Geld vermehren und Gutes tun?

Max will vorsorgen für seinen Ruhestand. Und dafür in nachhaltige Unternehmen investieren. Aber ist das überhaupt möglich?

Von Philipp Albrecht (Text) und Anthony Gerace (Illustration), 06.02.2023

Vorgelesen von Jonas Gygax
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Unkraut jäten? Längen schwimmen? Mit dem Hund rausgehen? Du kannst dir beim besten Willen nicht vorstellen, wie dein Leben nach der Pensionierung aussehen könnte. Aber du bist ja auch gerade erst 25 geworden.

Doch neulich schwärmte deine Tante beim Lunch vom Vorsorge­system. Also von dem, was dein Leben nach der Pensionierung finanzieren wird. Denn von nun an zahlst du nicht mehr nur in die 1. Säule ein, die AHV, sondern automatisch auch noch in die 2. Säule, die Pensions­kasse. Und es sei auch an der Zeit, über die 3. Säule nachzudenken, das freiwillige Sparen, sagte deine Tante. Du fragtest: «Können wir nicht über Tiktok plaudern?»

«Dir ist schon bewusst, dass zwei Säulen für einen entspannten Ruhestand nicht ausreichen?», fragte sie zurück. Sie stellte eine simple Rechnung auf: 500 Franken jeden Monat, das könntest du zusätzlich zur Seite legen. Das sind 6000 Franken pro Jahr. 240’000 Franken in 40 Jahren. Mit Rendite liesse sich dieser Betrag bis auf eine halbe Million verdoppeln.

Du bist Max, stehst mit beiden Beinen im Berufs­leben. Dein Lohn ist hoch genug, um für die Rente freiwillig auf 500 Franken pro Monat zu verzichten und sie stattdessen in die 3. Säule einzuzahlen. Wenn du nicht vor 30 damit beginnen würdest, könntest du es später bereuen, findet deine Tante. Sie weiss, wovon sie spricht, als Finanz­chefin und ehemalige Personal­chefin eines Industrie-KMU.

Zu deinem Erstaunen konntest du dich, je länger sie redete, immer mehr mit dem Gedanken anfreunden, eigenes Geld anzulegen, um es zu vermehren. Du würdest aber deine Alters­vorsorge gerne sinnvoll investieren, sagtest du zu deiner Tante. In die Nachhaltigkeit.

Du bist also Max, und deine Geschichte beginnt mit der Frage, wie du mit deinem Geld Gutes tun kannst.

Noch weisst du erst, was für dich in diesem Zusammen­hang «Gutes tun» bedeutet: dass dein Vermögen für eine nachhaltige Wirtschaft verwendet werden soll, während es wächst und du keinen Zugriff darauf hast.

Was du noch nicht weisst: Auf die Frage, wie man mit nachhaltigen Investments die Welt tatsächlich verändern kann, hat bisher nur die Finanz­branche eine Antwort.

Und die wird dir nicht gefallen.

Warum wir über fiktive Personen schreiben

Max und seine Tante sind nicht real. Wir haben sie uns ausgedacht, um die Ohnmacht besser beschreiben zu können, die viele befällt, wenn sie sich mit der freiwilligen Alters­vorsorge befassen. Wie soll das Geld in der 3. Säule investiert werden? Welche Anlage­produkte sind die richtigen? Erfunden sind nur die Personen. Ihre Aussagen stammen inhaltlich aus Recherche­gesprächen und Erfahrungen aus dem privaten Umfeld des Autors. Auch der im Text zitierte Austausch mit einem der Anbieter ist echt. Die Namen der Anbieter nennen wir nicht, weil es nicht um einen Produkte­vergleich geht.

Ähnlich sind wir 2019 vor den nationalen Wahlen beim Thema Lobbying und 2021 bei der Abstimmung zum Pestizid­verbot vorgegangen.

1. Das Produkt

500 Franken pro Monat. 6000 Franken jedes Jahr. Wohin wird dein Geld fliessen, nachdem du es aus der Hand gegeben hast? Wer befindet darüber?

Beim letzten Lunch erzählte dir deine Tante, wie es damals in den Neunzigern war, als sie selbst ihre 3. Säule eröffnete. Ein einfaches Sparkonto reichte, weil die Zinsen hoch waren. Sie hatte ihr Erspartes aber zusätzlich in Anlage­produkte investiert. Ob es sich gelohnt habe, fragtest du sie. Das könne sie abschliessend erst in 15 Jahren sagen, wenn sie pensioniert werde: «Wenn ich auf den aktuellen Stand meines 3a-Kontos schaue, hat es sich auf jeden Fall gelohnt», sagte sie und hielt ihr Mineral­wasser in die Höhe, als wäre es ein Cüpli.

