«Es ist unsere Aufgabe, voll und ganz zu leben»

Eigentlich wohnt das ukrainische Schriftsteller­ehepaar Iryna Tsilyk und Artem Tschech zusammen mit dem zwölf­jährigen Sohn in Kiew. Doch seit Artem Tschech im Militär gegen die russischen Invasoren kämpft, ist alles anders.

Von Daniel Graf (Text) und Anne Morgenstern (Bilder), 21.01.2023

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Vorgelesen von Miriam Japp
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Der Krieg als gigantische Interruption: Iryna Tsilyk und Artem Tschech erzählen von einem Einbruch in das Leben, in die Beziehung.

Vielleicht müssen hier zwei Text­zitate am Anfang stehen. Das erste ist ein Ausschnitt aus einem Gedicht von Iryna Tsilyk:

Menschen in Flip-Flops warten
auf Menschen in Kampfstiefeln,
messen jeden Schritt ab, jeden Tag – (…)

Oder warten nicht.

Das zweite, von Artem Tschech, stammt aus einem auto­biografischen Bericht über seinen Kriegs­einsatz beim ukrainischen Militär:

Es heisst, mehrere Transporter mit Volontären seien ins Haupt­quartier gekommen, die Kleinigkeiten für Silvester dabeihatten. Kekse, Süssigkeiten, einige nette Überraschungen und sogar Alk: Jemand meinte, er habe Kognak gesehen. All das für die Kerls, die Neujahr in ihren Unterständen feiern müssen, weit weg von ihren Familien. (…) Dann gab es ein Feuerwerk, nicht schlechter als in der Stadt. Leuchtspur­munition und Signal­raketen flogen von unserer Seite und der gegnerischen Seite in den Silvester­himmel.

Aber Zitat 2 beschreibt nicht den aktuellen Jahres­wechsel und Zitat 1 keine Szene aus dem vergangenen Sommer.

Tschechs Buch «Nullpunkt», vor kurzem in der Übersetzung von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck auf Deutsch herausgekommen, verarbeitet die Kriegs­erfahrungen des Autors 2015/16 im Donbass, als Tschech schon einmal für ein Jahr Soldat war und gegen die von Russland unterstützten Separatisten kämpfte. Im ukrainischen Original erschien das Buch 2017 – das Jahr, in dem auch Iryna Tsilyks oben zitiertes Gedicht «.Flip-Flops und Kampfstiefel.» für das Online-Archiv Lyrikline aufgenommen wurde (deutsche Übersetzung: Beatrix Kersten und Simone Lappert).

Man kann es sich nicht oft genug vor Augen führen: Nicht seit dem 24. Februar 2022, sondern seit bald neun Jahren herrscht in der Ukraine Krieg.

Seit Beginn der russischen Gross­invasion ist auch Artem Tschech wieder als Soldat im Einsatz, in den ersten Wochen noch in Kiew, wo er mit seiner Frau, der Schrift­stellerin Iryna Tsilyk, und dem zwölf­jährigen Sohn Andriy lebt; seit April an der belarussischen Grenze, wo er mit seiner Einheit den Luft­raum überwachen, also das Eindringen russischer Raketen und Kamikaze-Drohnen verhindern soll. Auch das muss man sich vielleicht nochmals vor Augen führen: Artem Tschech ist eigentlich Schrift­steller. Aber was heisst schon «eigentlich» in Zeiten des Kriegs.

Als Tschech Ende November ein paar Tage Front­urlaub bewilligt bekommt, führt eine kurze gemeinsame Lese­reise Iryna Tsilyk und Artem Tschech auch ins Literatur­haus Zürich. (Hier liesse sich schon wieder ein «eigentlich» ergänzen, denn eigentlich hatte Tschech schon Ende Februar zu einer Veranstaltung nach Zürich kommen wollen. Dann kam die Gross­invasion, Tschech rückte zum Dienst in der Landes­verteidigung ein, und aus dem ursprünglich geplanten Osteuropa-Podium im Literatur­haus wurde ein Gespräch über den Krieg, gegen die Sprachlosigkeit.)

