Wehr dich doch

Wenn Fälle von Belästigung am Arbeits­platz bekannt werden, machen gerne Ratschläge die Runde, wie das Opfer sich hätte verhalten sollen. Fällt da niemandem was auf?

Von Ronja Beck, Theresa Hein und Marie-José Kolly, 18.02.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
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Vor zwei Wochen erhob die Reporterin Anuschka Roshani Vorwürfe gegen ihren früheren Chef­redaktor Finn Canonica. Canonica, 15 Jahre Chef und Aushängeschild des renommierten «Magazins» des «Tages-Anzeigers», soll Roshani über Jahre gemobbt, diskriminiert und mit sexistischen Kommentaren bedacht haben. Canonica habe ein «Klima der Angst» geschaffen, sagten andere ehemalige Mitarbeiter. Nach 20 Jahren beim «Magazin» wurde Anuschka Roshani gekündigt.

Roshani formulierte ihre Situation laut eigener Aussage über Jahre hinweg bei verschiedenen Stellen im Haus. Sie setzte sich zur Wehr, wie sie schrieb. Anderen Menschen gelingt das nicht.

In den sozialen Netzwerken kam trotzdem schnell eine Frage auf, die Finn Canonica auch in seiner Stellung­nahme antönte:

Wenn es so schlimm war, wie die Journalistin sagt, warum ist sie nicht früher gegangen?

Oder wenn man vom konkreten Fall weggeht: Warum ziehen Menschen, denen am Arbeits­platz Unrecht getan wird, häufig erst so spät Konsequenzen?

Die Frage ist nicht so unverfänglich, wie sie daherkommt. Sondern teuflisch perfid. Sie verdrängt das wesentlich komplexere Problem: dass Grenz­überschreitungen am Arbeits­platz ungehindert stattfinden. Auch über viele Jahre hinweg. Sexuelle Belästigung, Sexismus und Mobbing sind nicht dasselbe. Doch in all diesen Fällen werden Menschen in Situationen gebracht, in die sie nicht gebracht werden wollen.

Nichts ist so einfach, wie es scheint. Und bei Sexismus und Belästigung muss man besonders genau hinschauen. Grundlegende Dinge – etwa, wann ein Verhalten eindeutig sexuelle Belästigung ist – mögen zwar im Nach­hinein oder von Dritten einfach fest­zustellen sein. Einfach ist daran trotzdem nichts.

Da war doch gar nichts

Bevor man auf Grenz­überschreitungen reagieren kann, muss man sie erst mal erkennen. Man muss verstehen, was da gerade mit einem passiert, und wissen, dass es falsch ist. Das ist weitaus schwieriger, als es klingt.

Viele Menschen kennen das Gefühl, das sich plötzlich in der Magen­grube breitmacht, wenn sich ihnen gegenüber jemand daneben­benimmt. Wir spüren, dass da gerade etwas Ungutes geschieht. Doch der Weg vom Bauch­gefühl zur Gewissheit ist oft lang und schmerzhaft.

«Ich werde belästigt» – diese Erkenntnis sei für Betroffene oft ein riesiger Schritt, sagt Salome Gloor vom Frauen-Nottelefon, die seit 12 Jahren mit gewalt­betroffenen Personen arbeitet. «Es ist kein angenehmer Gedanke. Wir alle möchten in einem Umfeld arbeiten, wo wir uns wohlfühlen und die Stimmung gut ist.»

Die wenigsten Menschen betreten einen Arbeitsort wie einen Boxring. Man erwartet nicht, von einem Kollegen plötzlich einen linken Haken verpasst zu bekommen. Und wenns passiert, verliert man schnell den Boden unter den Füssen.

Grenzüberschreitungen am Arbeitsplatz können deutlich kniffliger sein als ein Boxkampf. Man kriegt nicht nur unvorbereitet einen Haken verpasst. Das Umfeld tut oft auch so, als hätte es den Schlag gar nie gegeben – gerade gegenüber Frauen. Als wäre es in Wirklichkeit ganz anders gewesen.

«Von jung auf wird Frauen vermittelt, dass sie ihrer Wahrnehmung nicht trauen können», sagte Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt, Anfang Jahr zur Republik. «Du übertreibst, bist kompliziert, bist übersensibel. Das verunsichert und führt dazu, dass Frauen in die Verantwortung genommen werden und nicht Männer.»

