«Damit sie nicht sagen können: Herrgott, wenn wir das gewusst hätten!»
Tamedia stellt den Skandal um den ehemaligen «Magazin»-Chefredaktor Finn Canonica als Einzelfall dar. Dabei sind die Probleme der Betriebskultur struktureller Art – und schon länger bekannt. Doch die Unternehmensleitung schiebt die Verantwortung ab.
Von Dennis Bühler und Boas Ruh, 18.02.2023
Vorgelesen von Egon Fässler
Journalismus kostet. Dass Sie diesen Beitrag trotzdem lesen können, verdanken Sie den rund 29’000 Leserinnen, die die Republik schon finanzieren. Wenn auch Sie unabhängigen Journalismus möglich machen wollen: Kommen Sie an Bord!
Der Schweizer Journalismus ist in Aufruhr. Denn: Vor zwei Wochen warf die langjährige «Magazin»-Redaktorin Anuschka Roshani ihrem ehemaligen Chefredaktor Finn Canonica im «Spiegel» Machtmissbrauch und Sexismus vor. Canonica soll – und das ist mit Bildern belegt – Hakenkreuze auf Manuskripte gezeichnet haben, wenn die aus Deutschland stammende Roshani in ihren Texten etwa von «Keksen» statt «Guetzli» schrieb. Er habe die Redaktion in einen inner circle und einen outer circle eingeteilt. Er soll ein miserabler Chef sein, der ein Regime des Mobbings aufzog.
Canonica bestreitet nahezu alle Vorwürfe. In einer Stellungnahme schreibt er, Roshani habe «nachgewiesene Lügen» über ihn verbreitet, um «mir und meiner Familie maximal zu schaden». Beide mussten das Unternehmen im vergangenen Jahr verlassen. Roshani hat Klage eingereicht gegen Tamedia – den Verlag hinter dem «Magazin».
Wir sprachen in den vergangenen zwei Wochen mit etlichen ehemaligen «Magazin»-Angestellten. Darunter auch mit zwei Journalisten, die heute bei der Republik arbeiten. Und mit mehr als einem Dutzend weiteren aktuellen und früheren Tamedia-Mitarbeiterinnen.
Zwei Personen der Republik haben mehrere Jahre beim «Magazin» des «Tages-Anzeigers» gearbeitet: Daniel Binswanger – er ist derzeit Co-Chefredaktor ad interim – und Daniel Ryser, er ist Reporter. Wie geht man damit um, wenn Journalisten plötzlich in eine Geschichte geraten? Wenn sie nicht nur beschreiben und beobachten sollen, sondern selbst Teil der Beschreibung werden? Wir haben sie behandelt wie alle anderen Quellen auch: Wir haben sie befragt, ihre Aussagen geprüft und bewertet und in unsere Recherche einfliessen lassen. Um die journalistische Unabhängigkeit der Berichterstattung zu gewährleisten, trat Daniel Binswanger in den Ausstand. Er und Daniel Ryser hatten keinen Einfluss auf Planung, Ausrichtung, Inhalt oder Publikation des Textes.
Denn es geht bei dieser Geschichte nicht nur um das «Magazin», nicht nur um Anuschka Roshani und Finn Canonica.
Sondern um ein strukturelles Problem bei Tamedia, dem mit Abstand grössten Schweizer Medienverlag. Ein Unternehmen, das auf Mobbing- und Sexismusvorwürfe nicht angemessen reagiert. Mit einem Verwaltungsratspräsidenten und einem Chefredaktor, die Hilferufe aus der Belegschaft schon seit Jahren ignorieren.
Das zeigt sich etwa daran, dass ein Drittel der 78 Unterzeichnerinnen eines Protestbriefs von 2021 mittlerweile den Verlag verlassen hat. Viele Mitarbeiterinnen, mit denen wir gesprochen haben, schildern ihre Erfahrungen mit toxischen Strukturen im Verlag. Doch dazu später mehr.
1. Fall Canonica: Die vergessene Warnung
Seit die Vorwürfe gegen den früheren «Magazin»-Chefredaktor publik wurden, ist Tamedia im Krisenmodus. Am Sonntag, dem 5. Februar, zwei Tage nach der brisanten «Spiegel»-Veröffentlichung, verschickt die Geschäftsleitung kurz vor Mittag eine E-Mail an sämtliche Angestellten.
