«Trump war ein Booster-Shot für unsere demokratischen Antikörper»

David Frum, einer der profiliertesten konservativen Intellektuellen der USA, über lärmige Demokratien und seinen Optimismus für 2023. Ein Gespräch zum Jahres­wechsel.

Von Daniel Binswanger (Text) und Agata Nowicka (Illustration), 09.01.2023

Vorgelesen von Danny Exnar
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Wie stark das Trump-Erbe die politischen Institutionen in den USA beschädigt, hat sich letzte Woche gezeigt: Die Republikaner bilden zwar die Mehrheit im Repräsentanten­haus, hatten aber nur schon alle Mühe, einen Speaker zu wählen – es brauchte 4 Tage und 15 Wahlgänge, bis Kevin McCarthy die notwendigen Stimmen auf sich vereinen konnte. Das amerikanische Parlament scheint kaum mehr funktions­fähig.

Organisiert wurde die Blockade von einer kleinen Truppe fanatischer Trump-Anhängerinnen, die in den Kongress gewählt wurden. Sie zeigt, wie einfluss­reich und potenziell gefährlich der Ex-Präsident noch immer ist. Gleichzeitig beweist die Wahl­blockade, dass Trump an Einfluss verliert. Er wollte seine Anhänger zurück­pfeifen und rief dazu auf, Kevin McCarthy, den offiziellen republikanischen Kandidaten, im Speaker-Amt zu inthronisieren. Aber Teile der fanatischen rechten Dissidenten, die von der Trump-Bewegung an die Macht getragen wurden, hörten nicht mehr auf ihn oder liessen sich jedenfalls tagelang bitten. Der Zauber­lehrling in Mar-a-Lago scheint selbst den extremen rechten Partei­flügel nicht mehr richtig zu kontrollieren.

Wo steht die amerikanische Demokratie? Wie weit reicht die Macht des Trump-Republikanismus noch? Wir haben diese Fragen einem konservativen Beobachter der amerikanischen Politik gestellt.

David Frum, in den Midterm-Wahlen waren die Demokraten überraschend erfolgreich. Trump gerät in die Defensive. Die Situation bleibt jedoch unentschieden.
Die jüngsten Entwicklungen geben Anlass zu Hoffnung. Sie müssen sehen: Der Abgrund, aus dem wir uns wieder empor­arbeiten, ist tief. Wer über die heutige amerikanische Politik sprechen will, muss anfangen bei der Tatsache, dass der Ex-Präsident der Vereinigten Staaten den Versuch gemacht hat, eine Präsidentschafts­wahl mit einem bewaffneten Umsturz zunichte­zumachen. Das ist so schockierend, dass wir es wohl erst in Jahrzehnten wirklich bewältigt haben werden, so wie das mit grossen historischen Umbrüchen der Fall sein kann. Wir brauchen Distanz, und heute ist alles noch sehr nahe. Die Beweis­lage wird jedoch immer klarer: Der Ex-Präsident hat erst mit Betrug und dann mit Gewalt versucht, ein Wahl­resultat nicht anzuerkennen und die Verfassung ausser Kraft zu setzen. So weit der Abgrund. Aber jetzt können wir wieder optimistischer sein.

Weshalb?
Sie haben die Midterm-Wahlen angesprochen. Natürlich haben die Republikaner eine Mehrheit von 9 Sitzen gewonnen im Repräsentanten­haus, und obschon das im historischen Vergleich eine sehr knappe Mehrheit ist, ist es immer noch eine Mehrheit. Doch ansonsten haben sie auf ganzer Linie verloren. Die Demokraten haben im Senat einen Sitz dazu­gewonnen und verfügen nun über eine Mehrheit von 51 zu 49 Stimmen. Das ist sehr bedeutend: Die Demokraten kontrollieren jetzt auch die Agenda des Senats. Es heisst zum Beispiel, dass Präsident Biden bei den Ernennungen für sein Kabinett nun völlig freie Hand hat oder dass er die Richter­posten genau so besetzen kann, wie er will. Aber das sind noch nicht die grössten demokratischen Siege.

