Auf der Spur des «Spinnenmörders»: Zar Amir Ebrahimi in der Rolle der Journalistin Arezoo Rahimi. Xenix Filmdistribution GmbH

Im Namen Gottes Frauen töten

Ali Abbasis neuer Film «Holy Spider» behandelt die wahre Geschichte eines iranischen Prostituierten­mörders – und macht die Schauspielerin Zar Amir Ebrahimi, einen ins Exil getriebenen Fernsehstar, zu einer der Ikonen der Protest­bewegung im Iran.

Von Solmaz Khorsand, 13.01.2023

Vorgelesen von Jonas Gygax
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Nackte Brüste zu Beginn eines Filmes sind keine grosse Sache. Nackte Brüste, die zu einem mit blauen Flecken übersäten Körper gehören, genauso wenig.

Aber nackte Brüste an einem mit blauen Flecken übersäten Körper einer Prostituierten in einem iranischen Film, das ist gross. Richtig gross.

Damit ist klar: Dieser Film wurde nicht im Iran gedreht. Hätte niemals dort gedreht werden können. Dabei versuchte es Regisseur Ali Abbasi über ein Jahr lang. Er wollte «Holy Spider», einen Thriller über einen Serien­mörder, in seiner Heimat drehen. Am Ende musste er auf Jordanien ausweichen. Es klingt fast naiv, wenn er die Anekdote auf Presse­konferenzen erzählt. Denn was in «Holy Spider» gezeigt wird, überschreitet alle nur erdenklichen roten Linien, die Irans Regime je gezogen hat.

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Holy Spider | Official Trailer | Utopia

Es ist die Geschichte eines gläubigen Mannes, Saeed (Mehdi Bajestani), eines respektierten Kriegs­veteranen, der nachts mit seinem Motorrad um die Häuser zieht, um als Freier Sexarbeiterinnen zu sich nach Hause zu locken und sie dort mit ihren Kopf­tüchern zu erwürgen.

Nicht die beste Werbung für eine Theokratie. Umso weniger, als sie ausgerechnet in der heiligsten Stadt des Landes spielt, in Mashhad im Nordosten des Iran. Hier befindet sich das Mausoleum des achten Imam, es ist ein Pilgerort für Millionen Schiiten aus aller Welt und ebenso Hotspot des Sextourismus, der der Stadt auf Twitter den Hashtag «Mashhad Is The Shi’i Thailand» eingebracht hat.

Saeeds Geschichte ist keine Fiktion: Den Prostituierten­mörder hat es tatsächlich gegeben. Was es hingegen nicht gegeben hat, ist die Journalistin, die sich selbst als Prostituierte ausgibt. Gespielt wird sie von Zar Amir Ebrahimi, die für ihre Darstellung bei den Film­festspielen in Cannes als beste Schau­spielerin ausgezeichnet wurde. Im Film ist sie es, die Saeed überführt und dafür sorgt, dass ihm der Prozess gemacht wird. Auch in der Realität wurde der Mörder angeklagt, zum Tode verurteilt und schliesslich hingerichtet.

Ja, es ist definitiv nicht die Art von Stoff, aus dem die Propaganda­träume der Islamischen Republik gewoben sind.

«Jetzt ist Schweigen Verrat. Ich kann nicht mehr leise sein»: Regisseur Ali Abbasi. Gareth Cattermole/Contour by Getty Images

Wenig verwunderlich daher, dass Irans Kultur­ministerium unmittelbar nach Ebrahimis Sieg in Cannes in einem Statement wissen liess, dass der Film «den Glauben von Millionen von Muslimen und die riesige Bevölkerung von Schiiten in der Welt beleidigt». Ausserdem drohte man darin Regisseur Abbasi, der «dem Weg zu folgen versucht, den Salman Rushdie eingeschlagen hat». Rushdie wurde 1989 für sein Werk «Die satanischen Verse» wegen der vermeintlich unflätigen Darstellung des Propheten Mohammed von Revolutions­führer Ayatollah Khomeini mit einer Todes-Fatwa belegt, womit er Fanatikern zum Abschuss freigegeben wurde. 33 Jahre später, im August vergangenen Jahres, kam es zu einer Messer­attacke auf den Schrift­steller, bei der er ein Auge verlor.

