Am Gericht

Eine Lektion für die Staats­anwaltschaft

Zwei Männer haben einer älteren Frau für viel Geld ein Bett und Maler­arbeiten angedreht. Dafür werden sie per Straf­befehl wegen Wuchers schuldig gesprochen. Aber wie viel ist dieser «Urteils­vorschlag» vor Gericht wert?

Von Daria Wild, 15.02.2023

Vorgelesen von Regula Imboden
0:00 / 14:43

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Seit der Einführung der eidgenössischen Strafprozess­ordnung 2011 erledigt die Staats­anwaltschaft praktisch alle Straf­fälle per Strafbefehl – meistens ohne die Beschuldigten auch nur ein Mal gesehen zu haben: Denn geht es um Freiheits­strafen bis sechs Monate Gefängnis oder um Geldstrafen bis 180 Tagessätze, muss die Staats­anwaltschaft die Beschuldigten nicht zwingend einvernehmen.

Eine Studie der Universität Zürich hat das Strafbefehls­verfahren stichproben­artig untersucht: Nur in 8 Prozent der Fälle macht die Staats­anwaltschaft eine Einvernahme, bevor sie den Straf­befehl erlässt. Auch deshalb ist das zehntägige Einsprache­recht von zentraler Bedeutung.

Die gleiche Studie hat zudem untersucht, was nach einer Einsprache passiert. Das Ergebnis: Mehr als 37 Prozent der Einsprachen werden von den Beschuldigten zurück­gezogen. In fast einem Viertel der Fälle hält die Staats­anwaltschaft am Straf­befehl fest, in einem Fünftel der Fälle erlässt sie einen neuen. Sehr selten erhebt sie Anklage an einem erst­instanzlichen Gericht.

Und, besonders problematisch: Gut jedes zehnte Verfahren stellt die Staats­anwaltschaft nach einer Einsprache sang- und klanglos ein. Offenbar erachtet sie in diesen Fällen ihren früheren Schuld­spruch plötzlich als derart wenig überzeugend, dass sie die Angelegenheit beendet (vermutlich, weil sie sie gar nie untersucht hat, sondern sich lediglich auf die Polizei­akten stützt).

Was hingegen passiert, wenn sich die Staats­anwaltschaft anders entscheidet und den Fall nach einer Einsprache vor Gericht bringt – darüber gibt es keine Untersuchungen. Es ist nicht bekannt, wie oft und warum es zu Freisprüchen und wie oft zu Verurteilungen kommt. Klar ist: Manchmal lohnt sich eine Einsprache für die Beschuldigten. Und manchmal halt nicht.

Ort: Bezirksgericht Aarau
Zeit: 19. Januar 2023, 9 Uhr
Fall-Nr.: ST.2021.5861
Thema: Mehrfacher Wucher, Einsprache gegen Strafbefehl

Es müsste doch aufgezeigt werden, sagt Straf­verteidiger Andreas Miescher in seinem Plädoyer eindringlich, warum man die Frau «über s Näscht abgschrisse het».

Der Berner Mundart­ausdruck umschreibt, weswegen zwei Männer an einem kalten Januar­morgen vor dem Aargauer Bezirks­gericht stehen: Malik Solecki und Tarik Krasniqi, die in Wirklichkeit anders heissen, sollen Frau Huber, die ebenfalls anders heisst, übers Ohr gehauen haben, indem sie ihr im Dezember 2020 ein Bett und im Juli 2021 Maler­arbeiten zu überrissenen Preisen verkauften.

Das sei mehrfacher Wucher, entschied die Staats­anwaltschaft und verschickte am 6. September 2022 je einen Strafbefehl an die beiden Männer.

Gegen Solecki, 43 Jahre alt, verhängte sie eine bedingte Geld­strafe von 70 Tagessätzen à 140 Franken. Gegen den zehn Jahre jüngeren Krasniqi eine unbedingte Geldstrafe von 90 Tages­sätzen à 150 Franken. Das macht mit Gebühren etwas über 3300 im ersten beziehungsweise über 14’500 Franken im zweiten Strafbefehl. Beide Männer erhoben Einsprache.