Sondern?
Auf der Ebene der Bundes­staaten ist die Bilanz noch beeindruckender. Die Demokraten haben nicht nur zwei zusätzliche Gouverneurs­ämter dazugewonnen, sondern auch bei den Parlaments­wahlen auf Bundesstaats­ebene ungeheuer gut abgeschnitten. Die Parlamente der 50 US-Bundesstaaten haben allesamt zwei Kammern, mit Ausnahme von Nebraska, das nur eine hat. Das ergibt insgesamt 99 Parlaments­kammern, die jetzt neu bestellt worden sind, und normaler­weise verliert die Partei, welcher der Präsident angehört, in den midterms die Mehrheit in einer Reihe dieser bundes­staatlichen Kammern. Das ist quasi eine Gesetz­mässigkeit. Doch jetzt, zum ersten Mal seit 1934, hat die regierende Partei keine einzige lokale Parlaments­kammer verloren. Sie hat im Gegenteil vier dazugewonnen. Zwei in Michigan, eine in Minnesota und eine in Pennsylvania. Es kommt hinzu, dass auf lokaler Ebene die Kandidatinnen fast alle gescheitert sind, die Trumps Wahlbetrugs­lüge unterstützten und sich für Ämter bewarben, die ihnen für künftige Wahlen Entscheidungs­macht übertragen hätten. Zwar nicht in erzkonservativen Staaten wie Wyoming oder South Dakota, aber überall da, wo der Wahl­ausgang einiger­massen offen war. Wir haben es zu tun mit der seit sehr langer Zeit stärksten Leistung der Partei, die das Weisse Haus innehat. Und auch die Wirtschafts­entwicklung gibt Anlass zu Hoffnung.

Die Inflations­drohung ist immer noch präsent.
Sicher. Es ist zu früh, um Entwarnung zu geben, aber die Preis­entwicklung scheint wieder sehr viel moderater zu sein, die US-Wirtschaft wächst, und es herrscht quasi Voll­beschäftigung. Es könnte schlechter aussehen. Schliesslich und endlich gibt auch die Ukraine Anlass zu Hoffnung.

Sie meinen die ukrainische Widerstands­fähigkeit?
Der Krieg ist eine furchtbare Tragödie. Aber die Reaktion, nicht nur der ukrainischen Bevölkerung, sondern der westlichen Demokratien auf diesen Krieg, ist etwas vom Ermutigendsten, was ich je erlebt habe. Es gibt natürlich auch Unstimmigkeiten, aber insbesondere die europäischen Länder haben eine Kraft und eine Geschlossenheit an den Tag gelegt – etwa in den Feldern der Energie­politik, der Wirtschafts­hilfe, der militärischen Unterstützung –, die alles übertreffen, was wir bisher kannten. Ein paar Tage nachdem der russische Angriff auf Kiew zu Beginn des Krieges gescheitert war, habe ich einen Tweet oben an meine Time­line geheftet, der sich seither bestätigt hat: Alles, was die Trump- und die Putin-Anhänger als dekadent und schwach vorführen wollten, erwies sich als tapfer und stark. Und alles, was sie für stark und einschüchternd hielten, ist nur brutal und dumm. Ich glaube, dies ist ein weiterer Grund, Hoffnung zu schöpfen für die Sache des liberalen Rechts­staats und der Demokratie im Jahr 2023.

Zur Person

Der Historiker David Frum ist einer der einfluss­reichsten konservativen Publizisten in den USA. Ursprünglich stammt er aus Kanada, 2007 liess er sich einbürgern. Er arbeitete für zahlreiche konservative Zeitungen und Thinktanks, unter anderem für das «Wall Street Journal». 2001 wurde er kurzzeitig der Reden­schreiber von George W. Bush. Heute ist er Redaktor bei «The Atlantic». Seine beiden letzten Buch­publikationen aus den Jahren 2020 und 2018 sind «Trumpocalypse. Restoring American Democracy» (Die Trump-Apokalypse. Wie die amerikanische Demokratie wieder­hergestellt werden kann) und «Trumpocracy: The Corruption of the American Republic» (Die Trump-Herrschaft: Die Korrumpierung der amerikanischen Republik).

