Eine von viel zu vielen: Die Eltern Andryi und Irina Grycenko mit Irinas Schwester Rimma Leiba (ganz rechts) am Begräbnis ihrer 11-jährigen Tochter Anastasya Grycenko. Sie starb am 17. September 2022 nach einem Raketenanschlag. Pete Kiehart

Wer lebt, wer stirbt

Vor einem Jahr hat Russland die Ukraine überfallen. Mehr als hundert­tausend Menschen sind nun tot. Unsere Nachrufe auf sehr, sehr wenige von ihnen.

Von Oliver Fuchs, Pascal Müller und Constantin Seibt, 24.02.2023

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Der Trost, den man in vielen ukrainischen Nach­rufen liest, lautet: «Der Krieg nimmt die Besten.»

Was ein Trost ist, aber nicht die ganze Wahrheit. Der Krieg ist gleichgültig. Er nimmt, wer gerade zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Der Unterschied zwischen Tod und Leben sind meist ein paar Zentimeter, ein paar Minuten – und ein paar furchtbar alltägliche Entscheidungen: ob man gerade Kaffee holen ging oder nicht.

Durch den russischen Angriff vor einem Jahr wurden 42 Millionen Ukrainer in diese Logik gezwungen: Egal, wer du bist, egal, was du tust, dein Leben ist verletzlich wie das deiner Kinder oder Nachbarn auch.

Nicht einmal so etwas wie eine Erinnerung ist gesichert: Wer das Pech hatte, an einem richtig falschen Ort zu wohnen – wie etwa in der Hafenstadt Mariupol –, endet mit einer Nummer in einem endlosen Gräberfeld bis hin zum Horizont.

Das Verbrechen Putins, seiner Funktionäre, seiner Anhängerinnen, seiner Offiziere und Soldaten, seiner heimischen wie ausländischen Propagandisten ist eine umfassende Gleich­gültigkeit gegenüber dem Leben: Die Menschen in der Ukraine sind dem Kreml-Herrscher so egal wie die eigenen Leute. Oder Städte, Verträge oder die Wahrheit. Oder auch nur die eigene wirtschaftliche Zukunft.

In der Ukraine liest man nicht viel über den Tod und Tote. Man hat anderes zu tun: sein Land, sein Leben zu verteidigen. Und da helfen Mut, Fröhlichkeit, Witze und Zorn (und Waffen!) sehr viel weiter als jeder Blick zurück: Denn wie es war, wird es nie wieder werden.

Hier spricht man ebenfalls nicht darüber. Weil weit weg. Weil abgelenkt durch Neues in Twitter und «Tagesschau». Und weil es nicht machbar ist. Ein Krieg wie in der Ukraine ist eine Flut an Tod, Leid, Verbrechen … Wer soll dem gerecht werden?

Niemand kann das. Niemand wird es je tun. Und trotzdem ist es keine Haltung, Schreckliches einfach zu ignorieren, weil es zu gross ist.

Wir haben deshalb hier sehr, sehr dünne Nachrufe von sehr, sehr wenigen der mehr als hundert­tausend Toten des Krieges geschrieben – Männer, Frauen, Soldaten, Zivilisten, Prominente, Kinder, russische Invasoren. Unser Auswahl­kriterium war ebenfalls das des Krieges: der Zufall.

Und da die Wahrheit eines der ersten Opfer im Krieg ist, haben wir uns bei den Quellen an das Best­mögliche gehalten – die klassischen, gut recherchierten Zeitungsartikel.

Nurmagomed Gadzhimagomedov – 27. Februar 2022, nördlich von Kiew

In offiziellen Gebäuden Russlands hängt nun gelegentlich das Porträt von Nurmagomed Gadzhimagomedov, Ober­leutnant der russischen Armee – etwa hinter der nationalen Ringer­mannschaft in einer Turnhalle. Der Grund? Er war der erste offiziell bestätigte gefallene Soldat auf russischer Seite. Gadzhimagomedov starb wenige Stunden nach der Invasion. Angeblich geriet er in einen Hinterhalt und zündete eine Granate, die auch noch mehrere Ukrainer tötete. Anfang März erklärte ihn Wladimir Putin zum Helden Russlands – «leider posthum».