Abbasi hat die Rushdie-Botschaft klar und deutlich verstanden, wie er per Zoom-Call erzählt. Er wirkt gefasst, wenn er das sagt. Es ist 9 Uhr morgens in Los Angeles. Der 41-Jährige ist dort auf Promo­tour für die Oscars, die im März vergeben werden. «Holy Spider» ist im Rennen als bester fremd­sprachiger Film, derzeit noch auf der Shortlist. Am 24. Januar wird bekannt gegeben, ob er es in die endgültige Auswahl geschafft hat.

Hat Abbasi Angst? Dass ihm das gleiche Schicksal droht wie Rushdie? «Man weiss es nicht», sagt Ali Abbasi. «Ich bin ja kein Trottel, ich wusste, dass sie empfindlich auf die Sache reagieren werden – aber nicht in dem Ausmass.» Das Thema an sich hätte für keine Kontroversen sorgen dürfen, selbst in der Islamischen Republik nicht, findet Abbasi. Schliesslich habe er sich nur von der Realität inspirieren lassen.

«Sie waren für mich genauso wertlos wie Kakerlaken»

In den Jahren 2000 und 2001 tötete Saeed Hanaei 16 Frauen in Mashhad. Der «Spinnen­mörder» wurde er von den Zeitungen genannt, weil die Opfer ihm wie einer Spinne ins Netz zu gehen schienen. In der Doku «And Along Came a Spider» (2003) hat der Journalist und Filme­macher Maziar Bahari den Fall aufgearbeitet – vor Ort im Iran. Es ist ein Zeit­dokument der besonderen Art. Denn es kommen nicht nur die Angehörigen der Opfer zu Wort, sondern auch der Täter selbst.

Zu sehen ist ein sympathischer 39-jähriger Bauarbeiter, der in einem Exklusiv­interview vor der Kamera der Journalistin Roya Karimi Majd Rede und Antwort steht. Er erzählt entspannt, fast jovial, wie er die Frauen auf der Strasse gefunden hat, diese «Junkies», dauernd auf der Suche nach dem nächsten Stoff; auf welche Weise er sie erwürgt hat und vor allem, was seine Intention dabei war. Er wollte die heilige Stadt Mashhad säubern von der Sitten­losigkeit. «Sie waren für mich genauso wertlos wie Kakerlaken», wurde er in den Medien in Beiträgen zu seiner Hinrichtung zitiert. «Am Ende konnte ich nachts nicht schlafen, wenn ich am Tag nicht eine von ihnen getötet hatte, als ob ich süchtig danach geworden wäre, sie zu töten.» Mindestens 80 Frauen hätte er noch auf seiner Liste gehabt, wäre er nicht gefasst worden.

Am Gericht: Rahimi (3. von links) neben ihrem Begleiter, dem Journalisten Sharifi (Arash Ashtiani), der ihr den Kontakt zum Serienkiller hergestellt hat. Xenix Filmdistribution GmbH
Der Mörder als Pilger: Saeed im Schrein des achten Imam. Xenix Filmdistribution GmbH

Von Reue also keine Spur. Er war stolz auf seine Taten. Und nicht nur er, auch seine Familie empfand das so: die alte Mutter, die in der Doku damit prahlt, dass sie es ihm gleichgetan hätte, hätte sie die Möglichkeit gehabt. Die Ehefrau, die meint, dass nur der Tod die richtige Strafe für solche Frauen sei. Und schliesslich der damals 14-jährige Sohn Ali, dessen Aussagen vermutlich am schwersten zu verdauen sind. Anfangs hat er an seiner kindlichen Moral von richtig und falsch festgehalten und sich geschämt für die Taten seines Vaters, so sehr, dass er gar nicht mehr das Haus verlassen wollte. Doch dann stellte er fest, dass ihn die Nachbarn und Bekannten für die Morde feierten. Stolz erzählt der Jugendliche, dass 10 oder 20 Leute schon gefragt hätten, ob er in die Fuss­stapfen seines Vaters treten wolle, dieses Helden der Nation.

