Chaos vor dem Präsidentenpalast. Ist Brasiliens Demokratie in Gefahr? Caio Guatelli/Redux/laif

«Brasilianer werden seit Jahren auf einen Bürgerkrieg vorbereitet»

Tausende Anhänger von Jair Bolsonaro stürmen das Regierungs­viertel – und verwüsten das Zentrum von Brasiliens Demokratie. Der Politologe Oliver Della Costa Stuenkel sagt: Das war nur eine Etappe.

Ein Interview von Philipp Lichterbeck, 12.01.2023

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Vorgelesen von Egon Fässler
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Sonntag­nachmittag in São Paulo. Oliver Della Costa Stuenkel ist mit seiner Frau und seinem Sohn im Park. Das Telefon klingelt. Am anderen Ende ist ein Kollege von der Universität. «Mach sofort den Fernseher an!»

Herr Stuenkel, waren Sie vom Sturm auf den Kongress, den obersten Gerichtshof und den Präsidenten­palast überrascht?
Nein, ich war verwundert, dass so etwas nicht schon früher passiert ist. Ich hatte mit derartigen Ereignissen im Dezember gerechnet, also bevor Lula da Silva am 1. Januar als neuer Präsident Brasiliens vereidigt werden sollte. Aber es war klar, dass etwas geschehen würde. Man musste nur den bolsonaristischen Gruppen auf Whatsapp und Telegram folgen, um das zu sehen. Dort wurde offen über die «Festa da Selma» gesprochen, Selmas Party. Es war der Codename für die geplante Erstürmung des Regierungs­viertels. Das war kein Geheimnis. In diesen Gruppen erhielten die Menschen auch praktische Handlungs­anweisungen für den Angriff auf das Regierungs­viertel, etwa: die Attacke erst beginnen, wenn genügend Gleich­gesinnte zusammen­gekommen sind. Auch Jair Bolsonaro muss davon gewusst haben. Er hat sich eventuell gesagt, dass er dann besser nicht in Brasilien ist, und hat sich in die USA abgesetzt, wo er vor der brasilianischen Justiz sicher ist. Vielleicht hat er gehofft, bei einem erfolgreichen Umsturz triumphierend wiederkehren zu können.

Zur Person

Oliver Della Costa Stuenkel, 40, lehrt als Professor an der Getulio-Vargas-Stiftung in São Paulo. Der Deutsch-Brasilianer ist ein national und international gefragter Analyst und Kommentator. Er schreibt für «El País», die «New York Times» und andere Medien und ist Autor mehrerer Bücher über den Aufstieg der Brics-Staaten.

Nur die Verantwortlichen für die Sicherheit in Brasília taten so, als ob sie keine Ahnung gehabt hätten.
Das ist das eigentlich Schockierende: Der Sicherheits­apparat in der Hauptstadt liess die bolsonaristischen Invasorinnen gewähren. Ich war besorgt, dass es wie in den USA bei der Erstürmung des Capitol durch Trump-Anhänger zu Gewalt und vielleicht sogar Toten kommen könnte. Aber den Angreiferinnen in Brasília stellte sich niemand entgegen. Stattdessen machten die Polizisten Selfies mit den Invasorinnen und zeigten ihnen die Wege durch die Gebäude. Ich schliesse daraus, dass der Grad der Komplizenschaft der Armee und der Militär­polizei mit den Bolsonaristen noch viel grösser ist als befürchtet. Spätestens als man sah, dass Tausende Radikale zum Platz der drei Gewalten liefen, hätten die Alarm­glocken klingeln müssen. Aber es geschah nichts. Auch der Inland­geheimdienst Abin ist offenbar in der Hand der Bolsonaristinnen. Das sollte Präsident Lula tief beunruhigen.