Gadzhimagomedov wurde 25 Jahre alt. Er kam aus Dagestan – die mausarmen asiatischen Provinzen sind das Haupt­rekrutierungs­reservoir der russischen Armee. Ein Grund, warum der russischen Führung das Leben der eigenen Soldaten so wenig wert ist wie das Leben ihrer Gegner.


Iryna Filkina – 5. März 2022, Butscha

Im Jahr zuvor hatte Iryna Filkina einen Plan gefasst: Endlich so zu leben, wie sie es wünschte. Und sich selbst zu lieben. Sie begann einen Kurs bei einer Kosmetikerin. Und träumte von Schönheit, Ruhm und einer Karriere auf Instagram.

An ihrem letzten Tag fuhr sie mit dem Fahrrad nach Hause. Ihre Tochter bat sie, den Zug zu nehmen. Iryna erwiderte: «Olga, kennst du nicht deine Mutter? Ich kann Berge versetzen!»

Sie blieb verschollen. Bis nach dem Abzug der Russen ein Reporter das Foto einer sorgfältig manikürten Hand einer weiblichen Leiche im Dreck des Waldbodens südlich von Butscha machte. Daran wurde die Kosmetikerin erkannt: durch das Herz auf dem Nagel des Ringfingers.

Von Irynas Plänen blieb das Foto ihrer Hand, das um die Welt ging.


Veronika und Petro Kovalenko – 5. März 2022, Tschernihiw

Der Krieg ist 9 Tage alt, als Viktoria Kovalenko und ihr Mann Petro sich entschlossen, aus Tschernihiw Richtung Norden zu fliehen.

Nicht zuletzt wegen der Kinder: Viktorias Tochter Veronika aus erster Ehe und ihr gemeinsames Baby Varvara, ein Jahr alt.

Sie packten das Nötigste ins Auto. Sie hatten die Stadt gerade hinter sich gelassen, als mehrere Steine die Strasse blockierten. Petro hielt am Strassen­rand und stieg aus, um sie wegzuräumen.

Sekunden danach fielen Schüsse. Viktoria wurde von Glas­splittern getroffen, ihre Tochter Veronika geriet in Panik. Viktoria stieg hinter der Tochter aus dem Auto, sie sah, wie sie fiel und dann sah sie, dass Veronika keinen Kopf mehr hatte. Das Auto war von einer Granate getroffen worden.

Sie sagte sich, dass sie ruhig bleiben müsse wegen der zweiten Tochter. Da sie auch von Petro nichts hörte, wusste sie, dass auch er tot war.

Viktoria wurde am nächsten Tag von einer russischen Patrouille aufgegriffen.

Die nächsten 24 Tage verbrachte sie mit dem Baby in dem Keller eines Schul­hauses, zusammen mit 40 weiteren Leuten. Der Keller war staubig, heiss, ohne Fenster und Licht. Durch den Mangel an Bewegung begannen die Leute zu bluten. Einige starben.

Viktoria schaffte es, ihr Baby durch­zubringen. Als sie von den Russen freigelassen wurde, bat sie darum, die Leichen ihres Mannes und ihrer Tochter begraben zu können.

Am 12. März gab ein Russe per Telefon einen Ort im Wald bekannt. Sie fand dort zwei Särge, einen grossen und einen kleinen. Sie versuchten, sie zu begraben, schafften es aber nur halb, weil rundherum geschossen wurde.

Viktoria Kovalenko und ihre Tochter Varvara leben heute in Lwiw, im Westen der Ukraine. «Wenn ich mit Menschen zusammen bin», sagte sie der BBC, «kann ich vergessen. Wenn ich allein bin, bin ich verloren.»


Oleksandra Kuvshynova – 14. März 2022, Horenka

Die 24-jährige Medien­produzentin war mit Journalisten von Fox News unterwegs, als ihr Fahrzeug ausserhalb von Kiew unter Beschuss kam. Oleksandra Kuvshynova starb auf der Stelle. Bis heute ist nicht abschliessend geklärt, von welcher Seite das Feuer kam. Ab 2019 hatte sie den US-Sender sporadisch dabei unterstützt, Gesprächs­partnerinnen vor Ort zu finden und im Land herumzureisen – ab Januar dann regelmässig.