Wie tickt eine Gesellschaft, die einen Frauen­mörder beklatscht?

Und genau hier liegt die eigentliche Geschichte des «Spinnen­mörders». In seiner Intention, die zu viele Menschen im Iran gutgeheissen haben. Das ist Regisseur Abbasi auch nach 20 Jahren im Gedächtnis geblieben. Wie tickt eine Gesellschaft, die einen Frauen­mörder beklatscht? Ihm insgeheim sogar dafür dankt, dass er diese Frauen, die ihre Stadt zu einem Sünden­pfuhl gemacht haben sollen, still und leise «entsorgt» hat?

Zu erwarten wäre mit «Holy Spider» eine gnadenlose Abrechnung mit dem Regime und seinen Anhängern, deren religiöser Fanatismus sie zu Barbaren werden liess. Aber das macht Abbasi nicht. Viel eher ist ihm eine sehr ehrliche und humane Gesellschafts­studie gelungen, im Dunklen wie im Hellen. Dabei erzählt er direkt, frei von der gestelzten Sprache und den verklausulierten Metaphern, die iranische Filme so oft zu einem Decodierungs­experiment und weniger zu einem Film­erlebnis machen.

Das Publikum bekommt hier einen Iran zu sehen, den er in diesen Nuancen selten zu Gesicht bekommt – und der vermutlich auch nicht seinen Erwartungen entspricht. Fromme Sex­arbeiterinnen, die vor dem nächsten Job noch zum heiligen Schrein gehen und beten. Mullahs, die angeekelt sind von dem Mörder und Mitgefühl zeigen mit den Opfern, die in ihren Augen nur aus Armut und Verzweiflung ihren Körper auf der Strasse verkaufen. Und ein Serien­mörder, der trotz seines religiösen Blut­rausches auch rührende Seiten zeigt, voller Liebe, Treue und Loyalität gegenüber Familie und Freunden.

Letzteres ist auch der Tour de Force des Haupt­darstellers Mehdi Bajestani zu verdanken. Er schafft es, beim Publikum in einigen Momenten tatsächlich so etwas wie Sympathie für einen Mann zu erwecken, der – trotz aller Bestialität – für so viele in der iranischen Gesellschaft steht. Er repräsentiert die Generation der Veteranen aus dem Iran-Irak-Krieg (1980–1988). Damals gingen Tausende junge Männer an die Front und wurden getötet; und diejenigen, die überlebten, kamen versehrt und traumatisiert zurück in ein Land, das sie nicht wieder­erkannten. Es war ein Land, das nicht mehr richtig der Vision entsprach, die Revolutions­führer Khomeini bei der Revolution 1979 ursprünglich vorschwebte.

Saeed Hanaei, den echten «Spinnen­mörder», störte das, wie aus seinen Gefängnis­tagebüchern hervorgeht. Er, der als Freiwilliger an der Front die Ideale der Revolution verteidigt hatte, musste feststellen, dass sie nach Kriegsende zunehmend verwässert wurden. Plötzlich sah man die Haare der Frauen unter den Kopf­tüchern hervor­blitzen, anfangs nur vorne, später auch hinten, «als würden die Frauen absichtlich so den Propheten und all die Märtyrer verspotten wollen», schreibt er. «Ich bemerkte, dass die Situation ernst war, daher entschloss ich, etwas zu tun.»

Bei der Festnahme soll Hanaei gesagt haben, dass für ihn das Töten der 16 Frauen eine Fortsetzung des Kriegs­einsatzes von damals gewesen sei, als er gegen jene gekämpft habe, die Verderben über die Welt brachten.

Das Töten von Iranerinnen als religiöse Mission, provoziert durch ein paar sichtbare Haare – das kommt doch bekannt vor: Am 13. September 2022 wurde die Kurdin Mahsa Jina Amini in Teheran wegen ein paar Haar­strähnen, die ihr Kopftuch nicht bedeckt haben soll, von der Sitten­polizei festgenommen. Drei Tage später wurde der Tod der 22-Jährigen gemeldet. Seither steht das Land auf der Strasse und verlangt unter der Parole «Jin, Jiyan, Azadî» (Frau, Leben, Freiheit) das Ende der Islamischen Republik. Ausgelöst durch ein paar sichtbare Haare.

