Islamische Republik versus Iran – Teil 1

In der traditionellen Kleidung, aber ohne Hidschab: Zwei Kurdinnen bei einer Demonstration in der iranischen Provinz West-Aserbaidschan (16. September 2022). Middle East Images/laif

Kurdistan, wo der Widerstand zu Hause ist

Wie die Kurdinnen zur Speerspitze der aktuellen Protest­bewegung im Iran wurden. Und was das mit dem ureigenen kurdischen Feminismus zu tun hat. Serie «Islamische Republik versus Iran», Teil 1.

Von Solmaz Khorsand, 17.02.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
0:00 / 26:10

Man muss kein politischer Mensch sein, nicht einmal besonders belesen oder informiert, um zu verstehen, was Sanandaj im Westen des Irans für eine Stadt ist. Es reicht, ins Zentrum zu fahren, an den Hauptplatz, wo der Bildhauer Hadi Ziaoddini seinen Landsleuten 1994 ein Denkmal gemeisselt hat, das selbst die grösste Kunst­banausin als Freiheits­statue eines Volkes im Wider­stand begreift: eine sechs Meter hohe weisse Männer­figur, kniend, mit zurück­geworfenem Kopf und in die Luft erhobenen Armen, den Brustkorb gen Himmel gerichtet, als würde sie Gott persönlich heraus­fordern. Zwölf Tonnen pure Subversion, schön und atemberaubend. Im Iran finden sich selten derartige Kunstwerke im öffentlichen Raum, so unverblümt und direkt in ihrer Ekstase und Wehrhaftigkeit. Aber wir sind nicht irgendwo, wir sind in der Hauptstadt des iranischen Kurdistan.

Es ist eine von vier Provinzen im Westen des Iran, in denen die knapp 11 Millionen iranischen Kurdinnen leben. Sie sind nach Persern und Aseris die drittgrösste Ethnie des 85-Millionen-Einwohner-Landes. Wenn Kurden von Kurdistan sprechen, meinen sie daher nicht nur die Provinz Kurdistan, sondern auch West-Aserbaidschan, Ilam und Kermanshah.

Hier ist Irans Widerstand zu Hause. Und zwar nicht erst seit gestern, sondern seit Jahrzehnten. Bislang wurde das im Rest des Landes distanziert, ängstlich, gar feindselig zur Kenntnis genommen. Doch seit dem 16. September 2022 ist das anders. Wo Reserviertheit war, ist heute Dankbarkeit, die Furcht ist der Ehrfurcht, die Feind­seligkeit der Anerkennung gewichen.

Islamische Republik versus Iran

Seit dem gewaltsamen Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini im Herbst 2022 ist im Iran nichts mehr, wie es war. Die Menschen verlangen unter der Parole «Frau, Leben, Freiheit» den Systemsturz der Islamischen Republik. Angeführt von den Unterdrücktesten des Landes, geeinter denn je. Zur Übersicht.

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Kurdistan, wo der Widerstand zu Hause ist

Teil 3

Ein Regime auf der An­kla­ge­bank

Mit dem gewaltsamen Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini im Herbst des vergangenen Jahres hat im Iran eine neue Zeit­rechnung begonnen. Eine, in der nicht nur alle Schichten aufbegehren und den Sturz der Islamischen Republik fordern. Sondern auch eine, in der zum ersten Mal all die Ethnien zueinander­finden, die dieses Regime in seiner Teile-und-herrsche-Strategie gegen­einander ausgespielt hat. Perserinnen, Aseris, Belutschinnen, Araber, Turkmenen und Kurdinnen. Auf Letztere hat es das Regime in den vergangenen Monaten neben den Belutschen im Südosten des Landes am meisten abgesehen. Sie bringen die meisten Opfer in dieser Bewegung, die viele längst als Revolution bezeichnen. Der Rest des Landes weiss das.

«Kurdistan, Auge und Licht des Iran», brüllen die Menschen auf den Strassen von Teheran bis Zahedan, wenn der Gewalt­exzess der Regime­schergen in den kurdischen Städten wie Sanandaj, Mahabad und Javanrud den nächsten brutalen Höhepunkt erreicht.

