Wie «der Ausländer» in die Kriminal­statistik kam

Schon vor bald 200 Jahren wollten Statistiker beweisen, dass die Herkunft einen Einfluss auf die Kriminalität hat. Doch gegen Vorurteile hilft auch keine Wissenschaft.

Von Tin Fischer, 23.02.2023

Vorgelesen von Regula Imboden
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Nach den Ausschreitungen in der Silvesternacht liess es die Berliner CDU nochmals ordentlich krachen. Sie verlangte, von den verhafteten Deutschen die Vornamen zu erfahren – weil sie Hinweise auf die Herkunft geben könnten. Die Empörung war gross. «Rassistische Ressentiments» wolle die Partei schüren, hiess es. Es war gerade Wahl­kampf in der Stadt. Die Vornamen haben die Konservativen zwar nicht bekommen, die Wahlen aber trotzdem gewonnen.

Woher das Interesse an der Nationalität von Tätern kommt, ist schon deshalb nicht leicht zu sagen, weil es keineswegs normal ist. Deutschland und die Schweiz unterscheiden zwischen Staats­angehörigkeit; Frankreich differenziert zwischen Frankreich, EU, Europa, Afrika, Asien und andere. Dänemark schlüsselt in erste und zweite Generation auf. Die USA halten die Unter­scheidung in race (White, Black or African American, Other) und ethnicity (Hispanic or Latino, not Hispanic or Latino) für relevant.

Die Briten wiederum scheinen sich bei ihren Kategorien an einer Landkarte des alten Imperiums zu orientieren: Asiatisch (Bangladeshisch, Chinesisch, Indisch, Pakistanisch und andere), Schwarz (unterschieden in Afrika und Karibik und andere), Weiss (Britisch, Irisch, Gypsy/Traveller und andere), Arabisch und Kombinationen aus allem mit allem.

Mal ist es der Pass, mal der Geburtsort, mal die Haut­farbe, mal die Herkunft der Eltern, mal die der Gross­eltern oder der Urururur­grosseltern, die statistisch erfasst werden muss.

Nur: Warum eigentlich?

Quetelet und die Moral­statistik

Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte der einflussreiche Statistiker Adolphe Quetelet mit Zahlen zu messen, was ein guter Mensch ist. Moral­statistik nannte sich die neue Disziplin. Quetelet interessierte sich besonders für Gerichts­statistiken. Sie sagten zumindest, was ein schlechter Mensch ist: Kriminell waren vor allem junge Männer.

Zwar stellte Quetelet fest, dass auch der Bildungs­grad und das Einkommen, die Menge an Eigentum und dessen ungleiche Verteilung sowie die Jahreszeit und das Klima Einfluss auf Straftaten haben. Der «traurige Hang» zum Verbrechen aber sei am stärksten mit 25 Jahren, und auf jede Frau stünden drei Männer vor Gericht, schrieb er in seinem Buch «Über den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten».

Über kriminal­statistische Karten von Frankreich gebeugt, untersuchte Quetelet die Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen. So glaubte er, die kriminelle Energie von «Volks­stämmen» zu messen. Seine Analysen waren krude. Auf Korsika war die Zahl der Verbrechen an Personen hoch. Quetelet räsonierte, der Korse sei eben «empfänglich für einen glühenden Hass», der über Generationen weiter­getragen werde, weshalb er «Mord fast als eine Tugend» betrachte. Überhaupt neigten die Völker am Mittelmeer «besonders zu Verbrechen an Personen», die holländischen und friesischen hingegen zu Eigentums­delikten. Die germanischen Stämme würden beides verüben, weil es dort so viele Menschen und Eigentum gebe; ausserdem würden sie viel trinken.

Am sittlichsten von allen seien die keltischen Stämme in Frankreich und im wallonischen Belgien, hielt Quetelet fest. Das gaben die Daten zwar kaum her. Aber letztere Region war die, aus der auch Quetelet stammte.

Ein riesiger Zahlen­berg

Für feinere Analysen fehlten Quetelet die Daten. Die Herkunft der Täter wurde in der französischen Justiz­statistik – die ab 1825 als erste ihrer Art erschien – kaum erhoben.