Wir treffen Artem Tschech und Iryna Tsilyk am Morgen nach der Literaturhaus-Veranstaltung in ihrem Hotel unterhalb des Lindenhofs. Es ist ihr Abreisetag; die Stunden nach dem Termin mit der Republik wollen sie noch nutzen, um sich die Zürcher Altstadt anzusehen.

Es komme vor, erzählt Iryna Tsilyk, dass sie gefragt werde: Wie hat der Krieg Ihr Leben verändert? «Aber es ist einfach nicht möglich, darauf eine prägnante Antwort zu geben, denn der Krieg verändert alles.» Und wer nur den Frieden kenne, könne sich nur sehr bedingt ausmalen, was es bedeutet, wenn Menschen andere Menschen foltern, vergewaltigen, töten.

Tsilyk hat nicht nur ein literarisches Schaffen vorzuweisen, das vom Roman über Erzählungen und Kinder­bücher hin zu Songs und Gedichten reicht. Sie ist auch eine preis­gekrönte Regisseurin, die Dokus über den Krieg gedreht hat: gemeinsam mit Alina Gorlowa und Svitlana Lischynska etwa den Film-Almanach «Invisible Battalion» (2017) über ukrainische Frauen im Kriegs­einsatz und «The Earth Is Blue as an Orange» (2020) über eine Familie in der «roten Zone» im Donbass. Auch derzeit arbeitet sie an einem Film über Frauen im Krieg, der Arbeits­titel lautet «Red Zone».

Sie kenne Front­linien und Gefahren­zonen also aus vielfacher eigener Anschauung, sagt Tsilyk, aber es sei für sie noch einmal ein fundamentaler Einschnitt gewesen, als der Krieg 2022 «in my city», nach Kiew, gekommen sei. Die Explosionen vor dem eigenen Fenster zu hören und den eigenen Sohn vor Angst zittern zu sehen, «dieser Moment hat alles verändert. Weil ich nicht wusste, ob ich ihn würde beschützen können.» In Wirklichkeit, sagt Tsilyk, könne man sich erst dann richtig in andere hinein­versetzen, wenn man selbst die gleiche Erfahrung gemacht hat.

Wir sprechen auf Englisch, den Part von Artem Tschech dolmetscht seine Frau aus dem Ukrainischen.

Ich frage ihn, ab wann ihm klar war, dass er wieder in der Armee kämpfen würde, und ob er sich freiwillig gemeldet habe. Tschech antwortet, schon etliche Wochen vor dem 24. Februar hätten die Ukrainerinnen in der Angst gelebt, dass der Überfall kommen würde. In dieser Zeit habe er sich innerlich vorbereitet. «Freiwillig» sei allerdings das völlig falsche Wort. In seiner Einheit habe nur ein winziger Bruch­teil militärische Erfahrung gehabt, und niemand von den Zivilisten, die jetzt kämpfen, wolle eigentlich Soldat sein. Aber sie seien motiviert, weil sie ihr Land retten wollten. Sie kämpften, weil sie diesen Krieg so schnell wie irgend möglich beenden wollten.

So gesehen, beschrieb Tschechs «Nullpunkt» schon vor Jahren eine Situation, in die 2022 unzählige Ukrainerinnen gerieten. Das Buch ist eine auto­biografische Erzählung darüber, wie aus dem Zivilisten, dem «Hipster aus Kiew», wie es Iryna Tsilyk formuliert, ein Soldat wird. «Nullpunkt» ist ausserdem ein Text, der fernab von Beschönigungen und falschem Heroismus das Innen­leben eines Militär­angehörigen im Krieg ausleuchtet, basierend auf Notizen, die Tschech noch im Schützen­graben in sein Handy getippt hat. Und immer wieder ist das Thema dieser gewaltige Kontrast:

In der Armee ist es allgemein schwer, im Krieg umso mehr. Hier springe ich in die Metro, fünfzehn Minuten und schon sitze ich im Büro und trinke Kaffee, dort dagegen ist es dunkel, kalt und unheimlich, dort herrschen Krieg und Ungewissheit, jenseitiger Schrecken und urzeitliches Gemetzel – Metall gegen Menschen.