Du hast heute viel mehr Möglichkeiten als deine Tante damals. Ein klassisches 3a-Konto kannst du ohne grossen Aufwand online einrichten. (Im Gegensatz zu einem 3b-Konto sparst du mit 3a explizit für die Rente und darfst deine Einzahlungen von den Steuern abziehen.)

Bei einem Vergleichs­dienst hast du eine Liste von Firmen gefunden, die 3a-Apps anbieten. Du bist eine nach der anderen durch­gegangen und hast jene aussortiert, die keine nachhaltigen Anlage­produkte anbieten. Schliesslich verblieben 8 Anbieter in der engeren Auswahl. Es sind Pensions­kassen, Banken und Fintech­firmen.

Wie kannst du dein Geld bei den 3a-Anbietern investieren? Erst einmal lernst du, dass es beim Anlegen in der 3. Säule sinnvoll ist, einen möglichst hohen Aktien­anteil zu haben. Denn es ist eine Art Natur­gesetz an den Börsen, dass bei Aktien der Gewinn grösser ist, je länger man das in diese Aktien investierte Vermögen nicht anrührt. (Zumindest war das in den letzten 50 Jahren so.) Und das Geld aus der Säule 3a wirst du vermutlich erst in vier Jahr­zehnten beziehen, wenn du pensioniert wirst.

In Aktien zu investieren ergibt auch darum Sinn, weil du damit direkt Unter­nehmen unterstützen kannst, die aus deiner Sicht Gutes tun. Zwar erhalten die Unternehmen, die an der Börse sind, dein Geld nicht direkt, aber wenn ihre Aktie gefragt ist und also der Kurs steigt, geben ihnen die Banken eher Kredite. Wichtig für dich ist, dass du mehrere verschiedene Aktien hältst und nicht nur Aktien von einem einzigen Unternehmen.

Darum sind Fonds die beliebtesten Investment­produkte. Sie fassen verschiedene Aktien oder andere Wert­anlagen wie Edel­metalle oder Immobilien zusammen und können als aktive oder passive Variante gekauft werden. Die teureren aktiven Fonds werden immerfort von Experten betreut, die sich mit den Unter­nehmen und den Märkten auseinander­setzen. Die passiven Fonds erhalten weniger Betreuung.

In den meisten Fällen bildet der Fonds einen Index ab. Indizes sind die wichtigsten Gradmesser der Finanzwelt und geben in der Regel den aktuellen Wert einer Sammlung von Unternehmens­aktien an. Der in der Schweiz gängigste Index ist der Swiss Market Index (SMI), der die 20 grössten Schweizer Börsen­unternehmen umfasst.

Indizes können mit ihren Aktien verschiedene Kategorien repräsentieren, zum Beispiel eine Branche, eine Technologie oder eine Region. Wer etwa spezifisch an die Zukunft von asiatischen Halbleiter­produzenten oder europäischen Auto­zulieferern glaubt, findet diverse Indizes dazu.

Die meisten 3a-Anbieter, die du dir angeschaut hast, haben Index­fonds im Angebot, die von Banken zusammen­gestellt wurden. Teilweise besteht das ganze 3a-Produkt dann nur aus einem solchen Fonds. Das hat den Vorteil, dass die Gebühren tiefer sind, weil der passive Fonds eben keine Betreuung durch Experten benötigt. Einige Anbieter stellen unter­schiedliche Portfolios zusammen. Sie bestehen typischer­weise aus mehreren Fonds und einzelnen Obligationen. Je komplexer sie sind, desto höher die Gebühren. Teilweise kannst du auch verschiedene Fonds selber für dein Portfolio zusammen­stellen.

Wie die einzelnen Fonds genau aussehen, erläutern die Anbieter in Fact­sheets, einer Art Packungs­beilage. Dort kannst du die Namen der Firmen, die zum Fonds gehören, deren Branchen und Herkunfts­länder nachlesen. Allerdings werden meist nur die 5 oder 10 grössten Beteiligungen angegeben und nie die komplette Liste der Aktien, die im Fonds enthalten sind. Bei einzelnen Anbietern kannst du auf Nachfrage ins gesamte Portfolio schauen, aber längst nicht bei allen, da sich einige Fonds­anbieter nicht in die Karten schauen lassen wollen.

Du schaust dir alle Fact­sheets der 8 nachhaltigen 3a-Produkte deiner engeren Auswahl an. Dich interessieren vor allem die aufgeführten Aktien. Dir fällt auf, dass hauptsächlich in Unter­nehmen aus der Schweiz und den USA investiert wird. Zuoberst tauchen oft die gleichen Firmen auf: Nestlé, Novartis, Roche, Richemont, Microsoft oder Alphabet (Google).