Doch dann, 1871, wurde das Deutsche Kaiserreich gegründet, ein mehr oder weniger freiwilliger Zusammen­schluss von Staaten. Ein neuer Staat, der nach preussischer Art vermessen und kontrolliert werden musste.

In einem Museum der berühmtesten Statistiken hätte die Reichs­kriminal­statistik einen eigenen Saal. Dieses Tabellen­werk sucht seinesgleichen. «Sie war unglaublich genau und umfangreich, ein riesiger Berg an Daten. Das gab es hundert Jahre lang nicht wieder», sagt Dietrich Oberwittler, Kriminal­soziologe am Max-Planck-Institut. «Sie hat alles mögliche erfasst: verschiedene Regionen, welche Religionszugehörigkeit die Täter hatten, ihren Familienstand.» Und hier taucht er auf, in einer eigenen, prominenten Spalte, gleich neben den Jugendlichen und Vorbestraften: der Ausländer.

Warum wurde diese Kategorie erstellt? «Ich weiss es nicht», sagt Oberwittler. Die Herkunft der Kategorie ist kaum erforscht. «Wahrscheinlich war sie rechtlich relevant, weil Straftäter, die keine deutsche Staats­angehörigkeit hatten, abgeschoben werden konnten», so Oberwittler. Es ist die Zeit, in der sich National­staaten bilden. Da stellt sich die Frage, wer dazugehört und wer nicht. «Auch die Kriminal­statistiken von 1890 in Genf und 1895 in Zürich unterschieden zwischen Ausländern und Schweizern», sagt Urs Germann, Historiker an der Universität Bern.

Migration ist Ende des 19. Jahr­hunderts ein grosses Thema, im Deutschen Reich und in der Schweiz. Fabriken und der Bau der Eisenbahn verlangten nach neuen Arbeits­kräften. In den 1850er-Jahren lebten in der Schweiz rund 3 Prozent Ausländerinnen, rund 60 Jahre später waren es knapp 15 Prozent. Im Deutschen Reich verlief es ähnlich. «Seit den 1880er-Jahren wuchs der Bedarf an Arbeits­kräften immens an, auch durch steigenden Arbeitskräfte­bedarf in der Landwirtschaft, der nicht durch innerdeutsche Migration gedeckt werden konnte», sagt Gabriele Franzmann, die beim Leibniz-Institut für Sozial­wissenschaften (Gesis) die Reichs­kriminal­statistik digitalisierte. Diese Wander­arbeiter standen unter sozialer Kontrolle und konstanter Beobachtung – medial, aber auch statistisch.

Sozial­statistik wird Rassen­statistik

Erst einmal sind das alles nur Zahlen. Aber die Zahlen sind die Klaviatur, auf der Statistikerinnen ihre Lieder spielen. So wie der Bayer Georg von Mayr, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer der wichtigsten Bevölkerungs­statistiker. Wie Quetelet war auch von Mayr Moral­statistiker, nur glaubte von Mayr, nicht mehr so «naiv» wie Quetelet zu sein, weil er mehr Daten hatte. Und mit diesen Daten wollte er die Frage klären, an der Quetelet gescheitert war: welchen Einfluss die «Abstammung» auf die Kriminalität hat.

Mit «Abstammung» begreife er in erster Linie: «Rasse».

Einen «Sondernachweis über Rassen-Verfehlichkeit» versuchte von Mayr anhand der Kriminalität von Schwarzen (die er mit einem Namen bezeichnete, den wir nicht wieder­holen wollen) in den Vereinigten Staaten sowie der «Verfehlichkeit der Juden» in Deutschland zu erbringen. Nur diese beiden Gruppen waren, aus Mayrs Sicht, isoliert genug für eine Analyse. Bloss lieferten die Daten nicht das gewünschte Resultat.