Es scheint ein Muster zu geben unter Irans Fanatikern, die nicht mehr an sich halten können, sobald sie Frauen­haare sehen. Daher ist «Holy Spider» mehr als nur ein Film noir, wie es Ali Abbasi intendiert hatte: Es ist der Film zur aktuellen Lage seines Landes. «Die Lust an der Gewalt ist die DNA der Islamischen Republik», sagt der Regisseur. «Deshalb haben die Behörden so sensibel reagiert: Sie haben sich im Spiegel gesehen.»

Von der Ausgestossenen zur Cannes-Preisträgerin

Die Frauenfeindlichkeit trieft aus jeder Szene des Films. Egal ob bei der Ermordung der Frauen, während der Verhandlung vor Gericht, wenn der Angeklagte vor lachendem Publikum seine Opfer verspottet, oder wenn seine Ehefrau voller Ekel ihre toten Geschlechts­genossinnen verurteilt. In diesem Moment wünscht man sich selbst als atheistische Zuseherin, dass Madeleine Albrights Ausspruch tatsächlich zutreffen möge: Es möge «einen besonderen Ort in der Hölle für Frauen geben, die anderen Frauen nicht helfen», hat die einstige US-Aussen­ministerin gesagt.

Natürlich bleibt in so einem misogynen System auch der Alltag einer Journalistin nicht verschont von Übergriffen. Etwa wenn sie das reservierte Hotel­zimmer beziehen will und sich der Rezeptionist anfangs weigert, es ihr als unverheirateter Frau zu überlassen, weil er – ohne es auszusprechen – vermutet, dass sie eine Prostituierte sei. Oder wenn sich ein Kriminal­beamter erlaubt, sie zu bedrängen, nachdem sie mit ihm zuvor im Büro eine Zigarette geraucht hat, weil sie «so eine» sei, die mit jedem eine Zigarette rauchen würde. Zittrig, fahrig und wütend spielt Zar Amir Ebrahimi diese Journalistin.

Vorbildfunktion: Sohn Ali besucht den Vater im Gefängnis. Xenix Filmdistribution GmbH

Und hier liegt die Geschichte in der Geschichte von «Holy Spider»: in der Protagonistin selbst. Eigentlich war Ebrahimi gar nicht vorgesehen gewesen für den Part. Die 41-Jährige war ursprünglich zuständig für das Casting. Doch als knapp eine Woche vor Dreh­beginn die Haupt­darstellerin absprang, weil ihr das Projekt doch zu heikel war, sprach Ebrahimi für die Rolle der ruppigen Investigativ­reporterin Arezoo Rahimi vor, entgegen den anfänglichen Vorbehalten des Regisseurs.

«Ali hat gesagt, dass ich zu soft bin für die Rolle, nicht entschlossen genug, und dass ich eine gewisse Schönheit hätte, die den Zuschauer ablenken könnte. Er wollte jemand, der fester, kräftiger und männlicher ist», sagt Ebrahimi im Zoom-Call. Auch sie befindet sich derzeit in Los Angeles, um «Holy Spider» in den USA zu bewerben. Und zwar nicht nur in der Kategorie für den Auslands-Oscar, sondern auch in jener für die beste Haupt­darstellerin. Sie ist im Gespräch dafür, nominiert zu werden. Zuerst Cannes, jetzt vielleicht die Oscars? Ein Karriere­hoch, das bis vor einigen Jahren niemand hätte erahnen können.

Ebrahimi war ein Star des iranischen Fernsehens, einem breiten Publikum 2006 bekannt geworden durch die Soap «Nargess», die von zwei sehr unter­schiedlichen Schwestern handelt. Einen Sommer lang lief die Serie jeden Abend im Haupt­programm. Ein echter Hit. Einige Monate nach der Ausstrahlung der letzten Episode wurde jedoch ein Video von Ebrahimi und ihrem damaligen Partner geleakt, das die beiden beim Sex zeigt. Ein Schau­spieler und gemeinsamer Bekannter des Paares hatte sich Zugang zu dem Computer verschafft und das private Video verbreitet. Auf dem Schwarz­markt wurde es millionen­fach verkauft.