Sie zog Poesie Partys vor, war diszipliniert, eine begabte Fotografin, ihr Traum war, Filme zu machen. Ihr Vater sagte: «Nach ihrem Tod meldeten sich Dutzende Leute bei uns. Sie erzählten uns viele Dinge, die wir als Eltern von ihr nicht gewusst hatten. Sie war ein sehr freundlicher Mensch.»


Vanda Semyonovna Obiedkova – 4. April 2022, Mariupol

Als Kind, im Oktober 1941, entging sie dem Tod nur, weil sie sich in einem Keller in Mariupol versteckte. SS-Offiziere holten Obiedkovas Mutter ab, insgesamt ermordeten sie zwischen 9000 und 16’000 Juden in der Stadt. Vanda war damals 10.

Über 80 Jahre später, als alte Frau, musste sich Vanda Semyonovna Obiedkova erneut in einem Keller in Mariupol verbergen. Es gab keinen Strom. Kein Wasser. Keine Heizung. «Wir lebten wie Tiere», sagte Obiedkovas Tochter später einem israelischen Reporter.

Vanda Semyonovna Obiedkova verbrachte ihr ganzes Leben in Mariupol. Sie erfror dort am 4. April 2022.


Frédéric Leclerc-Imhoff – 30. Mai 2022, Lyssytschansk

«Der Journalist Frédéric Leclerc-Imhoff war in der Ukraine, um die Realität des Krieges aufzuzeigen», schrieb Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf Twitter. «An Bord eines humanitären Busses, zusammen mit Zivilisten, die gezwungen waren, vor den russischen Bomben zu fliehen, wurde er tödlich getroffen.» Leclerc-Imhoff arbeitete 6 Jahre als Kamera­mann für den französischen Sender BFMTV. Es war seine zweite Tour in der Ukraine nach der Invasion. Er sei nie ein Drauf­gänger gewesen, immer gut vorbereitet, sagte sein Chef. Leclerc-Imhoff wurde 32 Jahre alt.


Roman Ratushny – 9. Juni 2022, Isjum

Im November 2013 demonstrierte Roman Ratushny in Kiew gegen den damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Er war damals 16. Und er blieb ohne Pause auf dem Maidan bis zum Erfolg der Revolution drei Monate später.

Er blieb ein Mann des Mutes. Später etwa legte er sich – noch einmal gefährlicher – mit den Oligarchen an, etwa illegalen Baulöwen. Diese schrieben ihm: «Wenn wir dich nicht bestechen können oder die Sache sonstwie lösen, ist es einfacher, dich zu töten.» Ratushny machte weiter. Als ihn die Polizei verhaftete, musste sie ihn nach Protesten wieder freilassen.

Am 24. Februar 2022 war niemand von seiner Entscheidung überrascht. Noch bevor die Territorial­verteidigung systematisch organisiert war, hatte Ratushny bereits eine Einheit von Freiwilligen gebildet. Nach rund einem Monat trat er den ukrainischen Streit­kräften bei und wurde, nach ersten Kämpfen im Gebiet Sumy, an die Ostfront bei Charkiw geschickt – wo es Granaten (und mutmasslich Streumunition) vom Himmel regnete.

Als sein Sarg im Juni in Kiew eintraf, knieten Hunderte Leute am Strassen­rand. Er wurde 24 Jahre alt.


Olha und Taras Melster – 21. Juni 2022, bei Sjewjerodonezk

Alle, die sie kannten, waren überrascht, als sie sich freiwillig meldeten. «Keine Sorge», sagte Olha ihrer Mutter Liudmyla.

Taras und Olha waren Anfang 30, lebten in einer winzigen Wohnung mit einem riesigen Hund, sie wollten Kinder haben und waren daran, ein Leben aufzubauen: er als Elektro­ingenieur, sie als Künstlerin.

Sie hatten sich als Kinder in der jüdischen Schule kennen­gelernt und nach einigen Umwegen mit 25 geheiratet.