Das sollen nachhaltige Unternehmen sein?

Um das zu beantworten, musst du erst einmal wissen, wie ein nachhaltiges Unter­nehmen definiert wird.

2. Die Definition

Was Nachhaltigkeit bedeutet, wurde vor 40 Jahren von der Uno erstmals definiert: Alle Menschen heute und in Zukunft sollen ein menschen­würdiges Leben führen können.

In vielen regelmässigen Uno-Treffen formulierten Expertinnen daraus die Hauptziele der nachhaltigen Entwicklung. Die 17 Sustainable Development Goals (SDG) sind so etwas wie der globale gemeinsame Nenner. Vier Beispiele:

SDG 1: Armut in all ihren Formen überall beenden.

SDG 4: Inklusive, gerechte und hochwertige Bildung sichern und die Möglichkeit für lebens­langes Lernen für alle fördern.

SDG 13: Massnahmen zur Bekämpfung des Klima­wandels und seiner Auswirkungen ergreifen.

SDG 15: Ökosysteme der Erde schützen, wieder­herstellen und ihre nachhaltige Nutzung fördern. Wälder nachhaltig bewirtschaften, unfruchtbares Land beleben und den Verlust der Bio­diversität stoppen.

Was bedeutet das für die Unternehmen? Eine Definition für eine nachhaltige Firma gibt es nicht. Auf den Websites der 3a-Anbieter, in Artikeln im Internet und in Erklär­videos auf Youtube stösst du aber ständig auf die Abkürzung ESG. Google liefert dazu 500 Millionen Resultate. ESG steht für:

  • Environmental, Umwelt. Beispiel: Das Unter­nehmen reduziert seinen Klimagas­ausstoss.

  • Social, Soziales. Beispiel: Das Unter­nehmen verhindert Kinder- und Zwangs­arbeit in der Lieferkette.

  • Governance, gute Führung. Beispiel: Das Unter­nehmen fördert Diversität in seiner Chefinnen-Etage.

Für immer mehr Investorinnen spielt das eine Rolle. Deshalb ist ESG überall. Nur eines ist ESG offensichtlich nicht: ein reguliertes Label.

«Lass mich raten: Alle 3a-Produkte sind mit ESG-Fonds hinterlegt, richtig?» Als du deine Tante am Telefon hörst, kommst du dir schon vor wie nach einem Bank­berater-Crashkurs, denn noch vor zwei Tagen hättest du keine Ahnung gehabt, wovon sie spricht.

«Praktisch alle. Ist das ein Problem?»

«Eher bezeichnend für die opportunistische Branche. Ein Bekannter von mir ist Fonds­manager. Er sagte einmal: Frag 10 Menschen, wie sie ESG definieren. Du wirst 10 unter­schiedliche Antworten erhalten und keine ist falsch. Das ist ESG.»

«Das hilft mir jetzt auch nicht weiter.»

«Es geht noch schlimmer. Ein paar schlaue Banker haben noch ein anderes Kürzel erfunden, das jetzt immer öfter in Fonds auftaucht: SRI, Socially Responsible Investing. Aber das kannst du getrost ignorieren. Am Ende zählt beim ethischen Investieren ohnehin nur das E in ESG. Die anderen Buchstaben werden bei Ratings kaum bewertet. Und für das E gibt es viel Raum für Interpretation. Bist du schon bei MSCI gelandet?»

3. Das Rating

Dir wird klar, dass die Indizes eine viel grössere Rolle spielen, als du dachtest. Und der unbestrittene Indizes-König heisst MSCI. Das Unternehmen mit Sitz in New York, das früher zur US-Bank Morgan Stanley gehörte (das Kürzel steht für Morgan Stanley Capital International), sammelt für seine Indizes Daten von börsen­kotierten Unter­nehmen aus der ganzen Welt.

Weil nun immer mehr Anleger bei ihren Banken nach ethischen und ökologisch nachhaltigen Investments fragen, sammelt MSCI spezifisch in diesen Bereichen mehr Daten und bildet daraus ESG-Indizes. Einer der wichtigsten ist heute der MSCI World ESG Leaders Index mit über 700 Aktien. Nach eigenen Angaben bietet MSCI inzwischen über 1500 ESG-Indizes an.