Darin verteidigt sie ihr Vorgehen: «Tamedia hat die Vorwürfe von Frau Roshani sehr ernst genommen und sorgfältig überprüft.» Und: «Wir haben uns um Transparenz und Gerechtigkeit bemüht.» Die Geschäftsleiter Andreas Schaffner und Mathias Müller von Blumencron räumen aber auch Versäumnisse ein und bedauern, «dass die Aufklärung in diesem Fall zu lange gedauert hat».
Ja, warum hat es so lange gedauert?
Die Chefredaktion von Tamedia behauptet in einer öffentlichen Stellungnahme, man habe erst im Frühjahr 2021 von den Anschuldigungen erfahren. Aber Dokumente, die der Republik vorliegen, zeichnen ein anderes Bild: Nicht nur kannte Tamedia bereits 2014 Vorwürfe zum Führungsstil von Finn Canonica. Schon damals wurden der Personalabteilung auch konkrete Beispiele genannt – unter anderem das Verwenden von Hakenkreuzen. In einer E-Mail vom 15. Januar 2015 an die Personalabteilung nennt ein «Magazin»-Mitarbeiter eine lange Liste mutmasslicher Verfehlungen Canonicas und schreibt: «Dass es noch andere schlimme Geschichten gibt, wissen Sie aus meinen früheren Erzählungen (Stichwort: Hakenkreuz).»
Zum Schluss schreibt der Mitarbeiter: «Ich wollte es doch gesagt haben, damit Tamedia später nicht sagen kann: Herrgott, wenn wir das gewusst hätten!»
Was mit dieser Meldung geschah, ist unklar. Tamedia will sich nicht dazu äussern. Die Medienstelle schreibt auf Anfrage, man vertraue darauf, dass der teilweise lang zurückliegende Sachverhalt im nun laufenden Gerichtsverfahren nochmals geklärt und darauf gestützt eine gerechte Lösung gefunden werde. «Falls sich – auch unabhängig von dem Gerichtsverfahren – zu dem aktuellen Fall neue Fakten ergeben, wird Tamedia diese selbstverständlich untersuchen.»
Bis die Vorwürfe, die 2014 die Personalabteilung erreichten, untersucht werden, dauert es mehrere Jahre. Dafür geschieht dies dann gleich doppelt.
Zuerst 2021 durch die externe Gutachterin Christine Lüders, die unter Angela Merkel die deutsche Antidiskriminierungsstelle leitete. Tamedia engagierte sie als vertrauliche Anlaufstelle, nachdem sich 78 Frauen aus der Belegschaft in einem Protestbrief gegen die vorherrschende Betriebskultur, sexuelle Belästigungen, Mobbing und Diskriminierung gewehrt hatten. Später liess Tamedia die Vorwürfe gegen Canonica von der Anwaltskanzlei Rudin Cantieni untersuchen.
Der Lüders-Bericht ist bis heute vollständig unter Verschluss. Die Untersuchung durch die Kanzlei Rudin Cantieni hat Tamedia inzwischen als Kurzzusammenfassung veröffentlicht. Darin schreiben die Rechtsanwälte, die Vorwürfe von Roshani hätten sich grösstenteils «nicht erhärten» lassen. Bestätigt werden die Verwendung von Hakenkreuzen auf Roshanis Manuskripten und Canonicas Sprachgebrauch, der «teils unangemessen» gewesen sei.
Der Bericht der Anwälte kritisiert also bloss, was man im Haus Tamedia bereits seit acht Jahren wusste. Canonicas sexualisierte Sprache und die Verwendung der Hakenkreuze waren spätestens ab Januar 2015 bekannt – auch der Personalabteilung. Doch die Chefetage sah damals offensichtlich keinen Handlungsbedarf.
Im Mai 2022 beendet die Kanzlei Rudin Cantieni ihre Untersuchung, die sich nicht nur gegen Finn Canonica, sondern auch gegen Anuschka Roshani richtete: Es müsse davon ausgegangen werden, dass Roshani seit längerem gegen ihren Vorgesetzten «agierte», heisst es in der veröffentlichten Zusammenfassung.
Im Juni verkündet Tamedia in einem Communiqué, Finn Canonica werde nach 20 Jahren beim «Magazin» eine neue berufliche Herausforderung annehmen.