Sie hatten keinerlei militärische Erfahrung – und als sie sich mit Freunden nach dem Einmarsch meldeten, erwartete keiner von ihnen, an die Front versetzt zu werden. Taras dachte, er werde etwas mit Computern machen, sie wurde als Köchin genommen.

Im Mai wurde Taras’ Einheit in den Donbass versetzt. Sie kämpfte wie der Teufel dafür, an seine Seite zu kommen, sie liess nicht locker. Am Ende war sie die einzige Frau in der ganzen Einheit.

Das Ehepaar erhielt eineinhalb Tage Schiesstraining – gedacht waren sie als zweite oder dritte Verteidigungs­linie. Anfangs lagen sie leicht bewaffnet in friedlichen Pinien­wäldern nahe Sjewjerodonezk.

Aber der Stellungskrieg im Osten brachte hohe Verluste. Taras rückte nach und damit auch Olha. Sie schlich sich immer wieder nach ganz vorn in die Schützen­gräben. Bei Angriffen schoss sie zurück.

Der 21. Juni war der erste Sommertag mit einem weiten blauen Himmel. Olha erschien um 10 Uhr im Schützen­graben bei Taras, die Russen begannen ihr übliches Artillerie­feuer, etwas heftiger als sonst, und plötzlich traf etwas Grosses, eine Rakete oder eine Flieger­bombe, den Graben. Sie starben gemeinsam.

Seitdem zündet Taras’ Vater auf dem Friedhof vor ihrem Grab immer zwei Zigaretten an, eine für den Sohn. Seine Mutter war noch nie am Grab, weil sie sonst für immer dort bleiben würde.


Oleksij Wadaturskyj – 31. Juli 2022, Mykolajiw

Wadaturskyj war einer der reichsten Ukrainer. Gründer und Direktor von Nibulon, dem zweitgrössten ukrainischen Exporteur von Getreide. Er lebte in Mykolajiw, der grössten ukrainischen Hafen­stadt am Schwarzen Meer.

Wadaturskyij starb beim bis dahin grössten Beschuss der Stadt gemeinsam mit seiner Frau, Raisa Wadaturska, als eine russische Rakete sein Haus traf. Vor seinem Tod soll er nach alternativen Liefer­routen gesucht haben, da der Hafen von Odessa blockiert war.

Russia Today lobte seine Ermordung als «De-Nazifizierung in action».


Iwan Sushko – 24. August 2022, Mychajliwka

Etwa um 8 Uhr morgens explodierte in Mychajliwka in der Region Saporischschja eine Autobombe. Iwan Sushko, der von Russland eingesetzte Bürger­meister des Dorfes, wurde schwer verletzt ins Kranken­haus gebracht. Dort starb er noch am selben Tag.

Vor der Invasion soll er sich sein Geld als Party­unterhalter und Weihnachts­mann verdient haben.


Denys Kolchyn – 3. September 2022, Selenodolsk

Anastasiia Kolchyna sass mit ihren Zwillingen auf der Parkbank. Sie hörte, wie jemand schrie: «Runter! Auf den Boden!»

Nach der Explosion hörte sie Ruslan schreien, aber Denys nicht. Sie taste in der Staubwolke nach ihm und fand zwei münzen­grosse Wunden im Rücken.

Es war eine von mehreren Raketen an diesem Tag. Die Gemeinde gab 15 Minuten vorher eine Warnung heraus, aber Anastasiias Handy hatte keinen Empfang.

Eine Ambulanz brachte Denys ins 50 Kilometer entfernte Kinder­spital. Aber es war zu spät: Er hatte zu viel Blut verloren.

Als man es ihnen sagte, fiel Ruslan dem Arzt zu Füssen und schrie: «Mein Bruder kann nicht sterben! Ihr versteht nicht. Er ist mein liebster Mensch. Er ist was Besonderes!»

Einmal, im Kinder­garten, hatte man Ruslan und Denys gefragt, wer ihre Freunde seien. Sie antworteten: «Niemand. Weil wir brauchen doch niemanden, wenn wir uns haben!»

Denys wurde am 6. September begraben, 9 Jahre alt.