Sie machen es den Kurdinnen nach, die bei Aminis Begräbnis in ihrer Geburts­stadt Saqqez als Erste zum Protest die Kopftücher in der Luft hin und her schwangen. Sie nehmen sich ein Beispiel an der Organisation und Disziplin ihrer kurdischen Mitbürger, die als Erste flächen­deckend für mehrere Tage gestreikt haben. Und sie sehen den anhaltenden Widerstand, den die Kurdinnen leisten, selbst wenn schon Militär­konvois durch die Wohn­gebiete fahren und die Revolutions­garden dort ohne Scheu mit scharfer Munition gegen Demonstrierende schiessen, während sie in Teheran noch «zurück­haltend» auf Knüppel setzen.

Proteste in Mahabad in West-Aserbaidschan. Middle East Images/laif
Ikone: Die Kurdin Jina Mahsa Amini starb im Herbst 2022, nachdem sie von der Sittenpolizei verhaftet worden war. Ihr Tod löste die landesweiten Proteste aus. UMA Press, Inc./Alamy Live News

Allen im Iran ist klar: Sollte der aktuellen Protest­bewegung der Regime­sturz eines Tages tatsächlich gelingen, sind die Kurdinnen dafür massgeblich verantwortlich. Sie haben begonnen, als alle anderen noch still waren. Sie haben weiter­gemacht, als die Ersten müde wurden. Und hinter ihrer Parole «Frau, Leben, Freiheit» hat sich ein ganzes Land im Widerstand gegen die Macht­elite vereint.

Doch warum die Kurden? Ist ihre aktuelle Rolle vor allem dem Umstand geschuldet, dass die Proteste ausgelöst wurden durch den Tod einer der ihren, die alle nur beim kurdischen Vornamen Jina nennen? Diese Ethnie ohne eigenen Staat, deren Heimat sich nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg auf die vier Länder Türkei, Syrien, Iran und Irak verteilte – was prädestiniert sie dafür, eine feministische Revolution anzuführen?

Verdammt viel.

Mahabad, der grosse kurdische Traum

Repression macht zäh. Und je aggressiver der Unter­drücker, umso zäher, organisierter und disziplinierter der Unter­drückte. «Wir haben immer Widerstand geleistet, und unser Widerstand hat uns stärker gemacht», sagt die in Paris ansässige Soziologin Fatemeh Karimi, Direktorin des Kurdistan Human Rights Network. Die Geschichte einer sunnitischen Kurdin aus Sanandaj sei nun einmal eine ganz andere als jene einer schiitischen Perserin aus Isfahan. Der sunnitischen Kurdin aus der Peripherie des Landes habe der Staat aufgrund ihrer Volks­zugehörigkeit immer Separatismus vorgeworfen und sie dementsprechend verfolgt. Die schiitische Perserin aus dem Zentrum des Iran konnte auf das Wohlwollen des Macht­apparats zählen, sei sie doch der Inbegriff der ethnischen und religiösen Identität des Gottes­staates. «Deswegen kann ich auch nicht erwarten, dass die anderen in der heutigen Bewegung die gleiche Rolle spielen wie ich als Kurdin», sagt Karimi.

Ich will es genauer wissen: Sunniten, Schiitinnen, Kurden

Im Nahen Osten gibt es zahlreiche Ethnien und Religionen, darunter primär den Islam. Er lässt sich in zwei Haupt­strömungen unterteilen: Sunniten und Schiiten. Etwa 90 Prozent der Muslime weltweit gehören der sunnitischen Richtung an. Die Aufspaltung in die beiden Gruppen begann im 7. Jahrhundert, Haupt­konflikte waren die Fragen um die Nachfolge des Propheten Mohammed und um die Rolle des Imams als Lehr­institution neben dem Koran. Die Mehrheit der kurdischen Ethnie gehört dem islamischen Glauben an, und da auch vor allem der sunnitischen Strömung. Mit geschätzten 35 Millionen Menschen gelten die Kurden als grösstes Volk ohne eigenen Staat.

Schon Anfang des 20. Jahrhunderts wehrten sich die Kurden gegen die ethnisierte Repression, die mit der Gründung des modernen iranischen Staates 1925 einherging. Reza Pahlavi, der Vater des später bei der Revolution 1979 gestürzten Schahs, verfolgte die Vision einer Nation mit zentralisierter Regierung in Teheran und definierte eine persische Leit­kultur, an die sich alle assimilieren mussten. Die kurdische Sprache, Traditionen, Trachten und Musik wurden offiziell verboten, jedes Zuwider­handeln verfolgt. Die Kurdinnen rebellierten, zuweilen mit Erfolg. Als der Schah aufgrund seiner Nähe zu Hitler­deutschland 1941 von den Alliierten gezwungen wurde, abzudanken und seinem Sohn den Thron zu überlassen, nutzten sie die Schwäche der Zentral­regierung.