Von einem Tag auf den anderen sollte sich für Ebrahimi alles verändern. Im Iran ist die Verbreitung eines derartigen Tapes lebens­bedrohlich. Die Schau­spielerin war mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie an der Produktion und der Verbreitung des Videos beteiligt gewesen sei. Bei einem Interview im Jahr 2019, dem ersten, das sie zu dem Vorfall gab, erinnert sie sich, dass sie um ihr Leben fürchtete, im Ungewissen darüber gewesen sei, ob sie dafür gesteinigt oder hingerichtet werde.

Ebrahimi verliess ihre Heimat, bevor ihr der Prozess gemacht werden konnte. In Abwesenheit wurde sie zu 99 Peitschen­hieben, Gefängnis und Berufs­verbot verurteilt. Mittler­weile lebt sie in Frankreich, hat seit 2017 auch die französische Staats­bürgerschaft. Es war ein harter Anfang damals, als sie ankam, ein Anfang «unter null», wie sie im Interview sagt, ohne Sprach­kenntnisse und ohne Kontakte in der französischen Film­industrie. Sie hielt sich mit kleinen Jobs über Wasser, bis sie ihre eigene Produktions­firma gründete und vor und hinter der Kamera langsam wieder Fuss zu fassen begann.

Den Sieg in Cannes interpretierten daher viele als die Wieder­auferstehung der gefallenen Zar Amir Ebrahimi. Eine in ihrer Heimat gebrand­markte Schau­spielerin, die sich im Exil Stück für Stück hoch­gearbeitet hat und am Ende Europas prestige­reichsten Filmpreis gewinnt – noch mehr Phönix aus der Asche geht doch gar nicht?

Ebrahimi schaut amüsiert in die Kamera, wenn sie sich diese Version ihrer Lebens­geschichte anhört: «All diese Zuschreibungen sind zwar schön, aber ich habe mich nie als Opfer einer Geschichte gesehen», sagt sie. «Ich habe mich nicht bemitleidet und bin nicht in eine Depression verfallen, sondern habe all das, was mir passiert ist, in meine Arbeit gesteckt.»

Politik als Schicksal iranischer Film­schaffender

«Das Kino hat mich gerettet», hat Ebrahimi damals im Mai bei ihrer Rede in Cannes gesagt. Und das Kino ist es, worüber sie am liebsten sprechen möchte. Etwa wie sehr sie sich in «Holy Spider» den Kopf zerbrechen musste, um die Rolle als Journalistin richtig anzulegen. Wie es gelingen sollte, objektiv und distanziert die Ehefrau des Mörders zu befragen, jenes Mannes, der sie am Vortag fast umgebracht hätte. Oder die Szene, in der sie als Lockvogel im Wohn­zimmer des Mörders eine Prostituierte mimt, um ihn zu überführen. Sie improvisierte, als er ihr die Frage stellte, wie sie heisst: Zahra, rutschte es ihr raus, Ebrahimis echter Vorname. In dem Moment wurde ihr bewusst, dass sie nichts unterscheidet von den Frauen, die dieser Mann getötet hatte. «Er hat sie verurteilt, ohne darüber nachzudenken, warum sie in dieser Situation sind und diese Entscheidung für ihr Leben getroffen haben. Er hat sie ausgelöscht», sagt sie, «und genau das ist auch mir passiert in der iranischen Gesellschaft. Das war ein seltsames Gefühl.»

Über mehr künstlerische Details wird sie dieser Tage kaum befragt. Keiner will wissen, was es mit dem Film auf sich hat, der Kamera­führung, wie die Zusammen­arbeit im Team funktioniert hat oder wie die Entwicklung der Szenen vor sich ging. Alle wollen nur über Politik sprechen. Es sei das Schicksal iranischer Film­schaffender, dass sie immerzu gesellschaftliche und politische Ereignisse ihres Heimat­landes kommentieren müssten, meint Ebrahimi.