Im September wird Anuschka Roshani entlassen.
2. Pietro Supinos Herzensangelegenheit
«Ich möchte an dieser Stelle betonen», schreibt der Tamedia-Geschäftsleiter Andreas Schaffner am vergangenen Mittwoch, 15. Februar, in einer weiteren E-Mail an die Belegschaft, «dass dieses Thema auch eine Herzensangelegenheit unseres Verlegers ist.»
Das angesprochene Thema heisst «Diversität im Unternehmen». Und der Verleger: Pietro Supino.
Supino, 57, Verwaltungsratspräsident der TX Group, zu der Tamedia gehört, steht in diesen Tagen mit dem Rücken zur Wand. Mehrere Medien berichten, dass Präsident Supino Finn Canonica nahegestanden habe. Gegen diese Darstellung wehrt er sich vehement: Er lässt seinen Medienanwalt Andreas Meili intervenieren. (Zur Transparenz: Meili ist auch Anwalt der Republik.) Die Zeitungen der CH-Media-Gruppe löschen daraufhin die entsprechenden Textstellen und publizieren eine Richtigstellung: «Wir entschuldigen uns bei Dr. Pietro Supino.»
Supino geht also auf maximale Distanz, nachdem er Finn Canonica bei dessen Abgang letzten Sommer noch persönlich «für die langjährige erfolgreiche Führung des ‹Magazins›» gedankt hat. Ohne Zweifel hat Supino Finn Canonica fachlich sehr geschätzt. Das bezeugt nicht nur dessen 15-jähriges Engagement als Chefredaktor des «Magazins», sondern auch eine Anekdote aus dem Jahr 2013, die mehrere Personen bestätigen: Als Tamedia damals einen neuen Chef für die «SonntagsZeitung» suchte, wollte Supino zunächst Finn Canonica den Vorzug geben. Dieser lehnte das Angebot jedoch ab.
Stattdessen blieb Canonica beim «Magazin», das damals eine grosse interne Krise durchlebte. 2014 kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit fast der gesamten Belegschaft. Auch dieser Streit gipfelte in einer Untersuchung durch ein Anwaltsbüro: Canonica warf einem Mitarbeiter fälschlicherweise vor, er habe seinen Computer gehackt. Der Verdacht liess sich nicht erhärten, der Bericht der Kanzlei liegt der Republik vor.
Das Branchenmagazin «Schweizer Journalist» schrieb 2017, «Pietro Supino höchstpersönlich» habe die Untersuchung durch das Anwaltsbüro angeordnet. Auch dazu möchte sich Tamedia auf Anfrage nicht äussern.
Dass Supino nun sein Engagement für Diversität gegenüber seinen Mitarbeiterinnen betonen lässt, hat seinen Ursprung womöglich in einem Auftritt von letzter Woche: Da lädt Tamedia seine Mitarbeiter an eine Informationsveranstaltung am Hauptsitz an der Zürcher Werdstrasse. Und die Geschäftsleiter Andreas Schaffner und Mathias Müller von Blumencron äussern ihr Bedauern über die Vorgänge in der «Magazin»-Redaktion.
Der Auftritt kommt gut an. Die Betroffenheit wirkt echt, das Bedauern glaubwürdig. Doch dann, in der letzten Viertelstunde, tritt Verleger Supino auf die Bühne. Offenbar ein ungeplanter Auftritt. Supino habe unbedingt noch eine Message platzieren wollen, erzählt man sich bei Tamedia.
«Mir ist wichtig, dass ihr das wisst», sagt er ins Mikrofon. Seine Botschaft: Anuschka Roshani hätte die Möglichkeit gehabt, die Missstände früher zu melden, habe aber aus eigenen Stücken darauf verzichtet. Tamedia habe alles richtig gemacht. «Das Unternehmen konnte ja erst handeln, als bekannt wurde, dass es diese Missstände gibt», sagt Supino.
Und: «Dass diese Missstände nicht früher bekannt wurden, da muss Frau Roshani sich auch selbst fragen, warum das so ist.»
Supino provoziert damit etliche kritische und frustrierte Nachfragen und Statements. «Danach lag wieder alles in Scherben», sagt eine Redaktorin der Republik. «Supino hat das bisschen Vertrauen, das die Geschäftsleiter wiederhergestellt hatten, gleich wieder zerstört.»