Am 22. Januar 1946 wurde in der Stadt Mahabad die Republik Kurdistan ausgerufen. Elf Monate lang währte – mit sowjetischer Schützenhilfe – der Traum von einem eigenen kurdischen Staat. Er zerplatzte, nachdem Stalins Truppen aus ihrer Einfluss­sphäre im Nordiran abgezogen waren und die iranische Armee das Gebiet zurück­eroberte.

Dennoch: «Mahabad spielt bis heute eine grosse Rolle im kollektiven Gedächtnis der Kurden», sagt die politische Soziologin Rosa Burç. Sie forscht an der Scuola Normale Superiore in Florenz zu sozialen Bewegungen und Staaten­losigkeit mit dem Schwerpunkt Kurdistan. «In vielen kurdischen Familien gibt es mindestens eine Frau, die Mahabad heisst. Auch viele kurdische Kämpferinnen geben sich diesen Vornamen», sagt sie. Dass heute wieder Mahabad im Zentrum der Proteste und der staatlichen Repression stehe, aktiviere in der trans­regionalen Community einmal mehr dieses kollektive Bewusstsein von Macht und Ohnmacht. Unter Irans Kurden tut es noch viel mehr. Es ruft ihnen in Erinnerung, was ihrer Volks­gruppe seit der Geburts­stunde der Islamischen Republik angetan wurde.

Die ersten Feinde der Islamischen Republik

Dabei hatten auch die Kurden im Februar 1979 beherzt an der Revolution teilgenommen. Auch sie, wie so viele Gruppen, wollten das diktatorische Schah-Regime stürzen. Doch sie wurden rasch enttäuscht. Die islamistischen Revolutionäre rund um ihren Anführer Ayatollah Khomeini hatten kein Interesse daran, den kurdischen Forderungen nach Autonomie in diesem neuen Iran entgegen­zukommen. Jede Form der Selbst­verwaltung sei unislamisch und deswegen inakzeptabel, so die Begründung.

Ewige Unruhe: Eine Kurdin drückt gegenüber Ayatollah Mahmoud Taleghani ihren Zorn nach der Machtübernahme des Khomeini-Regimes aus. A. Abbas/Magnum Photos/Keystone

Spätestens am 30. März 1979 war das kurdische Schicksal im neuen Staat besiegelt. Khomeini liess ein Referendum abhalten, in dem die Iranerinnen mit «Ja» oder «Nein» zur «Islamischen Republik» als zukünftiges Regierungs­system abstimmen sollten. Was unter dieser Islamischen Republik zu verstehen war, konkretisierte er nicht. Ein Grund für die kurdischen Parteien, das Referendum in all ihren Gebieten zu boykottieren.

Für Teherans neue Machthaber war das eine klare Kampf­ansage. Khomeini blies zum Angriff auf die kurdischen Provinzen. Und offenbarte zum ersten Mal den blutigen Charakter der Islamischen Republik. Ein damals anonymer Fotograf dokumentierte das in seinem Bild «Firing Squad» auf der Titelseite der Zeitung «Ettelā’āt». Zu sehen sind islamistische Revolutionäre in der Stadt Sanandaj, die Männer mit weissen Augenbinden, aufgestellt in einer Reihe, aus wenigen Zentimetern Entfernung mit langen Gewehren erschiessen. Das Bild wurde am 14. April 1980 als erstes und bisher einziges anonymes Bild mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Erst 2006 bekannte sich der Fotograf Jahangir Razmi zu seinem Werk, dessen Urheberschaft er aus Angst vor Vergeltung davor im Dunkeln gelassen hatte. Das Foto wird auch dieser Tage oft auf Social Media geteilt, um allen Iranerinnen in Erinnerung zu rufen, wen die Theokratie seit Beginn ihrer Existenz zum Feind erklärt hat.