Schwarze in den USA sassen zwar deutlich häufiger im Gefängnis als Weisse. Aber dass in den USA die Gerichte «in den Händen der Weissen» waren und deshalb nicht neutral, das sah auch von Mayr ein. Von der sozialen Ungleichheit ganz zu schweigen. Hinzu kam, dass Mexikaner, Italienerinnen, Österreicher, Französinnen, Kanadier und Russinnen verhältnis­mässig noch viel häufiger in amerikanischen Gefängnissen sassen. Waren diese etwa krimineller?

Bei der «Verfehlichkeit der Juden» waren die Zahlen noch widerspenstiger. Die Juden in der Reichs­kriminal­statistik fielen vor allem dadurch auf, dass ihre Straftaten weniger zahlreich waren als die von Katholiken und Evangelischen, selbst relativ zum Bevölkerungs­anteil. Einzige Ausnahme waren «Verbrechen gegen den Staat, öffentliche Ordnung und Religion». Jüdinnen hatten zur grossen Überraschung von Mayrs überaus oft gegen die Sonntagsruhe verstossen.

Auffällig kriminell waren die Katholiken. Wieder hätte man fragen können: Warum sind Christinnen im Vergleich zu Juden so kriminell? Auch darauf ging von Mayr nicht ein. Obwohl er mit «strengster wissenschaftlicher Objektivität» arbeiten wollte, interessierte ihn nur, ob er eine jüdische Kriminalität nachweisen konnte, nicht eine katholische oder evangelische.

Auf der Suche nach der «Verfehlichkeit der Juden»

Verurteilte im Deutschen Reich im 19. Jahrhundert pro 100’000 strafmündige Personen der jeweiligen Religion

evangelisch
katholisch
jüdisch
Personendelikte0461 0634 0382 Verbrechen und Vergehen01122 01361 01030 Vermögensdelikte0489 0559 0410 Öffentliche Ordnung0169 0164 0234

Quelle: Georg von Mayr

Um weiter unterscheiden zu können, wie kriminell «die Rassen der Weissen, Gelben, Roten, Schwarzen» sind, fehlten von Mayr die Daten. Er brauchte eine Ersatz­kategorie: die Nationalität. Zwar erhoben immer noch nur wenige Länder die Nationalität der Täterinnen. Aber immerhin die Schweiz und Österreich taten es. Auch mit ihren Daten konnten von Mayr und andere nun der Frage der «Rassen-Verfehlichkeit» weiter auf den Grund gehen.

Die Straftaten von Ausländern waren in allen Statistiken deutlich erhöht. Aber von Mayr war Statistiker genug, um zu realisieren, dass sich «daraus keine massgebenden Rückschlüsse auf die Kriminalität der fremden Volksarten» ziehen lassen. Denn auch von Mayr wusste, dass vor allem junge Männer kriminell sind. Und Ausländer sind über­durchschnittlich oft: junge Männer.

Wie aber erklären sich dann die Unterschiede zwischen den Nationalitäten? Liess sich daraus eine «Rassen-Verfehlichkeit» ableiten? Zwar sah von Mayr auch hier schnell ein, dass die Unterschiede schlicht und einfach durch die wirtschaftlich unterschiedliche Zusammen­setzung der «Ausländer­kontingente» bedingt sind. Zuwanderer aus Russland waren ärmer als Menschen aus den USA: Entsprechend krimineller waren die Russinnen.

Von seinen eigenen Zahlen in die Enge getrieben, blieb von Mayr nur noch eine bizarre Flucht nach vorn: Die Unterschiede zwischen den Nationalitäten seien «so erheblich», schrieb er, dass die Staats­zugehörigkeit «vielleicht, wenn auch nicht in messbarer Weise» zur Kriminalität beitrage. Man könnte auch sagen: Es gab keine messbare «Rassen-Verfehlichkeit», aber es musste sie geben, also war sie einfach nicht messbar.

Die Kategorie «Ausländer» wird politisch

Politisch waren die Zahlen der Kriminal­statistik zumindest in der Schweiz lange kaum relevant. «Bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Kriminalitäts­debatte relativ losgelöst von empirischen Daten geführt», sagt Historiker Germann, der die Geschichte des Schweizer Strafrechts erforscht. «Es gab Versuche, die Rück­fälligkeit statistisch festzumachen. In der politischen Diskussion über Gewohnheits­verbrecher kümmerte man sich kaum um exakte Daten.» Kriminal­statistik ist ein akademisches Thema, das in der Öffentlichkeit nur wenig diskutiert wird – bis in die 1990er-Jahre, als Kriminalität zu einem der grossen politischen Themen wurde.