Für Frauen, die Grenz­überschreitungen erleben, wird es dann schwierig, sich zur Wehr zu setzen. Denn: Wogegen sollen sie sich wehren? Da war ja nichts.

Manchmal wird dem Opfer auch geglaubt, dafür aber das Verhalten des Täters bagatellisiert. Dann heisst es von Kollegen schnell: Ach, der ist halt so.

So oder so signalisiert man der Frau: Mit dir stimmt was nicht. Ein zermürbender Mechanismus, der subtil beginnen kann.

Wenn zum Beispiel ein Kollege beim Mittag­essen einen sexistischen Spruch fallen lässt und alle lachen – war der Spruch dann wirklich ein Problem? Wenn der Chef einen vor versammelter Runde niedermacht und alle schweigen – muss man das nicht einfach aushalten können?

In der Situation selbst ergreife Frauen oft eine Ohnmacht, sagt Sozial­arbeiterin Salome Gloor. Die Ursache des Problems suchen die Frauen dann häufig bei sich: Ich habe etwas Falsches gesagt, getan oder angezogen. Ich bin schuld.

Und selbst wenn Betroffene realisieren, dass sie eben nicht schuld sind: Anzuerkennen, dass man zum «Opfer» geworden ist, tut weh und ist beschämend. Man wird gezwungen, einzugestehen, dass einem die Kontrolle über das eigene Leben ein Stück weit entglitten ist. Kein Mensch gibt das gerne zu, auch vor sich selbst nicht.

Im «Spiegel» beschreibt die Journalistin Anuschka Roshani, wie ihr ein Kollege ganz beiläufig sagte, sie werde seit Jahren gemobbt – und wie sie erschrak: «Bei dem Ausdruck ‹Mobbing› hatte ich stets eine verhuschte Gestalt vor mir gesehen, garantiert nicht jemanden wie mich.»

Täter zeigen verschiedene Gesichter

Nicht nur die Identität eines Opfers ist vielschichtig. Vorgesetzte und Kollegen, die mobben, diskriminieren, sexuell belästigen, sind in den seltensten Fällen durch und durch böse Monster, wie man sie aus schlechten Filmen kennt. Sie können auch ruhig, hilfsbereit, sogar nett sein zur belästigten Person. «Nichts ist schwarz-weiss, kein Verhalten ist pausenlos», sagt Opfer­beraterin Salome Gloor.

Diese Pausen ermöglichen den Frauen ein kurzes Durchatmen. Aber sie schaffen auch Platz für Relativierungen und unrealistische Hoffnungen: Vielleicht ändert er sich gerade? Wird jetzt alles besser? Die Fragen sind Teil einer Dynamik, die Salome Gloor auch gut von Fällen häuslicher Gewalt kennt. Man müsse den Betroffenen klarmachen: «Jemand kann zehn sexuelle Avancen machen und sich gleichzeitig wertschätzend und toll verhalten; es geht trotzdem nicht. Das eine Verhalten wiegt das andere nicht auf. Beides ist real.»

Manchmal sind Täter auch Sympathie­träger am Arbeits­platz. Oder Vorgesetzte. Beides verleiht Macht. Das kann beim Opfer zusätzliche Ängste wecken: Wenn ich jetzt etwas sage, mache ich mir damit nicht nur meinen Chef, sondern das ganze Team, vielleicht sogar das ganze Unter­nehmen zum Feind?

Wer aufbegehrt, setzt etwas aufs Spiel. Harmonie zum Beispiel und alles, was an dem Ort in Ordnung ist, den man fast jeden Tag aufsucht. Die eigene Würde, das berühmte «Gesicht», das man nicht verlieren will. Und nicht zuletzt: die Karriere.

Eine Umfrage zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in Frankreich aus dem Jahr 2014 hielt fest, dass 40 Prozent der Menschen, die sich beim Management über sexuelle Belästigung beschwert hatten, auf die eine oder andere Weise Repressionen erlitten – manche wurden bei Beförderungen übergangen, anderen wurde gar gekündigt. Sie wurden für die Beschwerde «bestraft», während die Beschuldigten keine Konsequenzen fürchten mussten. Und auch Salome Gloor vom Frauen-Nottelefon kennt solche Vorgänge, die häufig unsichtbar ablaufen. Sie erzählt von Frauen, denen Kompetenzen entzogen wurden, wenn sie zum Beispiel eine Einladung zu Drinks eines Kollegen oder Vorgesetzten ausgeschlagen hatten.