Jetzt, in seinem erneuten Kriegs­einsatz, wo Tschech nicht mehr in Popasna im Osten der Ukraine stationiert ist, sondern im Norden, in der Nähe von Tschernobyl, ist die direkte Gefechts­zone etwas ferner. Wenn man darunter den Schusswaffen­gebrauch der Boden­truppen versteht.

Tschech hat das Kommando über sieben Soldaten, seine Luft­verteidigungs­einheit an der Grenze zu Belarus bedient momentan unter anderem den deutschen Flugabwehr­panzer Gepard. Ihre Unterkunft im Wald ist ein Haus mit Bad und Küche – verglichen mit den Soldaten im Süden und Osten, schrieb Tschech kürzlich in einem Beitrag für die britische «Sunday Times», hätten sie geradezu «märchenhafte» Bedingungen. Aber märchenhafte Bedingungen in einem Inferno bedeuten immer noch, dass der Gedanke an den eigenen Tod ein ständiger Begleiter ist.

Artikel für internationale Zeitungen: Das ist derzeit die Gattung, in der Iryna Tsilyk und Artem Tschech schreiben. Und Facebook-Posts, erzählt Tsilyk, seien ungeheuer wichtig geworden. Als Bewältigungs­form. Um Verbindungen zu knüpfen, in Verbindung zu bleiben. Und um die Aufmerksamkeit im Ausland wachzuhalten.

Wie Tsilyk ist eigentlich auch Tschech ein sehr produktiver Autor, der bereits ein Dutzend Prosa­werke und Sach­bücher veröffentlicht hat. Vor Beginn des russischen Überfalls arbeitete er an einem neuen Roman­projekt, einer Road Novel, die in der Zeit des amerikanischen Bürger­kriegs spielt. Die Haupt­figuren: ein ehemaliger Sklave und ein Ukrainer, der aufseiten der Nord­staaten gekämpft hat.

Doch ans literarische Schreiben, wen wundert es, ist seit Februar 2022 nicht mehr zu denken. Es gehe nicht, sagt Tschech. Dabei hätte er, seit er an der belarussischen Grenze stationiert ist, durchaus manchmal die Zeit. Auch Tsilyk winkt ab: An Lyrik arbeite sie derzeit kaum.

Zu Friedens­zeiten ist das Wort in Künstler­kreisen fast schon ein Running Gag: Man hat eben «Projekte». Aber vielleicht wird gerade an solchen Projekten eine der grundlegendsten Folgen des Krieges greifbar: Der Krieg ist ein gigantischer Unterbruch. Eine Interruption, von der man nicht weiss, ob sie wirklich etwas Zwischen­zeitliches hat. Oder endgültig wird. Auch das ist gemeint, wenn Iryna Tsilyk sagt, der Krieg ändert alles. Und von anderem, das tiefer geht, spricht der Beginn eines ihrer Gedichte von 2017:

Schwärzer und schwärzer wird die Erde nach Osten
Nimm frisches Wasser und Waffen. Glaub nichts, bitte nichts.
Lass das Nichtige los, sei weise, komm auf dem Bauch.
Ich will keine Kinder mehr. Zu finster sind die Zeiten.

Iryna Tsilyk: «Schwärzer und schwärzer»; Übersetzung: Claudia Dathe.