Der Strafbefehl mutierte zur Anklage­schrift.

Würde das Gericht der Staatsanwaltschaft folgen, hätte ein Schuld­spruch besonders für Krasniqi weitreichende Konsequenzen. Der 33-Jährige, das geht aus dem Straf­befehl hervor, war auf Bewährung. Er war im Kanton Neuenburg wegen eines Vermögens­delikts per Strafbefehl zu einer bedingten Geld­strafe, bei einer Probe­zeit von zwei Jahren, verurteilt worden.

Krasniqi hätte sich, würde er nun schuldig gesprochen, also nicht bewährt. Er müsste die 14’500 Franken bezahlen oder ins Gefängnis. Und seine Probezeit würde um ein Jahr verlängert. Es geht für ihn um einiges.

Ein sauteures Bett

Trotzdem ist das Straf­mass zu tief, als dass die Staats­anwaltschaft die Männer zwingend hätte einvernehmen müssen. Sie stützte sich im vorliegenden Fall lediglich auf die Einvernahme der Geschädigten (Frau Huber) durch die Polizei, auf polizeiliche Fotos der Maler­arbeiten sowie auf den Kauf­vertrag für das Bett.

Daraus schmiedete die Staatsanwaltschaft zwei identische Strafbefehle: Im Dezember 2020 seien Solecki und Krasniqi bei der 76-jährigen Frau Huber «erschienen», hätten vorgegeben, ihre Matratze kontrollieren zu wollen, um ihr dann mitzuteilen, dass ihre Matratze nicht mehr in Ordnung sei und ausgetauscht werden müsse. Die Seniorin unterschrieb einen Kauf­vertrag für ein komplett neues Bett mit Zubehör. Kostenpunkt: 19’200 Franken.

Ein halbes Jahr später seien die zwei Männer erneut bei Frau Huber erschienen und hätten ihr angeboten, Maler­arbeiten im Vorraum ihres Hauses auszuführen. Huber habe den beiden den Auftrag erteilt, ohne einen Preis zu vereinbaren. Die Männer hätten zunächst 8000 Franken, dann «in mehreren Tranchen immer wieder Zahlungen» gefordert. Schliesslich habe die Frau den Überblick verloren und insgesamt 30’000 Franken für die Maler­arbeiten bezahlt.

Der Staats­anwalt wirft den Männern vor, die Frau überfordert und ihre «Unerfahrenheit und Schwäche im Urteils­vermögen» ausgenützt zu haben. Letztlich hätten die beiden sich um 49’200 Franken bereichert.

Mit anderen Worten: Frau Huber über s Näscht abgschrisse.

Mehr als das gibt der zur Anklage­schrift mutierte Strafbefehl nicht preis. Und mehr geben auch die Beschuldigten nicht preis. Stoisch sitzen sie auf ihren Stühlen, Solecki in weisser Fleece­jacke, Krasniqi in dunklem Mantel, beide in Jeans und tadellos sauberen Schuhen. Sie verzichten auf eine Aussage, sowohl zum Fall als auch zu ihrer Person.

Und weder die Geschädigte Huber noch die Staats­anwaltschaft sind am Prozess anwesend.

Eine richterliche Lektion

Vielleicht auch deshalb hat Gerichts­präsident Reto Leiser die Verhandlung auf gerade mal drei Stunden angesetzt – und sie wird sogar noch weniger Zeit in Anspruch nehmen. Die Effizienz passt zum kargen Gerichts­saal: schwarze Tische, schwarze Stühle, dunkel­grauer Spann­teppich, weisse Wände und weisse Vorhänge, dazu jeden Winkel perfekt ausleuchtende Decken­lampen. Ein ausdrucksloser, man könnte auch sagen: ganz auf das Geschehen reduzierter Raum.