Sie ist nicht nur Künstlerin, sie ist auch eine Stimme der Iranerinnen im Ausland: Schauspielerin Zar Amir Ebrahimi. Gareth Cattermole/Contour by Getty Images

Für sie ist das ein zweischneidiges Schwert. Sie will die Bühne nutzen, um über den Iran zu sprechen, über die wehrhaften Frauen und über die Protest­bewegung, die sie Revolution nennt, um ihren Lands­leuten Mut zu machen. Nicht umsonst hat sie die BBC unter die 100 einfluss­reichsten Frauen 2022 gewählt. Zuletzt war Ebrahimi auch Teil jener Gruppe iranischer Prominenter in der Diaspora, die zu Neujahr in einem Tweet eine nie da gewesene Einheit der Exil­community demonstrieren wollten: «Mit Organisation und Solidarität wird 2023 das Jahr des Sieges für die iranische Nation sein», hiess es darin. Gepostet von Persönlichkeiten wie der Aktivistin Masih Alinejad, dem Fussballer Ali Karimi, Reza Pahlavi, dem Sohn des letzten iranischen Schahs, und den Schau­spielerinnen Golshifteh Farahani und Nazanin Boniadi.

Es sei eine seltsame Zeit, gesteht Ebrahimi. Einerseits will sie als Künstlerin ihre Filme vorstellen, andererseits eine Stimme der Iraner im Ausland sein – ohne dass der Eindruck entsteht, sie nutze den iranischen Widerstand zur Selbst­profilierung: «Es ist eine sehr feine Linie», sagt sie. Eigentlich müsste sie jetzt in Frankreich für ihren neuen Film «Les survivants», der seit Anfang Januar in den französischen Kinos läuft, die Werbe­trommel rühren. Darin spielt sie eine nach Europa geflohene Afghanin, die von einer faschistischen Bürgerwehr quer durch Frankreichs Berge gejagt wird. Der Film sollte die Möglichkeit schaffen, über die Situation der Frauen in Afghanistan zu sprechen. Aber dazu kommt sie gar nicht: Jede Frage führt immer wieder zum Iran, wo Anfang der Woche wieder zwei junge Männer im Zusammen­hang mit den aktuellen Protesten hingerichtet wurden.

«Jetzt ist Schweigen Verrat»

Man würde meinen, dass gerade die Aktualität die Chancen für den Film bei den Oscars erhöht. Eine schöne symbolische Geste in Solidarität mit den Menschen im Iran, ungeachtet der künstlerischen Qualität des Werkes. Es wäre nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, dass Preis­verleihungen für diese Art von politischen Statements genutzt werden. Regisseur Ali Abbasi winkt ab. Die Aktualität schade dem Film sogar, weil viele es schon müde seien, die Nachrichten aus dem Iran zu verfolgen. Ausserdem schrecke es die Fans des Film-noir-Genres ab, wenn sie läsen, dass «Holy Spider» zeitgemäss und feministisch sei und «wieder so ein woker Scheiss».

Abbasi, der seit Jahren in Dänemark lebt (der Film «Holy Spider» ist offiziell von Dänemark für den Oscar eingereicht), hat sich nie als Regisseur empfunden, der politische Filme macht, der ein System hinterfragt und herausfordert. Anders als seine iranischen Kollegen Jafar Panahi und Mohammad Rasulof, die beide derzeit im Evin-Gefängnis inhaftiert sind. Abbasi hat es nie darauf angelegt, es sich durch seine Arbeit mit den Macht­habern zu verscherzen: «Warum sollte ich etwas sagen, was mir den Weg in den Iran versperrt? Mir ist dieser Zugang wichtig, und ich bin auch jetzt sehr traurig, dass ich nicht in den Iran einreisen darf.»

Aber die Zeiten ändern sich. Und sie haben ihn verändert. Nach dem gewaltsamen Tod von Mahsa Jina Amini und Hunderten anderen ist Schweigen keine Option mehr. «Jetzt ist Schweigen Verrat, und seither stellt sich die Frage, ob ich politisch bin oder nicht, nicht mehr», sagt Ali Abbasi. «Ich kann nicht mehr leise sein.»

«Holy Spider» läuft ab 12. Januar 2023 in der Deutsch­schweiz in den Kinos.

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