Kehren wir zurück zur amerikanischen Politik. Die Demokraten sind heute stärker, als man es hätte erwarten können. Aber Trump, obwohl er angeschlagen ist, bleibt weiterhin im Rennen. Er ist der führende Aspirant auf die republikanische Präsidentschafts­kandidatur. Das ist doch verstörend.
Hier muss ich vermutlich auf einen Umstand hinweisen, der den europäischen Beobachtern manchmal nicht hinreichend bewusst ist: Im amerikanischen System hat der Präsident eine quasi­monarchische Position. Es ist deshalb sehr schwierig, juristisch gegen einen Präsidenten oder einen Ex-Präsidenten vorzugehen. Die Autorität des US-Präsidenten hat eine sakrale Qualität, zu der es in anderen Demokratien meiner Meinung nach kein Äquivalent gibt. Ich überblicke gar nicht mehr, wie viele israelische Premier­minister schon wegen finanzieller Vergehen angeklagt worden sind. Es geschieht immer wieder. Auch in Frankreich ist es schon dazu gekommen, in Deutschland mag es demnächst so weit sein. Diese Regierungs­chefs unterstehen dem Gesetz. Bei amerikanischen Präsidenten ist das etwas weniger eindeutig. Allerdings haben wir bisher nie einen Präsidenten gehabt, der sich derart gigantischer Verstösse gegen die Verfassung schuldig gemacht hat. Auch die USA haben juristische Verfahren, um gegen einen Ex-Präsidenten vorzugehen. Sie sind aber sehr kompliziert, es wird mit grösster Vorsicht vorgegangen. Doch sie schreiten voran. Und wir können beobachten, dass unter republikanischen Amtsträgern und Gross­spendern der Wille wächst, Trump definitiv loszuwerden.

Sie selber haben kürzlich geschrieben, dass die Republikanische Partei, beziehungs­weise die republikanischen Führungs­figuren, offensiv Front machen müsste gegen Trump. Und dass das bisher nicht geschehen ist.
Leider hat das auch seine Gründe. Bis heute bleibt Trump gemäss den Umfragen der populärste republikanische Politiker. Er ist bisher der einzige Präsidentschafts­bewerber, der erfolgreich 200-Dollar-Kleinspenden eintreiben kann, eine ganz entscheidende Fähigkeit in der amerikanischen Politik. Es mag auch weiterhin so sein, dass die zahlreichen Probleme, mit denen er heute zu kämpfen hat, nur zu den gut informierten Bürgerinnen wirklich durch­dringen und dass er auf alle anderen immer noch glaubwürdig und stark wirkt. Trump ist weit davon entfernt, erledigt zu sein. Aber er ist viel schwächer als noch vor kurzer Zeit.

Aber bedeutet das nicht, dass wir sehr bescheiden geworden sind mit unseren Ansprüchen an den demokratischen Rechts­staat, jedenfalls an die US-Demokratie? Trump stachelt einen bewaffneten Angriff auf das amerikanische Parlament an – und zwei Jahre später müssen wir immer noch mit ihm rechnen?
Ich würde es so sagen: Die Trump-Erfahrung war ein Booster-Shot für unsere demokratischen Antikörper – und hat als solche ihren Nutzen. Was man zu Trump immer wieder etwas leichtfertig hören konnte: O Gott, schaut nur, was aus dem Amerika, an das wir geglaubt haben, geworden ist! Schaut nur den ganzen Extremismus an! Aber wenn man die Geschichte moderner Staaten betrachtet, zurück bis zur Amerikanischen Revolution und zur 1848er-Revolution in Europa, zeigt sich sofort: Die Demokratie ist das radikalste und umstrittenste politische Ideal, das es je gegeben hat. Und sie hat nie aufgehört, radikal und umstritten zu sein. Falls historische Perioden existierten, in denen wir dachten: Jetzt können wir die Demokratie als etwas Selbst­verständliches betrachten, so waren das Perioden, in denen wir uns täuschten.

Was meinen Sie konkret?
Nehmen Sie zum Beispiel die US-amerikanische Geschichte: Ich setze mich gerade vertieft mit den 1950er-Jahren auseinander. Man erinnert sich noch an Joe McCarthy und seine anti­kommunistischen Verschwörungs­theorien. Viel weniger gut ist der General Douglas MacArthur im Gedächtnis geblieben, eines der grössten militärischen Genies der Geschichte der Vereinigten Staaten, der im Zweiten Weltkrieg eine entscheidende Rolle gespielt hat. Aber MacArthur hatte keinerlei Respekt für demokratische Werte und trug sich in den Fünfziger­jahren sehr ernsthaft mit dem Gedanken, als autoritärer, populistischer Kandidat das Präsidenten­amt zu erobern. Das hätte gelingen können, wenn nicht eine grosse Zahl politischer Opponenten seine Pläne geschickt hinter­trieben hätten. Und solche Episoden gab es immer wieder nach dem Zweiten Weltkrieg. Es stimmt nicht, dass mit dem Ende des Krieges die Demokratie gesichert war. Es gab noch mehrere Jahrzehnte lang kommunistischen Extremismus und Neo­faschismus in den verschiedensten anti­demokratischen Spielarten.