3. Eine toxische Betriebskultur
Im März 2021 wenden sich 78 Tamedia-Mitarbeiterinnen schriftlich an die Geschäftsleitung und die Chefredaktion. Tags darauf folgen ihnen mehr als hundert Kollegen. Die Mitarbeiterinnen kritisieren, dass Frauen «ausgebremst, zurechtgewiesen oder eingeschüchtert» und «in Sitzungen abgeklemmt» würden. Dass ihre Vorschläge «nicht ernst genommen oder lächerlich gemacht», sie weniger gefördert und schlechter entlohnt würden. Und dass es Mitglieder der Chefredaktion toleriert hätten, wenn Frauen von Vorgesetzten beleidigt wurden.
Unterzeichnet wird der Protestbrief, in dessen Anhang etliche diskriminierende Zitate männlicher Führungspersonen aufgelistet und konkrete Situationen übergriffigen Verhaltens geschildert werden, von Mitarbeiterinnen an mehreren Standorten des grössten Schweizer Medienverlags: in Basel, Bern, Bülach, Interlaken, Thun, Winterthur und Zürich.
Die Konzernführung verspricht, den Protest ernst zu nehmen. «Verschiedene der [im Brief] erwähnten Beispiele sind nicht akzeptabel», schreibt Tamedia-Chefredaktor Arthur Rutishauser. «Jegliche Art von Belästigung und Diskriminierung wird bei uns nicht toleriert.» Er sagt aber auch: «Wir haben sicher kein strukturelles Problem mit Sexismus.»
Den Ankündigungen zum Trotz: In den vergangenen zwei Jahren hat sich kaum etwas verbessert. Das sagen mehrere Tamedia-Angestellte der Republik.
Viele haben resigniert. Von den 78 Mitarbeiterinnen, die den Protestbrief im März 2021 unterzeichneten, hat ein Drittel den Verlag verlassen. 22 wechselten den Arbeitgeber, 4 verliessen die Branche gleich komplett – und arbeiten heute als Mediensprecherin, Coach oder in der Wissenschaft.
Eine, die dem Journalismus schon vor dem Protestbrief resigniert den Rücken gekehrt hat, sagt, Tamedia habe sich keinen Deut um die zahlreichen Abgänge der Journalistinnen geschert. Dies habe geschmerzt. «Im Austrittsformular wurde ich gebeten, die Gründe für meinen Wechsel aufzulisten», sagt sie. «Ich monierte dort also ein weiteres Mal in Stichworten, was ich zuvor intern thematisiert hatte – und ging davon aus, ich würde anschliessend von der Personalabteilung kontaktiert, damit diese meiner Kritik auf den Grund gehen und Verbesserungen in die Wege leiten kann. Doch weit gefehlt: Ich hörte nie etwas von Tamedia.»
Eine aktuelle Tamedia-Redaktorin sagt: «Ich habe keine individuelle Unterstützung erhalten oder gespürt, nachdem ich mich über meine Vorgesetzten beschwert hatte. Es blieb das Gefühl, dass das HR mehr hätte tun können beziehungsweise mehr hätte tun müssen.»
Vor und nach dem Protestbrief wurden in mehreren Ressorts Frauen krankgeschrieben. «Ich erkenne darin sowohl bei mir selbst als auch bei meinen Kolleginnen den letzten Versuch, sich von den Vorgesetzten und dem Unternehmen abzugrenzen», sagt jene ehemalige Redaktorin, die die Branche noch vor dem Protestbrief verliess. «Die Führung übersah diese Alarmzeichen und blieb untätig.»
Nicht zum ersten Mal. Schon 2016 musste der Verlag eingestehen, dass er sein drei Jahre zuvor gestecktes Ziel, den Frauenanteil auf allen Stufen auf mindestens 30 Prozent anzuheben, klar verfehlt hatte.
Tamedia will sich nur allgemein zu den Vorwürfen äussern. Die Medienstelle schreibt: «Respekt, Wertschätzung und eine darauf beruhende Führungskultur sind essentielle Prinzipien von Tamedia. Unaufgeklärte Vorkommnisse arbeiten wir unverzüglich auf.» Seit 2021 seien Initiativen zur Betriebskultur wie auch zur Verbesserung der Strukturen angegangen worden. Mitarbeiterinnen seien auf die Anlaufstellen sensibilisiert worden, und das Unternehmen gehe allen Hinweisen nach «mit dem Ziel, eine positive und respektvolle Arbeitsumgebung für alle unsere Mitarbeitenden sicherzustellen».