Dass in diesen vier Wänden durchaus etwas passiert, liegt an Richter Leiser und den beiden Anwälten. Sowohl Miescher, der Verteidiger von Solecki, als auch Fabian Brunner, Krasniqis Rechts­beistand, fordern zu Beginn der Verhandlung energisch, die polizeiliche Einvernahme von Frau Huber aus den Akten zu weisen. Es sei, argumentieren beide, das Recht auf Teilnahme und Konfrontation verletzt worden.

Man spricht in diesem Zusammenhang von Partei­öffentlichkeit. Artikel 147 der Strafprozess­ordnung hält fest, dass die Parteien das Recht haben, bei Einvernahmen dabei zu sein. Das gilt sowohl für Einvernahmen durch die Staats­anwaltschaft als auch für solche, die die Staats­anwaltschaft an die Polizei delegiert.

Gerichtspräsident Leiser, der um einen gewissen Unterhaltungs­wert ebenso bemüht scheint wie um Effizienz, lehnt den Antrag nach einer kurzen Pause ab. Er habe diese Rüge erwartet, aber «man muss nicht wahnsinnig lange Jus studiert haben», um den Unterschied zwischen verwertbar und aus den Akten weisen zu sehen. So ein Antrag würde in einem Vorverfahren Sinn ergeben, wenn die Einvernahme­protokolle dann tatsächlich vor der Verhandlung aus den Akten entfernt, in ein Couvert gesteckt und zugeklebt würden.

Die Frage sei hier, ob er die Einvernahme von Frau Huber für das Urteil verwende: «Gelesen habe ich sie sowieso schon.»

Von dieser kurzen Lektion unbeirrt, setzt Miescher in seinem Plädoyer die Kritik an der Staats­anwaltschaft fort und zerpflückt Stück für Stück den knapp vierseitigen Straf­befehl gegen seinen Klienten. Es würden etliche Kriterien für eine genügende Anklage fehlen, sagt Miescher. Frau Huber habe selber zu Protokoll gegeben, bereits vor sieben bis acht Jahren ein Bett gekauft zu haben, das sie als teuer empfunden habe. «Sie beginnt also nicht bei null.»

Im Straf­befehl werde auch nicht klar, wie Huber Kontakt zu den Männern aufgenommen habe, fährt Miescher fort. «Das ist eine Lücke.»

Der Kaufvertrag ist die Pièce de Résistance

In diesem Moment nickt Krasniqi, eigentlich Brunners Klient, aber schliesslich plädieren die Anwälte gegen identische Straf­befehle. Es ist die einzige von den Besucher­bänken aus erkennbare Regung eines der Beschuldigten. Das Schicksal der beiden Männer bleibt bis auf ein paar biografische Eckdaten aus dem Straf­befehl unbekannt.

Vermerkt ist hingegen die Betten­firma, in deren Auftrag die beiden Männer mutmasslich unterwegs waren. Sie wurde im Februar 2020 ins Handels­register eingetragen und ist seit Juni 2022 in Liquidation. Auf der Website wirbt die Firma für «hochkarätigen» Schlaf und spart ansonsten mit Informationen. Ausser Telefon­nummer und Mail­adresse verrät sie nichts.

Doch Frau Huber hatte einen Kauf­vertrag für das Bett, und der ist akten­kundig. «Pièce de Résistance» nennt Miescher das Papier. Und benennt weitere Lücken im Straf­befehl. Es finde sich kein Hinweis darauf, wieso Preis und Leistung in einem Missverhältnis stünden. Einer der Polizisten habe sogar selbst zu Protokoll gegeben, er könne nicht beurteilen, wie teuer so ein Bett sei. Auch über die Maler­arbeiten, die die beiden Männer für Frau Huber erledigten, wisse man nichts. «Es gibt keine Zahlungen, Quittungen, nichts in den Akten», sagt Miescher.

Huber habe selber gesagt, sie habe den Überblick verloren. Das könne gut sein, unklar bleibe aber, warum das zu einem strafbaren Verhalten führen sollte. Die Anklage begründe den Betrag von knapp 50’000 Franken Delikt­summe nicht. Und die Fotos der Maler­arbeiten würden keine Mängel zeigen, die nicht mit einer Nachbesserung behoben werden könnten.