Sie sagen also, wir haben eine Neigung, das Trump-Phänomen zu über­dramatisieren, weil die Demokratie permanent fragiler ist, als wir es wahrhaben wollen?
In einem der grossen Klassiker der amerikanischen Literatur, «Common Sense» aus der Zeit des amerikanischen Unabhängigkeits­kriegs, schreibt Thomas Paine: «Tyrannei ist wie die Hölle nicht leicht zu besiegen; doch haben wir diesen Trost bei uns, dass je härter der Kampf, desto herrlicher der Sieg.» Wir lesen diese hehren Worte in der Schule, und dann vergessen wir sie wieder. Aber es stimmt. Die Demokratie ist ein Abenteuer ohne Ende. Ein Commitment, das nicht aufhören kann. Ich bin mir ziemlich sicher: Wenn ich eines Tages meinen Enkeln erklären muss, wie es sich anfühlte, im Trump-Amerika zu leben, wird das nicht einfach sein. Es ist ein grossartiges Gefühl, jetzt nicht mehr jeden Morgen aufzuwachen mit einem Gefühl der Angst nach einer Nacht voller Albträume. Aber vielleicht hatte die grosse Unsicherheit, die wir erlebt haben, ja auch ihr Gutes: Vielleicht haben wir die Demokratie als für zu selbst­verständlich erachtet. Und vielleicht haben wir uns zu sehr darauf verlassen, dass andere die Grund­lagen dafür bereits für alle Zeiten gelegt haben sollen.

Sie haben keine Albträume mehr? Der Trump-Albtraum ist also doch vorbei?
Nein, es ist nicht vorbei. Lassen Sie mich das noch einmal betonen. Aber ich habe Vertrauen in die Gegen­kräfte. Sie sind stärker. Und sie können gemeinsam handeln. Das war im Grunde von Anfang an klar. Seit dem Jahr 2000 hat es sechs Präsidentschafts­wahlen und zwölf Kandidaturen der beiden grossen Parteien gegeben. Wenn man die Rangliste gemäss dem Stimmen­anteil erstellt, den diese zwölf Kandidaten bekommen haben, dann belegt Trump den zehnten und den elften Platz. 2016 verlor er gegen Hillary Clinton mit fast 3 Millionen Stimmen. Auch während seiner Präsidentschaft gab es an keinem einzigen Tag eine seriöse Umfrage, die ihm eine Zustimmungs­rate von 50 Prozent oder mehr zugeschrieben hätte. Seine Gegnerinnen waren potenziell immer stärker als seine Anhänger. Das Problem war nur, dass seine Anhänger eine organisierte Kraft bildeten – und seine Gegnerinnen erst noch entdecken mussten, dass sie sich koordinieren können.

Sie selber gehörten zu den frühen Never Trumpers.
In der Anfangsphase der Trump-Präsidentschaft machte man den Witz, dass die Never Trumpers keine party (Partei; Anmerkung der Redaktion), sondern eine Dinner­party seien, und in einer besonders spöttischen Variante dieses Witzes hiess es: eine Dinner­party bei David Frum zu Hause. Dann zeigte sich aber, dass die Never Trumpers eben doch eine Partei sind oder jedenfalls von partei­politischer Relevanz. Die Republikaner verloren 2018 die Mehrheit im Repräsentanten­haus, sie verloren 2020 die Präsidentschaft, 2021 den Senat und 2022 die Mehrheit in zahlreichen Bundes­staaten. Ein wichtiges Element dieser Gegen­bewegung besteht darin, dass ein Teil des Trump-Widerstands von konservativer Seite kommt. Es war eine entscheidende Schwäche von Trump, dass es ihm nie gelungen ist, die konservativen Kräfte hinter sich zu scharen. Deshalb nein: Es ist nie vorbei. Aber wir müssen uns nicht fürchten. Wir können handeln.