4. Arthur Rutishausers Führungsstil
Fragt man betroffene Frauen, warum bei Tamedia keine Fortschritte zu verzeichnen sind, fällt im Gespräch häufig ein Name: Arthur Rutishauser.
Der 57-Jährige ist seit 2013 Chefredaktor der «SonntagsZeitung», seit 2016 steht er zusätzlich der gemeinsamen Mantelredaktion aller Tamedia-Tageszeitungen vor. Er bestimmt, was im «Tages-Anzeiger», in der «Basler Zeitung», dem «Bund», der «Berner Zeitung» und vielen weiteren Regionalzeitungen über das Geschehen in der Schweiz, im Ausland, in der Wirtschaft, der Kultur und im Sport zu lesen ist.
«Wenn Arthur Rutishauser mit Arbeitskonflikten konfrontiert wird, wartet er ab und hofft, dass sich die Probleme von selbst in Luft auflösen», kritisiert eine ehemalige Tamedia-Angestellte, die selbst bei Vorgesetzten vorstellig wurde – und sich nicht ernst genommen fühlte in ihren Schilderungen. Ein Mann, der viele Jahre dem Tamedia-Kader angehörte, sagt: «Arthur hat für solche Themen keinerlei Sensibilitäten.» Darauf angesprochen, widerspricht Rutishauser: «Ich bin immer erreichbar, wenn es dringend ist. Arbeitskonflikte bin ich immer angegangen und habe möglichst unaufgeregt nach guten Lösungen gesucht.»
Über einen solchen Arbeitskonflikt berichtete vor zwei Jahren die Frauenzeitschrift «Annabelle», die bis 2019 selber zum Tamedia-Verlag gehörte. Der Vorfall wurde der Republik von mehreren Seiten bestätigt. Ein Ressortleiter der «SonntagsZeitung» habe 2018 eine Redaktorin, die krankgeschrieben war, weil sie stark unter ihm litt, unangekündigt an ihrem Wohnort aufgesucht. Der verängstigten Frau sei es kaum gelungen, den ungebetenen Gast abzuwimmeln. Als sie und unterstützende Kolleginnen sich bei Rutishauser beschwerten, habe dieser das übergriffige Verhalten seines Ressortleiters zunächst kritisiert. Auf Sanktionen aber verzichtete er und stellte ihm stattdessen einen Coach zur Seite. Der «Annabelle» gab Rutishauser 2021 schriftlich zu Protokoll: «Für mich war es ein Grenzfall zum Stalking.» Einige Tage später aber schwächte er seine Aussage zugunsten seines männlichen Mitarbeiters ab, was die «Annabelle» in einer Fussnote transparent machte. Neu lautete Rutishausers Zitat: «Es war ein Fehler, dass der Ressortleiter bei der Mitarbeiterin geklingelt hatte, aber es war kein Stalking-Fall.»
Die Kritik an Rutishausers Führungsstil ist nicht neu. 2013 rühmte das Branchenmagazin «Schweizer Journalist» Rutishausers Fähigkeiten als Rechercheur und lobte ihn für seinen Fleiss, schrieb aber: «Andere Eigenschaften, die ein Chefredaktor einer Sonntagszeitung mitbringen sollte, scheinen bei ihm dafür eher unterentwickelt.» Rutishauser gelte als «eher introvertiert und nicht sehr kommunikativ». Und: «Vermisst wird bei ihm genügend Sozialkompetenz.»
Rutishauser bestreitet diese Charakterisierung: «Das Gegenteil ist der Fall.» Er ignoriere Hilferufe nicht. «Ich habe viele Gespräche mit Betroffenen geführt, manchmal bis spät in die Nacht.» Tamedia verfüge über ein spezialisiertes Careteam, und zudem komme bei Langzeiterkrankungen wie Burn-outs «regelmässig die Personalabteilung ins Spiel». Betroffene könnten sich bei ihren direkten Vorgesetzten melden, und das sei in den letzten zehn Jahren auch geschehen.