Wer sind diese Leute, die die Orte der Demokratie verwüsteten, Scheiben zerschmissen, wertvolle Kunst­werke beschädigten und stahlen, Möbel und teure Elektro­geräte zerstörten, auf den Boden urinierten und defäkierten?
Es war im Grunde ein Abbild der brasilianischen Gesellschaft. Es erschien mir sogar repräsentativer als bei der grossen Sieges­feier Lula da Silvas im Oktober auf der Avenida Paulista im Herzen São Paulos. Dort kam ich mir vor wie in der Universitäts­stadt Berkeley in den USA: ein ultra­progressives, eher jüngeres und akademisches Publikum mit starker Präsenz der LGBT-Gemeinde. Es war eine urbane Elite, Menschen, die Zeitungen lesen und Fernseh­nachrichten schauen. Auch viele Schwarze waren dort, aber eben nicht die ganze Breite der brasilianischen Gesellschaft. Im bolsonaristischen Protest­camp vor einer Kaserne in São Paulo, das ich besuchte, war die Vielfalt dagegen grösser …

… in diesen Camps demonstrieren die Bolsonaristen seit Monaten gegen den Wahlsieg Lulas und für ein Eingreifen des Militärs …
Richtig. Und da kamen Leute auf ihrem Pferd vorbei, da waren Motorrad­taxi­fahrer, alte Leute, Schwarze und Menschen, die nicht so viel Geld haben, nicht so gebildet sind. Ähnlich war es, wie mir schien, beim Sturm aufs Regierungs­viertel, wobei dort auch Ärzte, Lokal­politikerinnen, Militärs in Zivil, «Big Brother»-Teilnehmer und so weiter beteiligt waren.

Was eint diese heterogene Masse?
Die hasserfüllte Ablehnung Lulas und seiner Arbeiter­partei. Diese Menschen glauben entgegen den Fakten, dass der Wahlsieg Lulas nur durch Betrug zustande gekommen sein kann, weil das Volk den Dieb, der er ihrer Meinung nach ist, nie gewählt hätte. Die Bolsonaristinnen sind davon überzeugt, dass sie das Vaterland, die Freiheit und letztendlich die wahre Demokratie verteidigten. Lula plane hingegen, eine «kommunistische» Diktatur in Brasilien zu errichten, obwohl viele Bolsonaristen überhaupt nicht wissen, was der Begriff bedeutet. Sie betrachten sich als Revolutionäre von rechts, die versuchen, den wahren Volks­willen durchzusetzen, der von den staatlichen Institutionen und den Mainstream-Medien unterdrückt würde. Man muss daran erinnern, dass es nicht um eine kleine Minderheit geht. 58,2 Millionen Brasilianerinnen haben Bolsonaro gewählt, obwohl man locker ein Buch mit den Skandalen, Delikten, Verfehlungen und der Inkompetenz seiner Regierung füllen könnte.

Sie verwüsten Orte der Demokratie: Protestierende auf dem Dach des Kongress­gebäudes. Eraldo Peres/Keystone/AP
«Jair Bolsonaro muss davon gewusst haben», sagt Stuenkel. Adriano Machado/Reuters

Wie kann es zu so einem Grad an Realitäts­verweigerung kommen?
Es hat mit der Abschottung in den sozialen Netzwerken zu tun, die wie Echo­kammern funktionieren. Man hört nur noch, was man hineinruft. Das Ergebnis ist eine Silo-Gesellschaft, in der jede Gruppe in ihrem eigenen ideologischen Raum lebt. Wenn man sich nur noch über Whatsapp oder Telegram informiert, wie es viele Bolsonaristen tun, wird man ununterbrochen die unglaublichsten Geschichten hören: Verschwörungs­theorien, Lügen, manipulierte Bilder, Videos. Alle sind dort einer Meinung, bestätigen und verstärken die Tendenz. Das prägt die Identität dieser Menschen, die sich durch Widerspruch, den sie vielleicht in der Familie erfahren, sofort als Personen angegriffen fühlen. Ohne diese Abschottung in den sozialen Netzwerken wäre der Bolsonarismus daher nicht denkbar. Dort werden die Leute seit einigen Jahren regelrecht auf einen Bürger­krieg vorbereitet. Fake News zersetzen das gesellschaftliche Gewebe, bis es irgendwann zerreisst.

Welche Rolle spielt Jair Bolsonaro persönlich?
Er stachelt seine Anhänger seit Jahren an, ruft zu Widerstand und Gewalt gegen Linke auf, sät Zweifel am demokratischen System. Er kann nicht sagen: Ich bin unschuldig. Man kann einem Mob nicht Streich­hölzer und Benzin geben und ihn anstacheln, ein Haus anzuzünden, und hinterher so tun, als wüsste man von nichts.