Oleksandr Shapoval – 12. September 2022, Majorsk

Vor der Invasion war Shapoval einer der Haupt­tänzer an der ukrainischen Nationaloper und unterrichtete Choreo­grafie. Danach meldete er sich freiwillig, in der Armee bediente er einen Granatwerfer.

Er starb Anfang des Herbstes in der Region Donezk unter Mörser­beschuss.

Die Primaballerina Christina Schischpor kannte ihn seit 22 Jahren. Sie tanzten gemeinsam «Schwanensee». Sie sagte: «Ein zuver­lässiger Partner, ein zuver­lässiger Freund, ein aufrichtiger Mensch. Und ich muss sagen, dass er die Seele des Teams war.»

Shapoval hinterlässt seine Frau, einen Sohn und eine Tochter.


Anastasya Grycenko – 17. September 2022, Tschuhujiw

Mitte September liess der konstante russische Beschuss nach, der monatelang auf die Millionen­stadt Charkiw nieder­gegangen war.

Die Familie Grycenko fühlte sich sicher genug, ein Wochenende in ihrer Datscha ausserhalb zu verbringen. «Nasta», so nannten die Eltern ihre 11-jährige Tochter, freute sich auf das Fahrrad­fahren. Ihre Eltern hatten kurz das Haus verlassen, als die russische S-300 einschlug.

Ein Nachbar sagte, Nasta habe noch einen Moment weiter­gelebt, als er zum Krater gekommen sei.


Juri Kerpatenko – Ende September 2022, Cherson

Laut dem ukrainischen Kultur­ministerium planten die russischen Besatzer am 1. Oktober ein Konzert, um die «Verbesserung des friedlichen Lebens» in Cherson zu feiern. Teilnehmen sollte daran das Hilea-Kammer­orchester unter Chefdirigent Juri Kerpatenko. Kerpatenko weigerte sich.

Die Besatzer erschossen ihn in seinem Haus.

Cherson wurde am 11. November von den ukrainischen Streit­kräften befreit.

Das Theater, an dem Kerpatenko angestellt war, trug den Namen von Mykola Kulisch, einem sozialistischen Dramatiker, der am 3. November 1937 zusammen mit 289 anderen ukrainischen Intellektuellen von der sowjetischen Geheim­polizei erschossen wurde.


Jewgeni Nushin – 11. November 2022, Ort unbekannt

Über 20 Jahre nach seiner Verurteilung wegen Mordes landete ein Helikopter im Gefängnis, in dem Jewgeni Nushin einsass. Diesem entstieg Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldner­truppe Wagner.

Er war in das Gefängnis südlich von Moskau gekommen, um den Insassen einen Vorschlag zu machen: Wer sich freiwillig für den Krieg meldet und sechs Monate überlebt, kommt als freier Mann zurück.

Nushin desertierte am zweiten Tag an der Front. «Was hat Putin in der Zeit, in der er an der Macht ist, Gutes getan? Hat er irgendetwas Gutes getan?», sagte Nushin, 55, zur «New York Times» im ukrainischen Kriegs­gefangenen­lager. «Ich glaube, dieser Krieg ist Putins Grab.»

Ein paar Tage später schickte ihn die Ukraine zurück. Gefangenen­austausch. Freiwillig, sagt die Ukraine.

In einem Video, das Prigoschin verbreitete, sieht man Nushin in einem Keller, den Kopf an einer Wand fixiert. «Sie sagten mir, über mich würde nun Gericht gehalten», sagt Nushin in dem Video. Dann schlägt ihm ein Mann im Kampf­anzug einen Vorschlag­hammer gegen Kopf und Nacken.

Dem Reporter Bohdan Papadin, der ihn im Gefangenen­lager interviewt hatte, war Nushin durch seine ausser­gewöhnliche Ruhe aufgefallen. Auch im Video kurz vor seiner Hinrichtung zeigte er nicht die geringste Nervosität.

«Ich vermute, dass es das ist, was 23 Jahre in russischen Gefängnissen mit dir machen», sagte er: «Dir bleibt kein Gefühl von Angst mehr übrig.»


Serhii – 23. November 2022, Wilnjansk

Serhii war gesund, ein wenig kleiner als 50 Zentimeter, ein wenig leichter als 3 Kilo. Er hatte ein rundes Gesicht, zwei viel grössere Schwestern und einen 7-jährigen Bruder, der ihm bereits seit Wochen seinen Spielzeug­traktor zeigen wollte.