Ukrainisches Original, gelesen von der Autorin:

Übersetzung, gelesen von Miriam Japp:

Artem Tschech heisst eigentlich Artem Tscherednyk. Als Kind kam er einmal enthusiastisch von einer Prag-Reise zurück und schwärmte derart ausdauernd von der Stadt, dass ihn seine Mitschüler in Tscherkassy bald nur noch «Tschech» nannten: den Tschechen. Aus dem Spitz­namen wurde dann später sein Künstler­name.

Auch Iryna Tsilyk nennt ihren Mann, jedenfalls in der Öffentlichkeit, immer nur Tschech, was etwas komplizenhaft Verschworenes hat. Und wer Tsilyks ukrainische Facebook-Posts nur per Auto­translate lesen kann, dem suggeriert die künstliche Intelligenz dann dauernd, es sei von Tschechien die Rede. Was ja nicht mal ganz falsch ist.

Eine Szene in Tschechs Buch «Nullpunkt» beschreibt den 10. Jahres­tag ihrer Beziehung, der mitten in die Zeit seines Kriegs­dienstes fällt. Drei Monate haben sie sich nicht gesehen, doch zu diesem Anlass bekommt Tschech frei, und sie treffen sich in Sewerodonezk: «Unser Jahrestag im Donbass».

Zwei Tage. Wir haben zwei Tage. Sie scheint glücklich zu sein, und obwohl ich mich bemühe, Ähnliches zu empfinden, erstarre ich bei jeder Kleinigkeit.

Nichts bereitet mir Freude, ich habe auf nichts Lust. Könnte ich nur möglichst schnell zurückkehren in meinen gewohnten Alltag, zur schmalen Treppe des Unterstands, zum Moder­geruch, zum Gefühl leichter Gefahr bei ganztägigen Fuss­märschen, zum Tages­plan, der Bedächtigkeit, den eingespielten Abläufen, der Klarheit. Zur tiefen Sehnsucht, nicht dort, sondern bei ihr sein zu wollen.

Das war 2016. Dieses Mal, wo Tschech nur gut hundert Kilometer nördlich von Kiew stationiert ist, regelmässig zu seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn Andriy fahren und auch während der Militär­einsätze mehrmals täglich Handy­nachrichten schreiben kann, sind zumindest die äusserlichen Rahmen­bedingungen günstiger.

Aber Tsilyk und Tschech wissen, dass das eigentlich Trennende für Paare in Kriegszeiten nicht Entfernungen, sondern unterschiedliche Erfahrungen sind. Viele Beziehungen, sagt Iryna Tsilyk, würden das nicht überstehen, weil das zivile und das militärische Leben zwei parallele Universen seien. Auch deshalb fahre sie manchmal in die Gegend von Tschechs Einsatz­gebiet. Um besser zu verstehen. Um einen unüberbrückbaren Graben gar nicht erst entstehen zu lassen. Es mag seltsam klingen, sagt Tsilyk, aber sie brauche diese Reisen.

Der Krieg als Einbruch in eine Liebes­beziehung: In einem ihrer Gedichte, die im Kriegsjahr 2022 eben doch entstanden sind, hat Tsilyk das mit derart grosser Klarheit ins Bild gesetzt, dass die Zeilen, so kunstvoll sie sind, keinerlei Erläuterung nötig haben.

Wir zwei sind kommunizierende Röhren.
Was ich an Liebe habe, hast auch du.
Was du an Ruhe hast, habe auch ich.

Das Problem ist nur,
du bist beim Heer, ich bin in Kyjiw,
und im Krieg sind die physikalischen Gesetze ausser Kraft.

Von jetzt an
bin ich eine löchrige ungeteerte Schaluppe,
eine gesprungene leere Vase,
ein schadhafter Gralskelch, aus dem keiner trinkt.

Ich hab Angst, dich mit meinen Tränen zu überfluten,
und deshalb reisst und bricht alles,
Leise,
unmerklich für die anderen
vertröpfeln die Tage.