Gibt es nicht auch wirtschaftliche Faktoren, die zum Aufstieg der extremen Rechten in Brasilien geführt haben?
Eindeutig. Für die Bolsonaristinnen stehen zwar häufig emotional aufgeladene Themen wie beispiels­weise die angebliche «Gender-Ideologie» der Linken im Vordergrund, aber wir müssen konstatieren, dass Brasilien seit zehn Jahren ökonomisch stagniert, was praktisch ein Rückschritt ist, weil der Rest der Welt sich weiter­entwickelt hat. Es gibt heute kaum Perspektiven für viele junge Brasilianer. Das wiegt umso schwerer, weil das Land zwischen 2005 und 2011 ökonomisch enorm wuchs und hohe Erwartungen entstanden. Es gab eine neue Mittel­klasse, die Kinder gingen zur Uni, man kaufte sich ein Auto, ernährte sich besser, verreiste. Damals kam Brasilien wirklich voran.

Wann kam der Bruch?
Seit 2013 geht es nur noch bergab. In dem Jahr gab es die ersten grossen Proteste, bei denen vor allem die Korruption kritisiert wurde, beispiels­weise beim Bau der Stadien für die Fussball­weltmeisterschaft von 2014. Der brasilianische Staat konnte nicht mehr die Ansprüche der neuen Mittel­klasse an ein funktionierendes Gemein­wesen erfüllen. Diese Enttäuschungen und Wider­sprüche hält kein Land lange ohne Krisen aus, insbesondere ein Schwellen- und Entwicklungs­land. Es herrscht heute eine grosse Frustration, die sich auch durch einen enormen Braindrain ausdrückt. In solchen Momenten wenden sich viele Menschen dann wie automatisch autoritären Lösungen zu.

Was wollten die Bolsonaristinnen denn konkret durch den Sturm auf die Institutionen erreichen?
Viele wussten das sicherlich selbst nicht genau. Es waren Leute dabei, die das aufregend fanden; die es der Elite mal so richtig zeigen wollten. Die drangen da ein und kamen in die Zimmer und auf die Plätze, auf denen diese mächtigen Menschen sitzen, und fühlten sich plötzlich selbst mächtig. Sie hielten sich offenbar für legitimiert, dort alles kurz und klein zu hauen, besonders jetzt, da Lula Präsident ist. Für die bolsonaristischen Strategen war das Ziel sicher ein anderes. Sie wollten den Ball ins Rollen bringen. Ausschreitungen in anderen Städten sollten provoziert und vielleicht sogar die Militär­polizei zur Meuterei animiert werden. Es sollte Chaos entstehen, sodass schliesslich die Armee sagt, unser Moment ist gekommen, wir übernehmen die Kontrolle. Es gibt ja die Theorie des «death by a thousand cuts», also des Todes durch tausend Schnitte. Sie beschreibt die Destabilisierung einer Gesellschaft durch Sabotage­akte, Streiks, Blockaden, die Schaffung von Engpässen und Krisen. Sie wurde vor dem Militär­putsch gegen Salvador Allende 1973 in Chile angewandt. Sie dürfte auch den Bolsonaristinnen bekannt sein.

Dazu würde passen, dass in den letzten Tagen mehrere Freileitungs­masten in Brasilien zum Umstürzen gebracht wurden sowie Strassen und Ölraffinerien blockiert werden sollten.
Genau darum geht es: ein Land so runterzuziehen und zu verunsichern, dass die Regierung instabil wird und die Leute sagen, jetzt brauchen wir einen, der für Stabilität sorgt.

Ist Brasiliens Demokratie in Gefahr?
Nicht unmittelbar, aber langfristig. Ich rechne beispiels­weise nicht mit einem Militär­putsch. Das Weisse Haus hat den brasilianischen Militärs ausgerichtet: Wenn ihr das macht, werden wir euch kurz und klein isolieren. Das weiss ich aus sicherer Quelle. Die US-Regierung war da sehr direkt, und das hat Eindruck gemacht. Allerdings ist die Radikalisierung wie ein Virus, das sich schleichend verbreitet. Brasiliens Streit­kräfte stehen weitaus weniger fest hinter der Demokratie als diejenigen in den USA. Der Sturm auf Brasília war kein Endpunkt in dem Sinne, dass die Bolsonaristen jetzt sagen: Oh, Mist, hat nicht geklappt, jetzt packen wir ein, gehen nach Hause und ändern unsere Meinung. Es war vielmehr eine Etappe der Auseinander­setzung.

