Tücher verhüllen einen Teil des Rhonegletschers. Die Folgen des Klimawandels können sie aber nicht verbergen. Roland Schmid/13Photo

Für einen Journalismus, der in der Klima­krise einen Unterschied macht

Seit 50 Jahren berichten die Medien über die Klima­krise. Heute ist es höchste Zeit, dass der Journalismus nicht bloss apokalyptische Szenarien zeichnet oder verharmlost, sondern zu vernünftigen Entscheiden ermächtigt.

Von Elia Blülle, 10.01.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
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Ist Ihnen schon einmal eine Flasche Oliven­öl aus den Fingern gerutscht?

Wenn ja, dann kennen Sie das Gefühl der Verzweiflung, das einen überfällt, wenn man mitten in einer wachsenden Öl­lache steht – womöglich barfuss – und sich fragt: Womit habe ich das bloss verdient?

Die Küche wird plötzlich ganz gross, die Glas­scherben wachsen zu unüberwindbaren, bedrohlichen Fallen, das Öl sickert in die kleinsten Ritzen. Kontroll­verlust. Ein Gemüts­zustand, der normaler­weise ein paar Augen­blicke anhält, vielleicht wenige Minuten, bis er abflacht, die Küche wieder schrumpft und einem jene Worte durch den Kopf gehen, die allen grossen menschlichen Errungenschaften irgend­wann voraus­gegangen sind: Was tun?

Sie bringen sich zuerst vor den scharfen Scherben in Sicherheit, analysieren die Lage, kehren das Glas zusammen, tupfen das Öl auf, säubern Ecken und Ritzen, wischen den Boden – und nach 20 Minuten ist der Schlamassel vorbei. Zufriedenheit ersetzt die Panik. Nicht nur haben Sie das Unglück überwunden, sondern Sie haben auch die Küche geputzt und jene Ecken gereinigt, die Sie beim Sauber­machen jeweils einfach deswegen übergehen, weil sie so verdammt schwierig zu erreichen sind.

Diese kleine persönliche Krise hat dazu geführt, dass Ihr Zuhause nun in einem besseren Zustand ist als davor.

Bei der Klima­krise sind wir von diesem Szenario noch weit entfernt.

Im noch jungen Jahr 2023 wurden bereits wieder Tausende Klima­rekorde übertroffen. Am Neujahrs­tag verzeichneten sieben europäische Länder ihre wärmsten Januar­temperaturen, seit Temperaturen offiziell gemessen werden. In der Schweiz mussten zahlreiche Ski­gebiete ihre Pisten schliessen. Und selbst in hohen Lagen halten nur noch schmale Kunstschnee­streifen den Wintersport­betrieb eingeschränkt am Leben.

Je mehr Treibhaus­gase wir in die Luft blasen, desto häufiger und umso heftiger wird der Schlitten im Gras stecken bleiben. Es wird künftig noch einmal deutlich weniger schneien, die Nullgrad­grenze klettert in die Höhe. Länger­fristig wird das vieler­orts das Ende für den klassischen Winter­tourismus bedeuten. Und das ist noch das geringste Problem: Die Wasser­menge für die Stau­seen wird sinken, damit auch die für den Winter so wichtige Strom­produktion.

Ausserdem erhöht wenig Schnee­fall die Wahrscheinlichkeit von extremen Dürren im darauf­folgenden Sommer noch einmal signifikant. Und was das bedeutet, hat das letzte Jahr gezeigt. Der Rhein führte so wenig Wasser, dass die Versorgungs­sicherheit der Schweiz teilweise gefährdet war. Andere Flüsse und Bäche wurden so warm, dass einige Kantone ganze Gewässer notfall­mässig abfischten, um die Tiere zu retten.

In Indien fielen 2022 wegen der enormen Sommer­hitze Vögel tot vom Himmel, und in Pakistan verwandelten Fluten ganze Dörfer in Seen und Flüsse. Ein Drittel des Landes stand unter Wasser. 33 Millionen Menschen mussten ihr Zuhause verlassen. Über 1700 Personen wurden getötet.

Das ist nicht einfach die neue Normalität, sondern erst die Start­rampe. Gesunde Böden, schier unendliche Mengen an sauberem Süss­wasser, ein stabiles Klima und billige Energie haben uns historischen Reichtum beschert und bewirkt, dass die aller­meisten Menschen fast überall auf diesem Planeten unter besseren Bedingungen leben als noch vor einem halben Jahr­hundert.

Jetzt erleben wir in Echt­zeit, was passiert, wenn diese Pfeiler kollabieren: Energie teurer, Süss­wasser knapp, das Klima und die Böden instabil werden.

Wer den neusten Bericht des Weltklima­rates IPCC oder auch nur seine kürzeste Zusammen­fassung liest, wird bemerken: Die Klima­krise – eng verbunden mit dem von der Menschheit verursachten Massen­aussterben – hat fast alle unsere Lebens­bereiche erfasst. Denn letztlich – und das wird in den politisch aufgeladenen Debatten immer wieder vergessen – folgt die Krise physikalischen Gesetz­mässigkeiten: Die Wissenschaft kann zwar nicht exakt, aber relativ genau voraus­sagen, wie sich das Klima verändern wird – so wie sie auch die Flug­bahn eines Fuss­balls berechnen oder mit Raketen ein Fahr­zeug auf den 70 Millionen Kilometer entfernten Mars transportieren kann.