Jede Nacht steigt das Wasser bis zum Hals,
ich stemme mich dagegen,
werde zu einem Damm,
halte mit meinen unscheinbaren Brüsten
den unbändigen Schwall der beklemmenden Angst auf,
um sie nicht etwa zu vergiessen,
nicht mit dir zu teilen. (…)

Iryna Tsilyk: «Kommunizierende Röhren»; Übersetzung: Claudia Dathe.

Ukrainisches Original, gelesen von der Autorin:

Übersetzung, gelesen von Miriam Japp:

Als sich unser Gespräch in Zürich dem Ende nähert, kommt Iryna Tsilyk noch auf ein anderes Gefühl zu sprechen: die Wut. Wut darüber, «dass dieser endlose Krieg uns das Leben stiehlt». Es sei etwas sehr Intimes und Persönliches, aber sie wolle noch einmal von weiblichen Erfahrungen in Kriegs­zeiten sprechen, denn für viele ukrainische Frauen fühle es sich so an, als raube der Krieg, der nun schon ins neunte Jahr geht, ihre Jugend. «Viele Frauen haben sich entschieden, zu warten. Sie wollten Kinder auf die Welt bringen, wenn der Krieg vorbei ist. Aber niemand weiss, während wir älter werden, wann dieser Krieg vorbei sein wird.»

Deshalb, fügt Tsilyk an, sei es ein grosser Fehler, zu warten. «Wir können unser Leben nicht auf Stand-by stellen.»

Ob es etwas Bestimmtes gibt, das sie sich als Familie oder als Paar für die Zeit nach dem Krieg vorgenommen hätten, frage ich noch. «Natürlich, es ist wichtig, Pläne und Träume zu haben», antwortet Tsilyk. Artems Wunsch und auch ihrer sei es, einmal selbst die Strecke zu bereisen, die die beiden Helden in Tschechs geplantem Amerika-Roman zurücklegen. «From Maryland to western Missouri», ergänzt Tschech und schiebt schmunzelnd nach: «By horse.»

In einem besseren Leben (oder einem schlechten Roman) könnte es hier enden. Oder mit Chagall. Am Abend nämlich leuchten auf Tsilyks Facebook-Timeline Fotos von den Kirchen­fenstern im Zürcher Frau­münster, und im Auto­translate ihres Posts steht: «Die Kombination aus grün, rot, blau und gelb macht manchmal glücklich.»

Ende November hat die russische Armee allerdings längst damit begonnen, gezielt die Infra­struktur der Ukraine anzugreifen und die Zivil­bevölkerung der Eises­kälte auszusetzen. Auch in der Wohnung von Tsilyk und Tschech gibt es bei der Rückkehr aus Zürich keinen Strom, kein fliessendes Wasser, keine Heizung. Aber, postet Tsilyk, da sei eine Flasche Champagner, ein Gasherd, Raclette­käse, eine wärmende Katze und ein Junge, der die Eltern vermisst hat. Vielleicht ist es diese Kunst des Widerstands, die Weigerung, ins eigene Unglück einzuwilligen, die die Ukrainerinnen über die russische Aggression triumphieren lassen.

Anfang Dezember schreibt Iryna Tsilyk in einer Mail, noch immer sei Kiew regelmässig Ziel von Angriffen, nach wie vor fielen Strom, Wasser, Internet immer mal wieder aus. Aber die Menschen freuten sich an dem, was funktioniere, und versuchten trotz der Umstände so normal wie möglich zu leben.

Explosionen vor dem eigenen Fenster zu hören und den eigenen Sohn vor Angst zittern zu sehen, «dieser Moment hat alles verändert».

Ihr neuer Film, «Rock. Paper. Grenade» – übrigens eine Verfilmung von Tschechs Roman «Wer bin ich?», bei der auch ihr Sohn Andriy mitspielt – sei in einem alten Kiewer Kino gezeigt worden, die Maschine betrieben von einem Generator. Obwohl man bei Alarm offiziell in den Luftschutz­keller müsse, seien die Kinos voll und die alte Dame, die als Platz­anweiserin arbeitet, habe nur gesagt: «Wenn es bloss ein Alarm ist, dürfen Sie selber entscheiden, ob Sie einfach weiterschauen oder in den Luftschutz­keller gehen und Ihr Ticket bei der nächsten Vorstellung einlösen. Aber wenn es ein Bombardement gibt, wird der Film natürlich unterbrochen.»