Die Firma hat hier eine beispiellose Stellung, weil sie nicht nur Indizes schafft, sondern gleichzeitig ESG-Ratings macht. Dazu lesen die Daten­sammler von MSCI die Geschäfts­berichte der Unternehmen und suchen darin nach Hinweisen auf vorbildliches Verhalten. Jedes Unternehmen erhält dann eine Note von CCC bis AAA. Je näher bei AAA, desto grösser die Chance, dass es ein Unternehmen auf einen ESG-Index und somit in einen ESG-Fonds schafft:

  • AAA / AA (Leader)

  • A / BBB / BB (Durchschnitt)

  • B / CCC (Nachzügler)

Oft reicht für einen ESG-Index aber auch ein AA, ein A oder sogar ein BBB. MSCI hat sich einige Ausnahmen einfallen lassen, damit es möglichst viele Firmen schaffen, die Kriterien zu erfüllen, und die Auswahl also gross ist. Zum Beispiel die «Best in class»-Regel, die selbst Konzerne in ESG-Indizes bringt, die viel CO2 ausstossen oder ihren CEOs unanständig hohe Saläre zahlen. Es zählt einzig, dass der Konzern Besserung verspricht oder im Branchen­vergleich weniger schlimm dasteht als die Konkurrenten.

Du schaust dir ein paar Schweizer Firmen genauer an, die regelmässig in den empfohlenen ESG-Fonds der 3. Säule auftauchen.

Zum Beispiel Nestlé. Der Lebensmittel­konzern erhält bei MSCI die zweitbeste Note: AA. Er investiert seit ein paar Jahren in Fleischersatz­produkte und trennte sich von zahlreichen umstrittenen Mineralwasser­quellen.

Aber weiterhin belastet das Unternehmen in seiner Liefer­kette das Klima, etwa wenn Kühe, die Milch für Nestlé-Schokolade produzieren, ihr Futter verdauen. Oder wenn beim Düngen auf den Feldern Lachgas freigesetzt wird.

Wie kommt Nestlé trotzdem zum AA-Rating? Dazu reichte das Versprechen, bis im Jahr 2050 klimaneutral zu sein. Auf dem Weg zu netto null muss Nestlé Zwischen­ziele erreichen. Wo das Unter­nehmen nicht selbst direkten Einfluss ausüben kann, kompensiert es den Ausstoss von Klima­gasen mithilfe von CO2-Zertifikaten. Sie sollen garantieren, dass irgendwo auf der Welt in Projekten, die nichts mit Nestlé zu tun haben, CO2 abgebaut wird. Zum Beispiel durch Aufforstung oder Solar­anlagen.

Für MSCI ist das in Ordnung so. Auch die rund 150’000 Vermögens­verwalter, die es auf der Welt gibt, sind froh, wenn sie Nestlé in die nachhaltigen Portfolios ihrer Kunden legen können. Denn die Aktie gilt seit vielen Jahren als sicherer Wert.

In einem SRF-Beitrag stösst du auf Frederic Hans, Umwelt- und Klima­analyst beim gemein­nützigen New Climate Institute in Köln. Hans widerspricht MSCI und Nestlé. In einer Studie haben er und weitere Autoren die Netto-null-Ziele von 25 grossen Unternehmen untersucht. Über Nestlé steht darin, dass die Kompensations­ziele des Konzerns «inkonsistent und irreführend» seien. Dies untergrabe die Integrität von Nestlés «langfristiger Vision und Gesamt­strategie».

Im SRF-Beitrag sagt Hans: «Nestlé spezifiziert nicht, wie viel Emissionen sie bis 2050 tatsächlich als Teil dieses Zieles reduzieren möchten.» Unter diesen Umständen könne man kein Netto-null-Ziel ausrufen.

Hans kritisiert auch, dass Nestlé, wie zahlreiche andere Unternehmen, CO2-Zertifikate kauft: «Vor allem, weil es suggeriert, dass eine Tonne CO2, die in die Atmosphäre entlassen wird, gleichwertig ist wie diese eine Tonne, die durch ein Projekt sozusagen eingefangen wird. Und das ist unserer Meinung nach nicht der Fall.»

Nestlé reagiert darauf mit dem Vorwurf, der Bericht enthalte «erhebliche Ungenauigkeiten». Im SRF-Beitrag sagt CEO Mark Schneider: «Wir sind eines der wenigen Unternehmen weltweit, wo der CO2-Ausstoss pro Jahr bereits zurückgeht, obwohl wir als Unternehmen weiter stark wachsen.»

Das Argument überzeugt dich nicht. Dir wird klar, dass du die Nestlé-Aktie nicht in deinem Portfolio haben willst. Das führt dazu, dass du theoretisch bei allen angebotenen Fonds nachfragen müsstest, ob Nestlé drin sei. Und selbst wenn das ausgeschlossen werden kann: Frederic Hans und seine Co-Autoren haben nur 25 Konzerne untersucht. Wie reduzieren alle anderen Börsen­unternehmen ihre Emissionen?