Letztlich, argumentiert Miescher, kläre der Straf­befehl nicht, ob es seitens der Seniorin Unerfahrenheit und Abhängigkeit gegeben habe. «Das wäre die Basis für eine Verurteilung.»

Fabian Brunner, Verteidiger des vorbestraften Krasniqi, spart ebenfalls nicht mit Kritik an der Arbeit des Staats­anwalts: «Mit keinem Wort wird umschrieben, was passiert sein soll.» Welche Vorgänge und welcher Sachverhalt den Straftat­bestand erfüllen würden, sei unklar. Nicht mal der genaue Tat­zeitpunkt sei erwähnt. Zwar werde von der Unerfahrenheit und Schwäche Frau Hubers geredet, aber ohne darzulegen, wie diese ausgenützt worden seien.

Brunner weist darüber hinaus darauf hin, dass die beiden Männer womöglich auch eine andere Rolle gehabt haben könnten, von einer Mittäterschaft werde aber nicht gesprochen.

Das Fazit des Verteidigers: «Hätte man gemacht, wie man das hätte machen müssen, wären wir heute nicht hier.»

Nicht schuldig und doch selber schuld

Gerichts­präsident Leiser braucht nicht lange, um den Fall mit der Gerichts­schreiberin zu besprechen. Dafür nimmt er sich Zeit für die mündliche Urteils­verkündung – und wäre die Staats­anwaltschaft anwesend, gälte die nun anstehende Lektion ihr.

Es sei «äusserst klar», eröffnet Leiser die Urteils­verkündung, dass die Einvernahme von Frau Huber nicht zulasten der Beschuldigten verwertet werden könne, sonst hätte sie partei­öffentlich sein müssen.

Die Staats­anwaltschaft habe sich entschieden, nicht weiter zu untersuchen. Ein Versäumnis: «Sie hätte das mehr an die Hand nehmen müssen.» Es bleiben also: die Fotos der Maler­arbeiten und der Vertrag fürs Bett. «Das ist das Einzige, was wir haben», sagt Leiser. Man wisse nicht, wie viel tatsächlich bezahlt worden sei. Dabei wäre auch eine Bar­zahlung relativ einfach nachzuweisen gewesen. Bei Wucher müsse eine Zwangs­lage ausgenützt werden, eine Abhängigkeit, Unerfahrenheit oder Schwäche. Das sei hier nicht der Fall.

Dann holt Leiser zu einem kleinen Exkurs aus, in dem man ihn fast zu verlieren glaubt: Man könne grundsätzlich für gelieferte Güter den Preis verlangen, den man wolle. «Ein Skikleid in Gstaad kostet 15-mal mehr als ein Skikleid im Internet», sagt Leiser. Und ein Lacoste-Poloshirt mehr als eins von Coop Fairtrade, obwohl es gleich aussehe, «abgesehen vom Krokodil». In Aarau zahle man 25 Rappen pro Kilowattstunde Strom, beim EWZ in Zürich 15 Rappen – und hier könne man sogar von einer Zwangs­lage sprechen, aber auch das bedeute nicht, dass es Wucher sei.

Dann kehrt der Einzel­richter in einer steilen Kurve zurück zum Fall: Man könne nicht einfach sagen, schlechte Maler­arbeiten oder ein teures Bett seien Wucher. «Bei Wucher braucht es etwas mehr Aufwände seitens der Strafverfolgungs­behörden.»

Mit anderen Worten: Hier hat jemand seine Haus­aufgaben nicht gemacht.

Trotzdem, sagt der Richter, und dieses Mal gelten seine Worte den Beschuldigten, könne er nachvollziehen, dass «mit solchem Geschäfts­gebaren» ein Strafverfahren eingeleitet werde. Dass sie hier sässen, hätten sie vor allem sich selber zuzuschreiben.

Das Gericht spricht die beiden vom Vorwurf des Wuchers frei. Die beiden können aufatmen, zumindest vorerst: Das Urteil ist noch nicht rechts­kräftig, die Staats­anwaltschaft könnte es weiterziehen.

Illustration: Till Lauer

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