Es sei von aussen wohl schwer vorstellbar, schreibt Tsilyk, aber «so sieht unser Alltag aus». Der Mensch sei in der Lage, sich an die unterschiedlichsten Heraus­forderungen anzupassen – und sogar, trotz allem, das Leben zu geniessen. «Denn es gibt nur das Hier und Jetzt.» Und dann, in derselben Mail, schreibt sie, gerade habe eine DNA-Analyse bestätigt, dass die Leiche des ukrainischen Kinderbuch­autors Wolodymyr Wakulenko in einem der Massen­gräber von Isjum gefunden worden sei, mit zwei Einschuss­löchern in seinem Körper. Augen­zeugen hätten berichtet, er sei vor seinem Tod vom russischen Militär gefangen gehalten worden.

Kurz vor Weihnachten postet Tsilyk ein Bild von ihrem 12-jährigen Sohn und einem Christbaum. Andriy, schreibt sie später in einer Mail, sei auf eigene Faust auf den Markt gegangen, habe den Baum nach Hause gebracht und darauf bestanden, dass sie ihn zusammen schmücken.

Über die Feier­tage und den Jahres­wechsel kommt es in weiten Teilen des Landes zu massivem Beschuss durch Raketen und Drohnen, auch in Kiew. An Neujahr postet Iryna Tsilyk, ein enger Freund von ihr und Artem, der Cutter Viktor Onysko, sei an der Front gefallen. Am selben Tag erscheint Tschechs Artikel in der «Sunday Times», darin der Satz: «Mein Facebook-Newsfeed liest sich wie eine endlose Folge von Nachrufen.»

Zwei Tage später schreibt mir Iryna Tsilyk in einer Mail, sie sei über den Jahres­wechsel nicht in Kiew gewesen, sondern habe versucht, so etwas wie Ferien für ihren Sohn zu ermöglichen. Tatsächlich seien es furchtbare Tage gewesen. Nun führen sie zurück, quasi direkt zur Beerdigung von Viktor Onysko.

Manchmal, so hatte es in einer ihrer früheren E-Mails geheissen, bekomme sie das Puzzle aus Eindrücken in ihrem Kopf nicht zusammen. «Aber solange wir am Leben sind, glaube ich, ist es unsere Aufgabe, voll und ganz zu leben und alle schönen und schrecklichen Geschichten an andere weiterzugeben.»

Zum Weiterlesen und -hören

Von Iryna Tsilyk gibt es bislang kein Buch auf Deutsch. Einige ihrer älteren Gedichte sind beim Text-und-Ton-Archiv Lyrikline in verschiedenen Sprachen zu lesen und zu hören. Die beiden Gedichte, die wir im Beitrag als Rezitation auf Deutsch und im ukrainischen Original veröffentlichen, erscheinen mit freundlicher Genehmigung von Iryna Tsilyk und ihrer Übersetzerin Claudia Dathe. «Kommunizierende Röhren» ist eines der neueren Gedichte, die aus Anlass des Zebra Poetry Film Festivals Berlin ins Deutsche übersetzt wurden. Das Literatur­haus Zürich hat im Rahmen seines Lese­zirkels zu Texten von Artem Tschech und Iryna Tsilyk weitere ihrer Gedichte in deutscher Übersetzung zugänglich gemacht.

«Nullpunkt» ist das bisher einzige Buch von Artem Tschech, das auf Deutsch erschienen ist:

Artem Tschech: «Nullpunkt». Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck. Mit Fotografien von Brendan Hoffman. Arco, Wuppertal 2022. 200 Seiten, ca. 30 Franken.

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