Während sie sich die Lesebrille aufsetzt, um einen Blick aufs Tagesmenü zu werfen, verdreht deine Tante die Augen: «Konzerne kommen heute einfacher an ein gutes ESG-Rating als ich an ein Mittags­menü mit Fleisch.»

«Aber es ist doch gut, wenn sich Konzerne um mehr Nach­haltigkeit bemühen. Nestlé schreibt auf seiner Website, dass es Milliarden dafür investiert.»

«Nestlé geht ja noch. Schon mal von Holcim gehört, dem Zement­konzern? Den solltest du inzwischen auch in den ESG-Fonds finden. Hat von MSCI eine AA-Bewertung erhalten, obwohl es nur wenige industrielle Verfahren gibt, die mehr CO2 ausstossen als die Herstellung von Zement.»

«Woher weisst du das eigentlich alles?»

«Eine Freundin von mir arbeitet beim WWF. Die beschäftigt sich nur noch mit der Klima­belastung durch Konzerne. Horror.»

«Und wie schafft es Holcim nun zu einer AA-Bewertung?»

«Es ist ein bisschen wie bei Nestlé, nur schlimmer. Holcim hat ganz viele Massnahmen angekündigt, die das Bauen nachhaltiger machen sollen. Etwa mit ökologischeren Mischungen für Zement und Baustoffe oder mit mehr Recycling. Aber so was wie grünen Beton gibt es auf dem Markt nicht.»

«Vielleicht einfach noch nicht?»

«So oder so verkauft Holcim nun eine Zement­fabrik nach der anderen. Mehr als jede dritte ist der Konzern schon losgeworden. Aber die Fabriken verschwinden nicht einfach. Denn die Menschen brauchen ja weiterhin Zement für Häuser und Strassen. Holcim wird damit aber nichts mehr zu tun haben und andere Dinge produzieren, die der Umwelt weniger schaden als Zement. Das heisst: ESG steht vor allem fürs gute Gewissen der Anleger.»

Sie nimmt ihr Handy aus der Tasche und setzt sich wieder die Lesebrille auf.

«Meine WWF-Freundin hat mir einen Link geschickt. Den leite ich dir weiter. Wirklich toll, weil MSCI da selber zugibt, dass ESG nichts mit Nachhaltigkeit zu tun hat. Ich frage mich, warum niemand darüber berichtet.»

4. Die Messbarkeit

Tatsächlich verweist MSCI auf der eigenen Website darauf, dass ESG «kein Synonym für nachhaltige Investments» sei. Die Ratings würden einem einzigen Zweck dienen: «der Messung der Widerstands­fähigkeit eines Unter­nehmens gegenüber finanziell bedeutenden ökologischen, gesellschaftlichen und Governance-Risiken.»

Mit Risiken ist gemeint, dass zum Beispiel Staaten im Kampf gegen den Klima­wandel neue Gesetze einführen könnten, die Unternehmen zum Handeln zwingen, weil sonst Verluste drohen.

Dann liest du: «(Die ESG-Ratings) sind kein allgemeines Mass für die ‹Güte› eines Unternehmens.» Im englischen Original steht «goodness». Es geht also nicht darum, dass die Unter­nehmen in den ESG-Indizes gut sind. Gut in dem Sinne, dass sie mit ihren Produkten und Dienst­leistungen dazu beitragen wollen, dass nachfolgende Generationen unter gleichen Bedingungen wie wir heute leben können.

Doch genau diese Verbindung zwischen «ESG» und «gut» stellt die Finanz­branche her; in der Werbung, in der Kunden­beratung und gegenüber den Investorinnen. Dabei sagt ESG lediglich etwas über die finanzielle Resilienz eines Unter­nehmens aus.

Du kehrst zurück auf die Seite eines der fünf Anbieter mit nachhaltigen 3a-Fonds. Er bietet nach eigenen Angaben die «erste grüne Säule 3a» an. Weiter steht da, viele Finanz­institute würden ihre Produkte «grünwaschen», dagegen wehre man sich. «Wir beziehen unsere Daten zu nachhaltigen Geld­anlagen von MSCI ESG Research. MSCI ESG ist der weltweit grösste Anbieter von Nachhaltigkeits­analysen und Ratings im Bereich Umwelt, Soziales und Unternehmens­führung.»

In ein Kontakt­formular auf der Website schreibst du: «Für meine Alters­vorsorge würde ich gerne nachhaltig investieren. Ihr schreibt, ihr würdet eure ‹Daten zu nachhaltigen Geld­anlagen von MSCI ESG Research› beziehen. Doch bei MSCI lese ich, dass deren ESG-Ratings kein Synonym für nachhaltige Investitionen seien. Wie erklärt ihr euch diesen Widerspruch? Freundliche Grüsse.»