Gemäss mehreren Quellen ist es für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jedoch nur schon schwierig, überhaupt an die Personalabteilung zu gelangen: Wer ein Anliegen hat, muss ein Ticket lösen – und kann von Glück reden, wenn nach ein paar Tagen Kontakt mit ihr aufgenommen wird.
Ganz anders als die Belegschaft beurteilt Tamedia-Verwaltungsratspräsident Pietro Supino das Schaffen Rutishausers. «Er ist ein hervorragender Chefredaktor – als Journalist und als Führungskraft», sagte er 2019 im «Schweizer Journalist».
Dieses Votum erstaunt nicht. Schliesslich stehen sich die beiden gleichaltrigen Männer sehr nah.
Als Supino 2013 einen neuen Chef für die «SonntagsZeitung» suchte, musste dieser schon im ersten Jahr rund 5 Millionen Franken sparen. Finn Canonica lehnte deshalb das Jobangebot ab. Für Arthur Rutishauser hingegen war das kein Problem. Er wollte den Job unbedingt.
Bei der «SonntagsZeitung» setzte Rutishauser um, was Supino von ihm forderte: nicht nur finanziell, sondern auch politisch. Er positionierte das Blatt rechts der Mitte, wo es bis heute steht – so schürte die «SonntagsZeitung» jüngst im Gleichschritt mit der SVP Ängste vor dem Bevölkerungswachstum der Schweiz.
Als Supino Rutishauser im Jahr 2016 zusätzlich die Führung des «Tages-Anzeigers» anvertraute, gab der neue «Super-Chefredaktor» den Kurs vor: «Ich habe kein Problem damit, wenn die SVP-Wähler unter unseren Lesern das Blatt künftig etwas entspannter in die Hand nehmen», sagte er dem «Schweizer Journalist».
Eine zweifelhafte Rolle spielte Rutishauser dann gleich zweimal, als Journalisten wegen ihrer Berichte kritisiert wurden: 2017 verhinderte er die Veröffentlichung eines Porträts von NZZ-Chefredaktor Eric Gujer, nachdem dessen Sprecherin interveniert hatte; 2022 entliess er auf Geheiss Supinos einen Lokalredaktor des «Tages-Anzeigers», nachdem dieser eine Recherche über die mächtige Zürcher Baugarten-Stiftung publiziert hatte – die Kündigung erfolgte gegen den Willen von dessen direktem Vorgesetzten, dem «Tagi»-Co-Chefredaktor Mario Stäuble.
5. «Es muss sich ändern»
Frauen, die schlecht behandelt werden. Männer, die dafür kein Gehör haben. Ist das ein Problem, das nur Tamedia etwas angeht?
Journalismus stellt Öffentlichkeit her, er prangert Missstände an und benennt die dafür Verantwortlichen. Deshalb ist es nicht überraschend und nicht mehr als recht, dass die Verfehlungen der eigenen Branche öffentlich verhandelt werden.
Der Verein Junge Journalistinnen und Journalisten Schweiz schrieb diese Woche in einer Mitteilung: «Wer würde schon eine Stelle oder ein Praktikum beim ‹Magazin› ablehnen? Dass man dafür einiges aushalten muss, ist in der vorherrschenden Arbeitskultur noch immer viel zu selbstverständlich. Das muss sich ändern.» Und natürlich: Machtmissbrauch, Mobbing und Sexismus beschränken sich nicht auf Tamedia. Beim Westschweizer Fernsehen RTS wurden ebenso Fälle publik wie bei Ringier.
Überall gilt: Wenn Angestellte gelähmt sind, weil sie das Arbeitsklima als toxisch empfinden, ist das ungesund für die Mitarbeiterinnen. Und es ist zusätzlich auch schlecht für die Leser, weil die Effizienz im Betrieb und die Qualität des Mediums sinken. Man könnte annehmen, zumindest das müsste den Tamedia-Chefs und Verleger Pietro Supino zu denken geben.
Anmerkung: Mitte Mai 2023 stimmte das Landgericht Hamburg einer Klage von Finn Canonica gegen den «Spiegel» teilweise zu. Der «Spiegel» musste deshalb einzelne Passagen in seinem Artikel anpassen. Er wird das Urteil anfechten. Wir haben in unserem Artikel entsprechend einen Satz entfernt, der auf eine nun entfernte Passage verweist.