Die Klima­krise ist Gewissheit, denn der Temperatur­anstieg ist so etwas wie eine Leit­schnur in die Zukunft, an der wir wie mit Hand­schellen angekettet sind. Wir bewegen uns auf eine menschen­feindliche Wirklichkeit zu, die nicht ideologisch oder abergläubisch konstruiert, sondern rechnerisch vorhersehbar ist. Das gab es in der Geschichte noch nie.

Die physikalische Gewissheit des Temperatur­anstiegs kann man leugnen, verdrängen, klein­reden – aber letztlich ändert das alles nichts am Umstand, dass die Klima­krise Realität ist. Akzeptiert man diese Realität mit allen drohenden Konsequenzen und vielfachen Auswirkungen – schmelzende Pole, steigende Meeres­spiegel, tote Korallen­riffe –, drängt sich eine düstere Erkenntnis auf: Dieser ökologische Schlamassel kann nur noch mit gigantischen Anstrengungen eingedämmt werden.

Wie bei der zerschellten Olivenöl­flasche in der Küche stellt sich Kontroll­verlust ein – nicht nur wenige Minuten, sondern als Dauer­zustand.

Und das macht die Klima­krise auch zu einer Krise für den Journalismus.

Einerseits hat es der Journalismus während 50 Jahren nicht geschafft, die Dringlichkeit zu vermitteln. Und anderseits wenden sich jetzt, wo die Folgen der Klima­erwärmung konkreter werden, viele Menschen von der medialen Bericht­erstattung ab. Nicht weil sie faul oder ignorant sind, sondern vor allem aus Selbst­schutz. Wieso soll ich mir jeden Morgen alle schlechten Meldungen dieser Welt einflössen, wenn ich mich danach hilflos fühle? Wenn sich Kontroll­verlust, Hilflosigkeit, Ohnmacht und Verzweiflung einschleichen?

Die Philosophin Hannah Arendt hat sich ihr ganzes Leben damit beschäftigt und gefragt, was Politik ist und wieso Menschen so sind, wie sie sind. Arendt sah in der Handlung die einzigartige Eigenschaft menschlichen Daseins. Handlung ermächtigt uns, als politische Wesen gemeinsam unsere Lebens­bedingungen zu verändern. Arendts These: Diese Art von Selbst­wirksamkeit ist eine Quelle für das Glück, nach dem wir alle streben.

Und so verwundert es auch nicht, dass sich allen, die sich dafür entschieden haben, den Ernst der Lage zu akzeptieren, die Frage aufdrängt: Was ist zu tun? Als Bürgerin, Bürger, als Vater oder Mutter, als Konsumentin, als einer von über 8 Milliarden Menschen, die auf diesem Planeten leben?

Die Frage ist einfach und gleichzeitig nur sehr schwierig zu beantworten.

Einerseits ist klar, dass fossile Brenn­stoffe als Haupt­ursache für die Krise im Boden bleiben, dass wir Alternativen zur bisherigen Energie­erzeugung finden müssen – und dass das nur dann gelingen kann, wenn sich die Akteure mit struktureller, politischer und wirtschaftlicher Macht zusammen­raufen.

Die Rezepte liegen alle in der Schublade, man müsste sie nur öffnen.

Allerdings – und das ist wichtig – reicht das allein noch nicht. So hält das auch der neuste wissenschaftliche Sachstands­bericht des Weltklima­rats IPCC fest, dessen dritter Teil im vergangenen Frühling veröffentlicht wurde. Die Klima­krise hat technische, soziale, kulturelle, ökologische, ökonomische und politische Komponenten, die ineinander­greifen, voneinander abhängig sind und sich verstärken. In all diesen Dimensionen braucht es Veränderungen – und alle können dazu bereits heute etwas beitragen.

Es bleibt die Aufgabe des Journalismus, Kritik an der Macht zu üben, staatliches Handeln zu kontrollieren, die Wirklichkeit mit all ihren Facetten abzubilden – aber der Journalismus muss sich auch fragen, wie Menschen neben den teilweise apokalyptisch anmutenden Zukunfts­aussichten ihre Selbst­wirksamkeit behalten können, um vernünftige Entscheidungen zu treffen. Für Demokratien ist das überlebens­wichtig: Denn wieso sollten Menschen abstimmen, wählen und sich an der Zivil­gesellschaft beteiligen, wenn sie glauben, dass ihre Taten und Stimmen keinen Unter­schied machen?

«Wir befinden uns im Kampf unseres Lebens, und wir verlieren», sagte Uno-Chef António Guterres an der vergangenen Weltklima­konferenz in Ägypten. «Die Treibhausgas­emissionen nehmen zu, die globalen Temperaturen steigen, unser Planet nähert sich Kipp­punkten, die das Klima­chaos unumkehrbar machen werden.»

In den kommenden Jahrzehnten wird man wieder und wieder fragen: Was habt ihr gemacht in den 2020er-Jahren? Worauf habt ihr gewartet?

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