Der «Head Private Clients» des Anbieters antwortet dir noch gleichentags. Das ESG-Rating von MSCI sei «aktuell der Industrie­standard» und werde von den meisten Anbietern genutzt, schreibt er. «Die Regulierung im Zusammen­hang mit dem Thema der Nachhaltigkeit entwickelt sich stetig weiter, somit werden auch die dazu nötigen Daten immer besser und tiefer, was eine ‹Messbarkeit› der Nach­haltigkeit immer zuverlässiger macht.»

Du musst die Antwort mehrmals lesen, bis du verstehst, dass der «Head Private Clients» der «ersten grünen Säule 3a» selber nicht daran glaubt, dass sich Nachhaltigkeit heute genügend zuverlässig messen lässt.

Du streichst alle Anbieter von deiner Liste, die nachhaltige Investments versprechen, die auf ESG-Fonds beruhen. Es bleiben nur noch zwei übrig.

Und du siehst ein, dass du nicht mehr darum herumkommst, dich mit Regulierung zu befassen.

5. Die Regeln

Wie lässt sich in einem Gesetz festmachen, welche Geschäfts­tätigkeiten als nachhaltig bezeichnet werden dürfen?

Die EU hat es in ihrer Taxonomie­verordnung versucht. Darin definiert die Staaten­gemeinschaft, dass nur als nachhaltig gilt, was mindestens zu einem der sechs Umwelt­ziele der EU einen Beitrag leistet. Diese orientieren sich in Teilen an den Nachhaltigkeits­zielen der Uno. Grob zusammen­gefasst geht es dabei um Klimaschutz, den Schutz der Öko­systeme und den Übergang in die Kreislauf­wirtschaft.

Gemeinsam mit zwei weiteren Verordnungen – SFDR und Mifid II – bildet die Taxonomie­verordnung ein Regelwerk, das Greenwashing verhindern soll. Seit August 2022 müssen Finanz­institute ihre Kundinnen fragen, wie nachhaltig sie investieren wollen. Zur Wahl stehen drei Stufen, jede davon erhielt von der EU einen eigenen Verordnungs­artikel:

  • Art. 6: Fonds ohne Berücksichtigung von Nachhaltigkeits­kriterien

  • Art. 8: ESG-Fonds, auch «hellgrüne» Fonds genannt

  • Art. 9: Fonds, die eine nachhaltige Investition anstreben, auch «dunkelgrüne» Fonds genannt

Bisher empfahlen die Banken den Kunden mit ethischen Ansprüchen in der Regel hellgrüne ESG-Fonds. Es reichte, zu sagen, dass man damit die Nach­haltigkeit fördere. Ein leichtes Spiel für die Banken und lukrativ dazu, weil man für diese Fonds höhere Gebühren verlangen kann.

Von nun an müssen sie erklären, dass ESG nicht mit einer positiven Wirkung auf die nachhaltige Entwicklung gleich­gesetzt werden kann. Wer in Aktien von Firmen investieren will, die wirklich etwas für die Nach­haltigkeit tun, muss einen dunkel­grünen Fonds kaufen.

Fällt die Entscheidung auf einen solchen Fonds, kommt für die Banken ein neues Problem hinzu: mangelnde Auswahl. Denn an der Börse gibt es noch viel zu wenig Unternehmen, die überhaupt in einen dunkel­grünen Fonds passen. Laut einer Studie sind in der EU aktuell nur 2,8 Prozent aller Fonds dunkelgrün. Viele davon mussten zudem in den letzten Monaten wegen Green­washing-Verdachts zu hellgrünen Fonds umgewandelt werden.

Das EU-Regelwerk hat noch Lücken, unter anderem weil die Definition von nachhaltigen Fonds noch immer nicht abschliessend geregelt ist. So schreibt die entsprechende Verordnung bisher lediglich vor, was alles gegenüber der Kundschaft offengelegt werden muss, aber nicht, welches Verhalten genau als nachhaltig gilt und welches nicht.

Dunkelgrüne Fonds müssen mindestens ein Nachhaltigkeits­ziel verfolgen und dürfen dabei «keinen signifikanten Schaden anrichten». Letzteres bedeutet, dass in anderen EU-Nachhaltigkeits­zielen Schäden erlaubt sind, sie dürfen einfach nicht übermässig gross sein. Was das genau heisst, liegt im Ermessen der Fonds­anbieter.

Die Lücken sollen in den nächsten Jahren beseitigt werden. Dass das nicht so einfach ist, zeigt ein umstrittener Entscheid des EU-Parlaments im Sommer 2022, wonach Investitionen in Kernenergie und Gas neu unter bestimmten Bedingungen als nachhaltig taxiert werden dürfen.