«Firing Squad»: Das Bild aus dem Jahr 1979 zeigt, wie islamistische Revolutionäre Kurden erschiessen. Jahangir Razmi/Magnum Photos/Keystone

Mit dem Iran-Irak-Krieg zwischen 1980 und 1988 sollte die Gewalt noch weiter eskalieren. «Mit der Propaganda, dass die Kurden Separatisten seien, hat das Regime alle Kräfte aus dem ganzen Land gesammelt, um in Kurdistan zu kämpfen», sagt Soziologin Fatemeh Karimi. Rollende Panzer, Luftangriffe und Bombardements waren an der Tages­ordnung. Geboren und aufgewachsen in Kermanshah, hat Karimi, die seit 2013 in Frankreich lebt, diese Zeit in ihrer Heimat selbst erlebt. All das, was heute in den kurdischen Gebieten passiert, ist für sie wie für so viele andere ein bitteres Déjà-vu. Sie erinnert sich auch an all die Horror­geschichten über die Kurden, die das Regime damals in die Köpfe ihrer Landsleute gepflanzt hat. Etwa von den blutrünstigen Hinter­wäldlern aus den Bergen, die ihren Gegnern die Köpfe abschneiden, und den Verräterinnen, die mit dem Erzfeind Irak gemeinsame Sache machen.

Letzteres traf zwar zu, aber nur bedingt. Im achtjährigen Krieg unterstützten sowohl der Iran als auch Irak die jeweils oppositionellen Kräfte des Gegners. In Kurdistan führte das zu der skurrilen Situation, dass Bagdad, das sich im Krieg mit den eigenen Kurden befand, jene im Iran unterstützte, und Teheran das Gleiche mit entgegen­gesetzten Vorzeichen im Irak tat. Das half Irans Macht­habern, auch nach dem Krieg das Narrativ der antipatriotischen Kurden zu nähren, die mit ihren Brüdern jenseits der iranisch-irakischen Grenze konspirieren, um ein unabhängiges Kurdistan zu schaffen.

Nicht umsonst rechtfertigt das Regime die aktuelle Brutalität in den kurdischen Gebieten mit dem «Separatismus». Dabei versichern kurdische Parteien seit Jahren, dass sie ein unabhängiges Kurdistan gar nicht anstreben. Dass ihnen das ihre nicht kurdischen Landsleute heute zu glauben scheinen, ist neu: «Zum ersten Mal stellt sich die iranische Gesellschaft hinter die Kurden», sagt Karimi. Sie brüllt sogar mit ihnen gemeinsam ihre Parole in kurdischer Sprache: Jin, jiyan, azadî! Frau, Leben, Freiheit!

«Die Kurden meinen es ernst mit Feminismus»

«Es wird gerne ausradiert, weil es unangenehm ist, aber der Spruch hat seinen Ursprung in der Arbeiter­partei Kurdistans, der PKK», sagt die Forscherin Rosa Burç. Die PKK, eine sozialistische Untergrund­organisation, die auf der Terrorliste von EU und USA steht, als Urheberin des zentralen Slogans einer feministischen Bewegung im Iran? Burç nickt.

1978 von Abdullah Öcalan und anderen Aktivisten als Unabhängigkeits­bewegung ins Leben gerufen, wollte die PKK zu Beginn durch einen Guerilla­krieg in der Türkei eine Revolution erreichen, um anschliessend einen eigenen kurdischen Staat zu gründen. In den 1990ern habe ein Paradigmen­wechsel stattgefunden, sagt Burç. Öcalan trat damals in Anzug und Krawatte, zum ersten Mal in Zivil, vor die Kameras und sagte sich los vom Ziel der Unabhängigkeit. Er sprach vom Aufbau einer Republik, in der die Kurden ihre eigene Autonomie hätten, ohne sich abzuspalten.

Aus dieser Zeit stamme auch die Parole «Jin, jiyan, azadî», die einem internen Reflexions­prozess der Partei zu Freiheit und Fremd­herrschaft geschuldet gewesen sei. «Öcalan hat den kolonialen Kampf nicht nur als Befreiungs­kampf der Nationen gesehen, sondern auch von Gesellschaften. «Sie können nur dann dekolonial sein, wenn sie die erste Kolonie der Menschheit, die Frau, befreien», sagt Burç. «Und das können sie nur schaffen, wenn die Frauen selbst den Widerstand leisten und gestalten und wenn gesellschaftlich die ‹dominante Männlichkeit› getötet wird.» Öcalan habe damals wörtlich gesagt: «Wir Männer müssen auch Feministen werden, wir müssen verstehen, dass Frauen das erste kolonialisierte Volk sind.»

Allein ist Öcalan aber nicht zu dieser Erkenntnis gekommen. Es waren die Frauen in der PKK, die ihn darauf brachten. Burç, selbst Kurdin aus der Türkei, hat für ihre Forschung mit älteren Guerilla­kämpferinnen gesprochen, die davon erzählten, wie sie sich ihren Platz in der Bewegung als gleich­berechtigte Partnerinnen erkämpften. Wie sie dafür sorgten, eine eigene Brigade in der Untergrund­organisation zu bekommen und nicht nur zu häuslichen Arbeiten zur Versorgung der männlichen Mitglieder verdonnert zu werden.

