sich treu zu bleiben? Der Zürcher Regierungs­rat Mario Fehr warb unlängst mit dem Slogan «Mario Fehr bleibt Mario Fehr» für seine Wieder­wahl. Eben das ist das Problem, mochte man ihm zurufen.

Anders gefragt: Kann man sich vor einem dramatisch veränderten Hintergrund treu bleiben, oder ist Treue in einem solchen Fall nicht der schlimmste Verrat, wie der Fall Wagen­knecht nahelegt?

So vielschichtig das Verhältnis von diskursiven Rahmen (Hintergrund) und Theorie oder Begriff (Vordergrund), in einem sind sich Kuhn und Foucault einig: Paradigmen verändern sich nicht kontinuierlich, sondern, aufgrund veränderter Machtverhältnisse oder aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, bruchartig. Manchmal verändern sich innert weniger Jahre eine ganze Anzahl grundlegender Wahrnehmungen, Weltsichten und Bewertungen, ohne dass die Faktoren klar benannt werden können, die zu den gesellschaftlichen Transformationen geführt haben. Solche Zeiten heissen Sattelzeiten.

Wir leben in einer Sattelzeit.

Das Dogma der Zwei­geschlechtlichkeit war während Jahrhunderten der Hintergrund für das asymmetrische Geschlechter­verhältnis; das autonome, die Natur beherrschende Subjekt war der Hintergrund, vor dem sich der kapitalistische Fortschritts­glaube von Bedenken über die Zerstörung der Umwelt unberührt ausbreiten konnte; nationale Grenzen waren der unhinterfragte Hintergrund, vor dem sich demokratische Freiheits­rechte etablieren konnten; der wirtschaftliche Aufschwung und die Voll­beschäftigung waren der Hintergrund für die sinn­stiftende Funktion von Arbeit.

Doch was geschieht, wenn die strikte Zwei­geschlechtlichkeit auf dem Müllhaufen der Geschichte landet, wenn die Zerstörung der Umwelt nicht mehr geleugnet werden kann oder nationale Grenzen an Bedeutung verlieren? Was sollen wir mit einer Psychoanalyse anfangen, die theoretisch noch immer auf der Zwei­geschlechtlichkeit beruht? Wohin mit dem Pazifismus und dem Anti­militarismus angesichts der Katastrophe in der Ukraine? Wie soll eine soziale Markt­wirtschaft ohne die Umwelt zerstörendes Wachstum funktionieren?

Woher soll gesellschaftliche Anerkennung kommen, wenn Wachstum fragwürdig und Arbeit prekär geworden ist?

Wir befinden uns tatsächlich inmitten eines Paradigmen-Tsunamis; vieles, woran wir glaubten, gilt nicht mehr, und doch sind wir, von einigen Ausnahmen abgesehen, noch weit davon entfernt, neue Begrifflichkeiten, neue Theorien und neue Glaubens­sätze entwickeln zu können. Gewisse Begriffe, Theorien und Glaubens­sätze, an denen wir uns festgehalten haben, haben ihre Bedeutung verloren, sie wurden zum Teil sogar grotesk.

Angesichts dieser konzeptuellen Leere sagen einige lieber die alten Texte wieder und wieder auf. Sie halten trotz allem an ihren Glaubens­sätzen fest, nur um beruhigt mit dem Gefühl zu Bett gehen zu können, sie seien sich treu geblieben. Diskurse (Hintergründe) verändern sich aus diesem Grund so träge, schreibt Foucault, «als hätten wir Angst, das Andere in der Zeit unseres eigenen Denkens zu denken». (Michel Foucault, «Archäologie des Wissens», S. 23)

Die Beschwichtigung der Angst funktioniert besonders gut, wenn man sich mit Gleich­gesinnten auf ein oder zwei Biere trifft. Tatsächlich erklärte mir jüngst ein neoliberaler Journalist, der freie Markt werde letztlich auch China die Demokratie bringen. Dazu braucht es allerdings mindestens vier Biere. Ich behaupte nicht, dass es keine rationalen Argumente gegen Waffen­lieferungen in die Ukraine gibt, zum Beispiel die Angst vor einem Atom­erstschlag. Aber das Fest­halten an alten pazifistischen Überzeugungen, nur um sich treu zu bleiben, ist kein Argument, das ist höchstens bier­selige Nostalgie.

Was geschieht eigentlich mit den Hintergrund­filmen, die von den Film­studios nicht mehr gebraucht werden? Werden sie zerstört oder in Billig­produktionen wiederverwendet? Anders gefragt: Was geschieht mit den alten Diskursen und Para­digmen, wenn sie ausgedient haben?

Foucault und Kuhn dachten, sie würden auf dem Abfall­haufen der Geschichte entsorgt. Doch dem ist nicht so: Zwar interessierte sich nach Kopernikus kaum jemand für die ptolemäischen Planeten­bahnen. Doch bei den Flat-earthern haben sie Unterschlupf gefunden. Seit der Renaissance forderte die Medizin nicht mehr eine Ähnlichkeit zwischen Therapeutikum und der Krankheit. In der Homöopathie hat diese Vorstellung aber überlebt. Der Einfluss der Gestirne auf die Gesundheit spielt in der Medizin keine Rolle mehr. Ausser bei ein paar Anhängern der Astrologie. Nach Darwin hielt niemand mehr den Axolotl für ein gott­geschaffenes Monster, das die Menschen zur Umkehr mahnen soll. Ausser ein paar US-amerikanische christliche Fundamentalisten.

Tatsächlich bilden alte, ausgediente Paradigmen den Kern der meisten alternativ-esoterischen Theorien. Doch im Unterschied zu den alten Theorien sind sie nun hermetisch geschlossen und nicht mehr entwicklungs­fähig; sie dienen nicht mehr dem Wissen, sondern nur noch dem Besserwissen: Sie bekämpfen den Mainstream um der eigenen Selbst­vergewisserung willen. In Charkiw interessiert diese niemanden.

Illustration: Alex Solman

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