Fondsanbietern kommt das regulatorische Durch­einander entgegen. Solange keine klaren Verhältnisse herrschen, legen sie die Frage an die Kundschaft, welche der drei Nachhaltigkeits­stufen sie sich wünscht, nach eigenem Gutdünken aus oder stellen sie in Beratungs­gesprächen gar nicht erst.

Und was gilt in der Schweiz? Hier darf sich die Finanz­branche selber regulieren. Der Bundesrat will zwar verhindern, dass Privat­anlegerinnen falsche Nachhaltigkeit verkauft wird, doch die EU-Regulierung will er nicht übernehmen. Eine Arbeitsgruppe soll bis Ende September 2023 herausfinden, wie man Green­washing verhindern kann. Bis dahin setzt man auf die Selbst­verantwortung der Banken.

Du klappst deinen Laptop zu.

Es gibt also für nachhaltige Investments keine brauchbare Definition und erst recht keine griffigen Gesetze. Eine Sicherheit, dass dein Geld in nachhaltig wirtschaftende Unter­nehmen fliesst, hast du nicht. Erst recht nicht in der Schweiz.

Deine letzte Hoffnung liegt bei dunkel­grünen Fonds. Die beiden übrig gebliebenen Anbieter auf deiner Liste versprechen Zugang zu ihnen. Allerdings sprechen sie nicht von «dunkelgrün» oder «Artikel 9». Ihre Bezeichnung ist eindringlicher: «Impact Investing» – «wirkungs­orientierte Investitionen».

6. Der Unterschied

Einer dieser Anbieter verspricht dir, gleich doppelt vorzusorgen: für dich und für die Umwelt. Dein Impact lasse sich auf der App messen, steht da. Aber dich interessiert nicht, wie viel Kohlen­dioxid­ausstoss du mit diesen Fonds verhinderst. Du willst nicht wissen, was die Firmen einsparen, sondern was sie produzieren, um die Welt zu verändern.

Und das führt zu einem neuen Problem. In einem der Impact-Fonds taucht die Aktie von Tesla auf. Auf Tesla bist du schon bei ESG-Fonds gestossen. Es ist einer der Lieblinge der nachhaltigen Investment­welt und scheint auf den ersten Blick auch in die Kategorie Impact zu passen, da das Unter­nehmen zum Ausstieg aus fossilen Treib­stoffen beiträgt.

Aber Tesla hat eine sehr eigenwillige Vorstellung von Nach­haltigkeit. Neben der Tatsache, dass die Arbeits­bedingungen in seinen Fabriken beklagt werden, stört dich besonders, dass das Unternehmen Milliarden in Bitcoin investiert. In eine Krypto­währung mit einer katastrophalen Ökobilanz. Das ist nicht der Impact, der dir vorschwebt.

Bleibt der letzte Anbieter auf deiner Liste. Einer, der damit wirbt, dass er sich gegen Green­washing einsetzt. Sein aktivistischer Ton macht dich neugierig.

Nachdem du auf der Website deine Präferenzen (energiesparende Technologien, Kreislauf­wirtschaft und «Schweizer Champions») eingegeben und zahlreiche Ausschluss­kriterien (etwa Waffen oder Kern­energie) angeklickt hast, geschieht etwas, mit dem du nicht mehr gerechnet hast: Du erhältst eine Auswahl.

Es ist keine Fondsliste wie bei anderen Anbietern, sondern eine Auflistung von 30 Unternehmen, die deine Präferenzen decken sollen. Von den meisten hast du noch nie etwas gehört. Aber jedes wird in einer Kurz­beschreibung porträtiert: ein schwedischer Wärme­pumpen­produzent, ein norwegischer Hersteller von Sortier­maschinen für die Recycling­industrie oder ein britisches Entsorgungs­unternehmen, das Landschaften von Deponien befreit. Weil du bei den Themen auch «Schweizer Champions» angeklickt hast, werden noch heimische Immobilien­firmen, Finanz­unternehmen und ein Uhren­konzern aufgelistet.

Nun hast du die Möglichkeit, einzelne davon auszuschliessen. Du löschst fünf, die dir nicht sympathisch sind. Darunter der Versicherer Swiss Life, den du auf keinen Fall in deinem Portfolio willst.

Bevor du auf «Weiter» klickst, fragst du dich, ob du dir so viel Verantwortung überhaupt zutraust. Was, wenn dein Vermögen aufgrund deiner unqualifizierten Entscheidung schrumpft, statt zu wachsen? In den Erläuterungen liest du aber, dass der Anbieter eingreifen kann, falls du zu riskant unterwegs wärst. 20 Prozent deines Portfolios werden zudem in sogenannte Green Bonds investiert. Damit leihen sich Staaten und Unter­nehmen Geld für umwelt­freundliche Projekte. Auch sie verringern das Risiko in deinem Portfolio.