Verwüstet wurde auch das Gebäude des obersten Gerichtshofs. Dieser geht nun hart gegen Bolsonaristen vor. Amanda Perobelli/Reuters

Der brasilianische Staat hat schliesslich hart zurück­geschlagen: mit Massen­festnahmen, der Absetzung und Verhaftung verantwortlicher Polizisten, der Suspendierung des Gouverneurs von Brasília, der Auswertung von Videos, Fotos und Smartphone­daten sowie der Unter­suchung der Unternehmer, die die Anreise Tausender Bolsonaristinnen aus ganz Brasilien finanzierten. Der Verfassungs­richter Alexandre de Moraes, der hinter vielen dieser Entscheidungen steht, hat gesagt, dass es keinen zivilisierten Dialog mehr mit diesen Leuten geben könne, weil sie nicht zivilisiert seien. Er versprach, unerbittlich die Demokratie zu verteidigen. Das sei die Lehre aus der gescheiterten Appeasement-Politik vor dem Zweiten Weltkrieg. Übertreibt er?
Zunächst ist die Internierung Tausender Bolsonaristen natürlich ein gefundenes Fressen für die rechts­extremen Propagandistinnen, die schon von «Lulas Konzentrations­lagern» und dem Beginn der Diktatur schwafeln. Sie behaupten, dass die Zerstörung in den Regierungs­gebäuden von infiltrierten Linken verübt worden sei. Das wurde sogar bei Tucker Carlson auf Fox News gesagt. Mir scheint, Alexandre de Moraes geht mitunter etwas zu weit. Er hat auch nicht alle anderen Verfassungs­richter hinter sich, das ist das Problem mit diesen monokratischen Entscheidungen, die Brasiliens Recht zulässt. Allerdings ist es in einer solch ernsten Situation auch fast unmöglich, nicht über die Stränge zu schlagen. De Moraes hat beispiels­weise den Twitter-Account eines Kollegen von mir an der Universität suspendieren lassen, weil der etwas ziemlich Dummes nach den Wahlen im Oktober geschrieben hatte, was als Vorwurf der Wahl­fälschung verstanden werden konnte. De Moraes wollte wohl verhindern, dass die Bolsonaristinnen verbreiten: Uni-Professor sagt, Wahl wurde manipuliert. Es ist ja wirklich so, dass Fake News das gesellschaftliche Gewebe in einer Art und Weise zersetzen, dass es irgendwann zerreisst. Aber ob de Moraes das mit solchen Eingriffen verhindern kann, sei bezweifelt.

Wie wird Lula da Silva nun regieren?
Was am Sonntag passiert ist, wird ihn bis zum Ende seiner Amtszeit begleiten. Es war nur das Symptom einer Krankheit, nicht ihre Ursache. Es hat für einen Moment den Vorhang freigegeben auf das, was dahinter in Brasilien brodelt. Lula hat zwar Mut, Entscheidungs­kraft und Handlungs­bereitschaft bewiesen, indem er sofort der Bundes­regierung die Kontrolle über den Sicherheits­apparat der Hauptstadt überantwortete, aber er wird die Bolsonaristen niemals von sich überzeugen können. Er bleibt ein rotes Tuch. Er wollte in dieser Woche loslegen mit seinen politischen Vorhaben, der Armuts­bekämpfung, einer Steuer­reform, der Inflations­reduzierung, und so die Brasilianerinnen wieder von der klassischen Politik und ihrem Potenzial überzeugen.

Und stattdessen …
… muss er sich jetzt mit den Folgen der bolsonaristischen Verwüstung beschäftigen. Es gibt in Brasilien erst mal kein back to business as usual. Das ist auch eine schlechte Nachricht für Brasiliens Partner in Europa, die dachten, sie könnten die Beziehungen dort wieder anknüpfen, wo sie mit Bolsonaro abgebrochen waren.

Zum Autor

Philipp Lichterbeck wurde 1972 in Frankfurt geboren. Er schrieb unter anderem für den «Tagesspiegel», «Die Zeit», die NZZ und die WOZ. Er lebt als freier Autor in Rio de Janeiro.

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