Eine typische Frage, die bei Opfern aufkommt, ist daher: Lohnt sich das alles? Und eng daran geknüpft: Wann ist es überhaupt gerecht­fertigt, sich zu beschweren?

Und der Arbeit­geber schaut weg

Die Schauspielerin Katherine Kendall sagte 2017 zur «New York Times», sie habe sich lange nicht über Harvey Weinstein zu sprechen getraut, weil der Film­produzent sie nicht tätlich angegriffen habe. Er habe sich nach einer beruflichen Besprechung ausgezogen und versucht, sie nackt tanzend daran zu hindern, zur Tür zu gelangen.

Kendall entkam. Danach habe sie sich aber gefragt: «Solange ich nicht blutend und zerstört am Boden liege, ist es wirklich der Rede wert?»

Was ist «schlimm genug»? Ab wann «darf man etwas sagen»? Muss ich erst in die Ecke gedrängt oder begrapscht werden, damit es sich um sexuelle Belästigung handelt?

Nein. Salome Gloor sagt: «Bei einer Vergewaltigung denken die meisten, sie wissen, worum es geht. Bei der Belästigung hingegen hält sich das Narrativ, es sei diffus, was unter Belästigung fällt, es sei eine grosse Grauzone.»

Doch: «Das ist ein Mythos.»

Denn der Gesetzgeber hält fest, was sexuelle Belästigung ist. Das Eidgenössische Büro für die Gleich­stellung von Frau und Mann schreibt:

Unter den Begriff Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz fällt jedes Verhalten mit sexuellem Bezug oder aufgrund der Geschlechts­zugehörigkeit, das von einer Seite unerwünscht ist und das eine Person in ihrer Würde verletzt. Die Belästigung kann sich während der Arbeit ereignen oder bei Betriebs­anlässen. Sie kann von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen ausgehen, von Angehörigen von Partner­betrieben oder von der Kundschaft des Unternehmens. Sexuelle Belästigung kann mit Worten, Gesten oder Taten ausgeübt werden. Sie kann von Einzel­personen oder von Gruppen ausgehen.

Was Mobbing und sexuelle Belästigung oft eint, ist, dass Äusserungen und Verhaltens­weisen systematisch und über einen längeren Zeitraum wiederholt werden. Wenn Grenz­überschreitungen immer wieder geschehen, ist es nicht weit zum immer schlimmer.

Stellen Sie sich vor, Ihr Vorgesetzter lädt Sie zum Nachtessen ein. Sie lehnen höflich ab, weil er niemanden sonst zum Essen eingeladen hat. Sie denken, die Sache hat sich erledigt.

Ihr Vorgesetzter lädt Sie abermals zum Nacht­essen ein. Wieder nur Sie allein. Sie finden das langsam schräg. Aber Sie wollen nicht als unhöflich gelten und sagen mit einer Ausrede ab.

Ihr Vorgesetzter lädt wieder nur Sie zum Nacht­essen ein, diesmal mit einem eindeutigen Subtext. Sie fühlen sich unwohl. Sie wollen nichts von Ihrem Vorgesetzten. Aber wenn Sie jetzt noch mal absagen, ist das noch glaubhaft mit den Ausreden? Könnte er denken, Sie haben etwas gegen ihn? Und was ist mit der Projekt­leitung, die Sie übernehmen sollten?

Sie lehnen wieder ab. Irgendwann fängt der Vorgesetzte an, Ihnen Porno­videos zu schicken.

Diesen Fall schildert uns Salome Gloor. So etwas könne passieren, wenn weggeschaut werde, wenn Kolleginnen oder (andere) Vorgesetzte nicht ansprächen, dass es ein Problem gebe. «Man kann früher intervenieren», sagt Gloor, «bevor Pornos verschickt werden oder sexuelle Übergriffe stattfinden.»

Es sind aber nicht nur Kolleginnen und Vorgesetzte, die bewusst wegschauen. Viel zu häufig sind es auch die Arbeitgeber.