Er kam an einem Montag­morgen zur Welt. In der Nacht auf den Mittwoch traf die erste Rakete die Kleinstadt, eine Stunde später schlug eine in der Geburts­klinik ein. Trümmer fielen auf das Bett der Mutter.

Die Helfer fanden Maria Kamianetska barfuss im Schutt. Der Mann, der ihren Sohn fand, hielt ihn zuerst für eine Puppe.

Die Eltern begruben ihn am nächsten Tag, damit seine Geschwister ihn nicht so sehen mussten. Serhii bekam einen Kuss der Mutter, Weihwasser, Blumen, einen Kinder­wagen, einen Schmetterling und einen Stofftiger.

In der Nacht träumte Maria Kamianetska von ihrem Sohn: dass er Hunger habe. Am Morgen nahm sie seine Geschwister ins Auto und brachte ihm Kekse und Schokolade.


Igor Mangushev – Anfang Februar, irgendwo in Luhansk

Mangushev, ein russischer Neonazi, war im Sommer durch ein Video bekannt geworden, als er bei einem Popkonzert mit einem menschlichen Schädel aufgetreten war, von dem er sagte, er habe einem ukrainischen Soldaten gehört.

Er sprach davon, dass man nichts gegen die Menschen habe, sondern gegen die Idee einer antirussischen Ukraine – und man deshalb alle mit dieser Idee töten müsse.

«Versteht er jetzt, was russische Welt bedeutet?», rief jemand aus dem Publikum.

«Ich denke, jetzt schon», sagte Mangushev.

Mangushev arbeitete als Propaganda­chef von Jewgeni Prigoschin, dem Chef der Wagner-Södner.

Mangushev starb weit weg von der Front durch einen von oben abgegebenen Schuss in den Kopf – kurz: durch eine Exekution. Hinter­bliebene und Kameraden werteten das als politische Botschaft an seinen Chef.


Oleksii Zavadskyi – 14. Januar 2023, Bachmut

Oleksii und Anna küssten sich mit 15, und sie hatten nie wieder etwas miteinander.

Dann starb Ende August Oleksiis bester Freund Yurii an der Front. Am Abend nach dem Begräbnis küsste Oleksii Anna wieder und sagte, dass er sie schon immer geliebt habe, aber nichts gesagt habe, weil sie mit einem guten Kollegen von ihm zusammen war. Aber das sei ihm jetzt egal.

Seitdem telefonierten sie täglich.

Anna sagte später: «Yuriis Tod zwang uns, die Tatsache zu akzeptieren, dass wir im Leben nur etwas machen können, solange wir lebendig sind.»

Oleksii war in Bachmut stationiert.

Mitte September war er eines Abends sehr müde, und er fragte, ob sie nach Urlaubs­gründen recherchieren könnte. «Du willst mich doch nicht etwa heiraten?», fragte sie. «Wir können das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden», antwortete er.

Seitdem waren sie verlobt.

Am 13. Januar erzählte ihr Oleksii, dass es im Schützen­graben zum Schlafen zu kalt sei. Ausserdem bedrückte ihn, dass die feindlichen Stellungen nur noch 15 Meter entfernt waren. Und dass er es keine einfache Sache fände, auf jemanden zu schiessen, der so nah sei.

Sie schärfte ihm ein: «Du musst dich immer daran erinnern: Wenn du ihn nicht tötest, tötet er dich.»

Am nächsten Morgen starb Oleksii Zavadskyi durch eine Kugel, die ihn im Genick traf.


Was damit tun? Eine Kerze anzünden?

Nun, wahrscheinlich wäre das Respekt­vollste: das Kriegsmaterial­gesetz für Munitions­lieferungen an die Ukraine zu lockern, die russischen Oligarchen­konten zu enteignen und die geflüchteten Ukrainer nicht dazu zu zwingen, ihr Auto zu verkaufen.

Es gibt Politiker, die für, und solche, die gegen diese Massnahmen sind. Diesen Herbst wird in der Schweiz gewählt.

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