Eine Modell­rechnung auf der Website zeigt, dass du bei monatlich 500 Franken Einzahlung im Jahr 2044 (weiter geht die Zeitachse noch nicht) 260’000 Franken auf deinem Konto haben könntest. Das wäre eine Rendite von 117 Prozent. Nicht schlecht, denkst du, vor dem Hintergrund der anderen Produkte, die du angesehen hast.

Aber selbst diese Aussichten stimmen dich nicht wirklich zuversichtlich.

Du wolltest dein Geld so investieren, dass es erstens die Alters­vorsorge verbessert und zweitens für Gutes eingesetzt wird. Du wurdest nicht fündig, weil die ESG-Ratings der Finanz­branche nicht taugen, um nachhaltige Unternehmen zu beurteilen; weil die staatlichen Bemühungen zur Verhinderung von Green­washing noch nicht ausreichen; und weil es an der Börse nicht genügend nachhaltige Wert­papiere gibt, aus denen man sichere Fonds für die Alters­vorsorge bauen kann.

Du entscheidest dich trotzdem für diesen Anbieter, weil er deinem Wunsch am nächsten kommt. Du hast gelesen, man solle mehrere 3a-Konten eröffnen und sie bei der Pensionierung gestaffelt auflösen, um Steuern zu sparen. Vielleicht bietet dir die Finanz­welt in ein paar Jahren, wenn du ein zweites Konto eröffnest, die Produkte an, die du heute vergeblich suchst.

Epilog

Nach Neujahr triffst du dich mit deiner Tante wieder zum Lunch.

«Ich hab meine ersten 500 Franken in die 3. Säule eingezahlt.»

«Gratuliere! Hast du etwas gefunden, mit dem du leben kannst?»

«Ich habe mich für Impact Investing entschieden.»

«Ach, das gibts ja auch noch. Lass mich raten: In deinem Portfolio sind wahrscheinlich nicht nur skandinavische Recycling­firmen, sondern auch Schweizer Versicherer?»

«Du bist mal wieder viel zu gut informiert. Aber: Ich kann einzelne Titel streichen, die mir nicht passen.»

«Schön für dich. Nur steigt dann einfach das Verlust­risiko, weil du zu wenig Titel von Finanz- und Pharma­konzernen aus der Schweiz oder Tech­konzernen aus den USA hast. Das sind die sicheren Werte mit langfristiger Wertsteigerung.»

«Solange deren Anteil am gesamten Portfolio klein ist, kann ich damit leben, dass sie nicht zu 100 Prozent nachhaltig sind.»

«Dann ist ja gut. Ich will nicht pessimistisch klingen, aber ich machte mir letzte Woche in den Ferien Gedanken über deine guten Absichten, und dabei fiel mir eine gute Begründung ein, warum ich selber nicht nachhaltig investiere. Willst du sie hören?»

«Ich bin mir nicht sicher.»

«Nimms mir nicht übel. Aber du musst wissen, dass wir von den Unternehmen nicht erwarten dürfen, dass sie alles richtig machen. Denn sie machen immer nur das, was sie glauben, machen zu müssen, um nicht im grossen Stil Gesetze zu brechen oder Investoren zu verärgern. Darum bringt es der Umwelt wenig, wenn du nachhaltig investierst. Am Ende muss der Staat die Gesetze verschärfen, anders geht das nicht.»

«Und der Einfluss von uns Konsumenten und Anlegerinnen zählt nicht?»

«Tja, ich beziehe mich da gerne auf den Klima­forscher Reto Knutti, der mal gesagt hat, der Mensch sei dumm, faul, egoistisch und kurzsichtig.»

Das entspricht zwar nicht dem Bild, das du von den Menschen hast. Aber du magst jetzt nicht weiter debattieren.

Deine Tante bestellt zwei Cüpli, und während ihr auf deine Alters­vorsorge anstosst, fällt dir wieder ein, dass sich letzte Woche dein 3a-Anbieter per Mail gemeldet hat. Er musste dein Portfolio anpassen, «damit dein Impact Investment sowohl nachhaltig als auch finanziell stabil bleibt». Die Aktie von Swiss Life ist nun wieder drin.

Aber das muss deine Tante nicht wissen.

Hinweis: Wir haben ursprünglich geschrieben, dass via Traktoren Lachgas auf den Feldern verteilt wird. Das ist viel zu verkürzt ausgedrückt: Lachgas entsteht als Neben­produkt beim Dünge­prozess. Wir bedanken uns für den Hinweis aus der Leserschaft.

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