Die Anti-Trump-Kräfte waren also immer in der Mehrheit. Aber liegt das Problem der Vereinigten Staaten nicht genau darin, dass man, aufgrund der Besonderheiten des Wahl­rechts und der Struktur der Institutionen, die Macht auch dann erobern kann, wenn man nur eine Minderheit hinter sich hat?
Das ist tatsächlich ein Problem. Wir haben Institutionen geschaffen, die ein Schutzschild für Minderheiten hätten sein sollen – und ich meine damit nicht ethnische Minderheiten, sondern zum Beispiel die Bewohner von kleinen, ruralen Bundes­staaten. Und jetzt sind aus diesen Schutz­schilden potenzielle Angriffs­waffen von politischen Minder­heiten geworden. Das ist auch deshalb ein Problem, weil die USA institutionell sehr konservativ sind. Es gibt fast keine Möglichkeit, die Verfassung und die Regierungs­praxis zu ändern. Aber man sollte diesen Faktor nicht überschätzen. Wenn die Mehrheit geeint ist und gemeinsam handelt, bleibt sie stärker. Die entscheidende Frage ist deshalb: Kann die Mehrheit kohärent vorgehen? Seit 2016 haben wir da grosse Fortschritte gemacht. Wenn die Wirtschafts­lage einiger­massen positiv bleibt, dürfte diese Koalition halten. Und dann könnte genug Druck entstehen, dass die Republikanische Partei sich wieder neu ausrichtet. Das wäre enorm wichtig.

Warum bewerten Sie die Rolle der konservativen Kräfte für die, wie soll ich sagen, Sanierung der US-Demokratie so hoch?
Ich bin in dieser Frage sehr vom Politologen Daniel Ziblatt beeinflusst, besonders von seiner Doktor­arbeit über die Entstehung des historischen Faschismus in Europa. Er hat gezeigt, dass überall da, wo die konservativen Parteien sich dem Rechts­staat und der Demokratie verpflichteten, der Faschismus sich nicht durch­setzen konnte. Und dass da, wo die konservativen Eliten bereit waren, einen Pakt einzugehen mit den anti­demokratischen Kräften, die Situation gekippt ist. Das ist letztlich auch, was sich in den USA über die letzten Jahre abgespielt hat. Ein zu grosser Teil der konservativen Kräfte hat seine Loyalität zu den demokratischen Institutionen einfach aufgegeben. Inzwischen müssten die Konservativen aber gelernt haben: Betrügen funktioniert nicht. Sie müssen zurück­finden zu akzeptablen Macht­strategien.

Aber Sie selber haben viel geschrieben darüber, dass die Herrschaft der Minderheit von den amerikanischen Institutionen ermöglicht werden kann. Beispiels­weise weil der Supreme Court nun von sehr konservativen, zum Teil Trump-nahen Richtern kontrolliert wird. Und weil ebendieser Supreme Court nun Urteile gefällt hat, die dem aggressiven gerrymandering, also dem strategischen Abstecken von Wahl­kreisen, das einer Wähler­minderheit eine parlamentarische Mehrheit verschaffen kann, Tür und Tor öffnet.
Okay, wir sollten uns wohl nicht zu sehr in Details verlieren, aber betrachten wir mal das Problem des gerrymandering. Die Sache ist: Gerrymandering ist ziemlich riskant. Es ist, wie wenn man eine Toast­scheibe mit zweierlei Marmelade beschmieren würden. Himbeere sind die Republikaner, Heidel­beere die Demokraten. Die Republikaner wollen die Himbeer­marmelade möglichst dünn auftragen, damit sie einen möglichst grossen Teil des Toasts damit bedecken können – will sagen: möglichst viele Wahl­bezirke für sich gewinnen. Die Heidelbeer­marmelade hingegen wollen sie auf einer möglichst kleinen Fläche konzentrieren und müssen sie deshalb sehr, sehr dick auftragen.

Und wo liegt das Risiko?
In der dünnen Marmelade­schicht. Will sagen: In den so designten Wahl­bezirken sind die Mehrheiten immer dünn – je knapper, desto besser, denn dann kann man mit dem Stimmen­anteil, über den man verfügt, auch noch andere Wahl­bezirke erobern. Aber wenn man sich verrechnet oder wenn die politische Stimmung zu stark dreht, wird eine knappe Mehrheit plötzlich zu einer Minderheit, und man verliert den Wahl­bezirk. Das ist eine Erklärung dafür, dass die Republikaner bei diesen midterms so schlecht abgeschnitten haben. Sie betrieben sehr aggressives gerrymandering und verloren eine ganze Reihe von Wahl­bezirken, die sie hätten knapp gewinnen wollen. Es gibt also eine natürliche Grenze, wie weit man dieses Spiel treiben kann. Zudem wird die Zulässigkeit von gerrymandering nun von den Gerichts­höfen in den verschiedenen Bundes­staaten beurteilt. Es gibt Staaten wie das republikanisch regierte Florida, wo ein sehr ausgeprägtes gerrymandering von der Justiz durch­gewinkt wurde, und solche wie New York, wo die Demokraten die Wahl­bezirke ebenfalls im eigenen Interesse neu definieren wollten, aber von den Gerichten zurück­gepfiffen wurden. Die Recht­sprechung ist uneinheitlich, aber die Entscheidungs­macht liegt nicht beim konservativen Supreme Court, mit dem wir heute leben müssen. Es kann sich also auch bei den juristischen Rahmen­bedingungen in den nächsten Jahren viel verbessern.