Westliche Länder erlebten damals schon seit längerer Zeit einen Anstieg der Gewalt: Mord und Totschlag, aber auch Einbrüche und Überfälle hatten seit den 1970er-Jahren zugenommen.

Der grosse Gewalt­anstieg

Verurteilungen für gewaltsame Tötungs­delikte

197019872004202101020 pro Million Einwohner

Quelle: Bundesamt für Statistik.

Politisch rechts werden Themen wie Drogen­kriminalität forciert, links Themen wie häusliche Gewalt. Aber kein Begriff macht in den Neunziger­jahren eine derart steile Karriere wie «Ausländer­kriminalität». Diese vertrackte statistische Kategorie, an der sich Kriminologinnen seit 150 Jahren die Zähne ausbeissen.

In der Schweiz ist es vor allem die SVP, die aus der Kategorie «Ausländer» in der Kriminal­statistik politisches Kapital schlägt. Das funktioniert derart gut, dass sich das Bundesamt für Statistik Mitte der Neunziger­jahre zu einer äusserst ungewöhnlichen Presse­mitteilung veranlasst sieht. Normaler­weise meldet das Bundesamt Umsätze im Detail­handel, Güter­verkehr auf den Strassen oder die Beschäftigung im vergangenen Quartal. Im Mai 1996 jedoch titelt das Amt: «Sind Ausländer krimineller als Schweizer?»

Das Bundesamt für Statistik schreibt nur, was lange schon bekannt ist: dass gewisse Delikte nur von Ausländerinnen begangen werden können und die Statistik verzerren. Dass sich die Delikte je nach Aufenthalts­status stark unterscheiden. Vor allem aber, dass die Unterschiede zwischen Ausländern und Schweizerinnen praktisch verschwinden, sobald man nach Alter und Geschlecht gewichtet.

«Unser Ziel war ein differenzierter Blick, eine rationale Behandlung und Depolitisierung statt einer stereotypen Zuweisung von Schuld», sagt Daniel Fink, der damals beim Bundesamt für Statistik für das Thema zuständig war.

Und hat es funktioniert?

In der Öffentlichkeit: weniger. 2010 erhob das Bundesamt detaillierte Zahlen zu Tätern. «Neue Statistik: Tamilen sind krimineller als Ex-Jugoslawen», titelte daraufhin die «Sonntags­zeitung». Das Blatt rechnete vor, Tamilen seien «fast fünf Mal krimineller als Schweizer», ähnlich kriminell wie Dominikaner. Der Direktor des Bundesamts für Migration zeigte sich «von der Deutlichkeit des Bildes» überrascht. Und das Bundesamt für Statistik versuchte, die Zahnpasta wieder zurück in die Tube zu kriegen, indem es in einer neuen Medienmitteilung schrieb, «Verallgemeinerungen und Vergleiche» seien bei solch kleinen Personen­gruppen «problematisch». Die Reihen­folge der Nationalitäten könne stark variieren.

Nur spielen weder die Zahlen noch die Reihenfolge eine Rolle, wenn die Kategorie die Botschaft ist.

Sollte man die Kategorie also einfach abschaffen?

«Da Kriminalität ein soziales Problem und nicht ein Nationalitäten­problem ist, müsste man sie abschaffen», sagt der Statistiker Daniel Fink. «Sinnvoller wären Daten zur sozialen Lage. Aber auf Sozial­daten hat man in der Kriminal­statistik oft verzichtet. Weil sie aufwendig zu erheben sind.»

Zum Autor

Tin Fischer hat Geschichte studiert und arbeitet als freier Journalist unter anderem für «Die Zeit». 2022 ist sein Buch «Linke Daten, Rechte Daten» erschienen, in dem Fischer zeigt, wie unterschiedlich und abhängig von der politischen Couleur sich Daten interpretieren lassen.

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