Der feministische Diskurs, der Anfang der 1990er-Jahre begann, trug 2005 erste Früchte. Die Bewegung begann sich anders zu organisieren, die Jineologie, der kurdische Feminismus, wurde nicht nur Teil der offiziellen Ideologie, sondern gelebte Realität, sowohl in der Türkei als auch in Syrien. So gilt etwa in von kurdischen Gruppen kontrollierten Gebieten eine penibelst eingehaltene Frauen­quote. Vom Bürgermeister bis zur Schul­direktorin ist jeder Posten doppelt besetzt. Ebenso wird Jineologie an Frauen­akademien, in Gemeinschafts­zentren und sogar Gymnasien als eigenes Fach gelehrt. «Die Kurden meinen es sehr ernst mit dem Feminismus», sagt Burç. «Das ist keine Floskel.»

Kurdische Rebellinnen fordern in den frühen 1980er-Jahren vom Iran, vom Irak und von der Türkei die Unabhängigkeit ihres Landes. Michel Setboun/Corbis via Getty Images

Im Westen hat man das kaum begriffen. Da wird der kurdische Feminismus zumeist exotisiert. Zuletzt 2014, als Frauen in Rojava, dem kurdischen Landstrich in Nord­syrien, gegen die Terrormiliz IS kämpften. Die mutige Peshmerga-Frau mit Waffe in der Hand und wehendem Haar, die sich einer islamistischen Mörder­bande in den Weg stellt, hat die Herzen in unseren Breiten­graden höher­schlagen lassen. Frauen aus dem Nahen Osten, die nicht wie unterjochte, zwangs­verschleierte Geister­wesen daherkommen, sondern Terroristen bekämpfen (zumal es deren grösste Angst ist, von einer Frau getötet zu werden, weil ihnen dann der Weg ins Paradies versperrt wird): Was gibt es Erhebenderes? Das ist der Stoff, aus dem TED-Talks gemacht sind! Nicht umsonst widmeten Frauen­zeitschriften den mutigen Kurdinnen Bilder­strecken mit strengem Blick und geschulterten Bazookas. Die schwedische Modekette H&M hat sich gar zu einem khaki­farbenen Jumpsuit in Peshmerga-Optik inspirieren lassen – was der Konzern zwar abstritt, aber wofür er sich dennoch entschuldigte.

Kein bewaffneter Konflikt

Unter den Kurden im Nahen Osten entfaltete der Kampf gegen den IS eine ganz andere Kraft. Zum ersten Mal brüllten Kurdinnen damals auf Irans Strassen die Parole «Jin, jiyan, azadî». Aus Solidarität – und aus Eigen­ermächtigung. «Das ist die transnationale Dimension, die die kurdische Bewegung in verschiedenen Teilen der Region neu entfacht und antreibt», erklärt der Politologe Kamran Matin von der britischen University of Sussex. Der kurdische Horizont sei immer über nationale Grenzen hinausgegangen. «Kurden sind vielleicht im Iran unterdrückt, in Nord­syrien haben sie aber de facto ihren eigenen Staat», sagt Matin. Die Tatsache, dass es woanders für sie klappen könnte, motiviert und bestärkt. Der Kampf der Kurdinnen gegen den IS in Syrien oder das Unabhängigkeits­referendum im Irak 2017, all das zeugt von Bewegung und hebt die Moral auch dort, wo es in der kurdischen Frage stiller ist.

In diesen Jahren war man im Iran enttäuscht über die eigene Passivität, erinnert sich Matin, selbst iranischer Kurde. Die Führung der kurdischen Parteien, die seit den 1980ern aus dem Nordirak operierte, hatte politische und militärische Aktivitäten im Iran gedrosselt, zuweilen ganz eingestellt. 2016 kam es jedoch zu einer Art Wieder­auferstehung: Rasan (Aufstand) nannte sich die gestartete Kampagne. Peshmerga-Kämpfer wurden in den Iran geschickt, um die Leute aktiv zu rekrutieren und den Spirit als Befreiungs­bewegung hochzuhalten. In dieser Zeit kam es oft zu bewaffneten Auseinander­setzungen zwischen Streit­kräften des iranischen Regimes und kurdischen Kämpfern, denen von der Partei­spitze die Erlaubnis zur Selbst­verteidigung gegeben worden war. 2015 wird ein aussen­politischer Sprecher einer kurdischen Partei in einem Artikel von al-Jazeera zitiert, dass die Partei­führung beschlossen habe, gegen den iranischen Staat mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln anzukämpfen. Ist das der Freifahrt­schein zum Angriff? Haben kurdische Kämpfer je aktiv von sich aus Regime­kräfte attackiert? «Niemals», bestreitet Matin, «sie haben nie den Konflikt gestartet.»