In einer vom Seco in Auftrag gegebenen Studie aus dem Jahr 2008 zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz (noch bis heute dramatischer­weise die ausführlichste Studie ihrer Art) gab nur ein Drittel der Befragten an, dass ihr Arbeit­geber präventive Massnahmen gegen sexuelle Belästigung ergreife – indem er zum Beispiel eine interne Vertrauens­stelle schafft oder das Personal über die internen Leitlinien und Abläufe informiert. Dabei sind per Arbeits- und Gleichstellungs­gesetz alle Arbeit­geber dazu verpflichtet. Letztes Jahr hat das SRF-Datenteam 218 Gerichts­fälle zu sexueller Belästigung am Arbeits­platz analysiert. Auch hier zeigte sich dasselbe: Nur in einem Drittel der Fälle kamen die involvierten Unternehmen ihrer gesetzlichen Präventions­pflicht nach.

Als Gesellschaft neigen wir dazu, bei Grenz­überschreitungen die Verantwortung auf das betroffene Individuum abzuschieben. Weil es einfacher ist, zu fragen, was ein Opfer eines Übergriffs falsch gemacht hat, als in einer unangenehmen Situation den Mund aufzumachen.

Gleichzeitig sind wir Teil des Systems, das uns umgibt. Salome Gloor sagt, man dürfe unsere neoliberale Prägung nicht unterschätzen: «Das System gibt uns vor: Wenn etwas schiefläuft, dann mach den Mund auf, wehr dich. Kämpf für deine Karriere! Jede Person ist für ihr eigenes Glück verantwortlich.»

Womit wir wieder bei der Frage vom Beginn angelangt sind: Warum hältst du es da so lange aus, ohne dich zu wehren?

Die Frage trägt das Problem schon in sich, denn sie wälzt die Verantwortung auf ein einzelnes Opfer ab. Menschen, die Belästigung oder Mobbing am Arbeits­platz erleben, werden von zwei Seiten in die Zange genommen.

Einerseits ist da eine Gesellschaft, die dazu neigt, nicht nur, aber vor allem Frauen zu sagen: Wenn es ein Problem gibt, bist du schuld.

Und andererseits sagt genau diese Gesellschaft: Wenn es ein Problem gibt, musst du es allein lösen.

Diese Dynamik zu überwinden, Fehl­verhalten anzusprechen und am Ende sogar dagegen vorzugehen, ist ein Schritt, den man leicht unterschätzt, wenn man sich nicht selbst in einer solchen Situation befindet oder befand. Einer der Gründe, warum Grenz­überschreitungen am Arbeits­platz stattfinden können, ist daher auch dieser: Das Umfeld, in dem Fehl­verhalten geschieht, schützt sich selbst.

Denn wenn du selbst schuld an der Belästigung bist und du das Problem eigentlich selbst lösen müsstest, dann brauchst du auch gar niemandem zu sagen, dass es ein Problem gibt, oder?

Es ist eine geniale Dynamik, die ein einziges Ziel verfolgt:

Schweigen.

Hilfe für Betroffene

Bei der Opferhilfe Schweiz finden Sie eine Liste mit Melde­stellen. Und hier eine nach Kantonen sortierte, vom Eidgenössischen Büro für die Gleich­stellung von Frau und Mann (EBG) zusammen­gestellte Liste. Nachfolgend eine Auswahl:
Basel: Präsidial­departement des Kantons Basel-Stadt, Abteilung Gleichstellung von Frauen und Männern. 061 267 66 81, gleichstellung@bs.ch
Bern: Fachstelle Mobbing und Belästigung. 031 381 49 50, info@fachstelle-mobbing.ch
Luzern: Dienststelle Soziales und Gesellschaft. 041 228 68 78, disg@lu.ch
Zürich: Fachstelle Gleichstellung. 043 259 25 72, gleichstellung@ji.zh.ch
Winterthur: Frauen-Nottelefon. Beratungs­stelle für gewalt­betroffene Frauen. 052 213 61 61, info@frauennottelefon.ch

Hinweis: Anuschka Roshani war von 2002 bis 2022 beim «Magazin», also 20 Jahre; nicht 15 Jahre, wie wir zuerst geschrieben haben. Wir entschuldigen uns für den Fehler.

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