Eine Order, die bis heute gilt. In den vergangenen Monaten stand immer wieder die Frage im Raum, ob sich die Kurdinnen gegen die Brutalität des Regimes demnächst auch bewaffnet zur Wehr setzen würden. Eine düstere Vorstellung, würde doch das Schreckens­szenario Wirklichkeit werden, das die Islamische Republik schon immer herauf­beschworen hat: ein Bürger­krieg entlang ethnischer und religiöser Konflikt­linien.

Provoziert genug wären die Kurden. Denn der Gewalt­exzess der Islamischen Republik in den kurdischen Gebieten macht nicht an den iranischen Landes­grenzen halt. Seit Anfang der Proteste werden auch iranisch-kurdische Stellungen im Nordirak angegriffen. Es ist eine Zerreiss­probe für die kurdischen Parteien, deren Exil schliesslich vom Wohl­wollen Bagdads abhängt, das kein Interesse an militärischen Auseinander­setzungen in seinem Hoheits­gebiet hat – geschweige denn an einem Krieg mit dem Nachbar­land.

Dass der lange Arm des Mullah-Regimes bis ins Ausland reicht, wissen die Kurdinnen nur zu gut. 1989 haben iranische Agenten den Partei­vorsitzenden der Demokratischen Partei Kurdistan-Iran Abdul Rahman Ghassemlou und zwei weitere Kurden in Wien ermordet, drei Jahre später in Berlin im griechischen Lokal Mykonos vier seiner Partei­kollegen. Das Ausschalten der politischen Elite Kurdistans hat eine lange Tradition.

Abdul Rahman Ghassemlou wurde als Parteichef der Demokratischen Partei Kurdistan-Iran 1989 ermordet. (Das Bild stammt aus Hamburg, Ghassemlou war 1984 Gast bei einer Veranstaltung der deutschen Grünen.) Patrick Piel/Gamma-Rapho via Getty Images

Dennoch: Bislang gab es keine bewaffnete Antwort auf die aktuellen Aggressionen. «Einzelne Akte des bewaffneten Widerstands könnten vorkommen, aber es wird nichts im grossen Stil sein», prophezeit Matin. Auch die Soziologin Fatemeh Karimi winkt ab: «Das wäre Selbstmord für die Kurden.» Einer bis an die Zähne bewaffneten Islamischen Republik wären sie niemals gewachsen. Das wissen alle in Kurdistan.

Alte Stereotype im Exil

Niemand hat Interesse an einem noch grösseren Blutbad. Schon jetzt führen die Menschen in den kurdischen Gebieten neben jenen in Sistan und Belutschistan die Todes­statistik der aktuellen Protest­bewegung an. Werden sich ihre Landsleute daran erinnern, wenn es eines Tages tatsächlich zum Sturz der Islamischen Republik kommen sollte? An all die Opfer, die sie gebracht haben?

Der Politologe Kamran Matin ist skeptisch. In den vergangenen Monaten kam es zu Annäherungen zwischen den oppositionellen Kräften im Ausland. Den kurdischen Parteien wurde dabei aber keine zentrale Rolle zugestanden, obgleich sie gemäss Matin die einzige politische Gruppe sind, die über die nötige Organisation und Mobilisierungs­kraft im Iran verfügt. Auch unter den Regime­gegnerinnen im Exil hätten einige Schwierigkeiten, sich von der Auffassung zu verabschieden, die Kurden seien Separatisten, die die territoriale Integrität des Iran gefährden würden. Das schürt Misstrauen. «Ich denke nicht, dass Kurden mit irgendeiner Gruppierung zusammen­arbeiten sollten, die ihr Recht auf Selbst­verwaltung nicht anerkennt», sagt Matin. «Ansonsten sterben wir für jemand anderen, der uns am Ende dasselbe antut wie die Islamische Republik.»

Nach so langer Zeit kennt der Unter­drückte den Unter­drücker. Egal, in welchem Gewand er sich präsentiert.

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