Ein Problem wird sich aber kaum lösen lassen: Die Wahl des Präsidenten durch das Electoral College führt dazu, dass ein Präsident das Volksmehr deutlich verpassen und dennoch gewählt werden kann.
Dieses Problem wird bleiben. Eine andere Frage ist, wie wir damit umgehen – und genau in dieser Hinsicht war Trump eine grosse Ausnahme. Ich habe zu Beginn der Präsidentschaft von George W. Bush im Weissen Haus gearbeitet. Auch Bush wurde ja gewählt, obwohl Al Gore und nicht er selber die Mehrheit der Stimmen errang. Ich kann Ihnen garantieren: Seine ganze Politik war darauf ausgerichtet, mit diesem Legitimitäts­defizit umzugehen. Wir wussten, dass wir kein Mehrheits­mandat haben, das ein Präsident zwar nicht unbedingt benötigt, das ihn aber viel stärker macht. Bush versuchte deshalb in den acht ersten Monaten seiner Amtszeit – der Zeit vor 9/11 –, mit über­parteilichen Strategien zu regieren und symbolische Versöhnungs­gesten zu machen. Es sind nur kleine Sachen, aber zum Beispiel wurde das Justiz­ministerium «Bobby Kennedy Building» getauft. Es gab eine grosse Zeremonie für die Kennedy-Familie. Bush unternahm auch beträchtliche Anstrengungen, um demokratischen Senatoren den Hof zu machen, weil er eines seiner grossen Gesetzes­projekte mit 70 Stimmen durch den Senat bringen wollte. Es war ihm klar, dass er nicht einfach so tun konnte, wie wenn er die Wahlen eindeutig gewonnen hätte.

Da war Trumps Haltung eine andere.
Trump war das diametrale Gegenteil, vermutlich aufgrund seiner pathologischen Persönlichkeit. Er hielt die Fiktion aufrecht, dass er immens populär sei, obschon er sehr viel weniger Stimmen gemacht hatte als Clinton. Trump war unfähig zu der aller­geringsten Annäherungs­geste.

Sie plädieren für die Tugenden der über­parteilichen Annäherung und der Konstruktion von breiten Koalitionen. Aber was wir beobachten in der amerikanischen Politik, ist eine extreme Polarisierung.
In der Tat, und es ist nicht nur ein amerikanisches Problem. Woher die Polarisierung heutiger Gesellschaften kommt? Die These mag Ihnen spekulativ erscheinen, aber ich würde nicht ausschliessen wollen, dass der höhere Bildungs­grad der heutigen Durchschnitts­bevölkerung dazu beiträgt, genauso wie der Individualismus, der es valorisiert, wenn man sich von anderen unterscheidet. Wir leben aktuell in sehr individualistischen Gesellschaften, und vielleicht werden unter diesen Bedingungen die politischen Ansichten fast zwingend extremer, als wenn die Massen­kultur dominiert. Es könnte also sein, dass die zunehmende Polarisierung ein Neben­effekt des geistigen und kulturellen Fortschritts ist. Dass sie ganz einfach zum Leben in den avanciertesten heutigen Gesellschaften dazugehört und hierin auch der Grund liegt, weshalb wir in fast allen demokratischen Ländern eine zunehmende Polarisierung beobachten. Grosse Geschlossenheit scheint nur noch möglich, wenn eine massive äussere Bedrohung existiert. Nehmen Sie zum Beispiel die Ukraine: Die ukrainische Gesellschaft war extrem gespalten und konflikt­geladen – bis zum russischen Angriff. Heute ist sie geeint in ihrem Verteidigungs­willen.

Sie klingen, als würden Sie dafür plädieren, dass wir die Polarisierung einfach akzeptieren.
Ich bin mir in der Tat nicht sicher, ob man die Polarisierung aufhalten oder wieder abbauen kann. Ich würde eher dafür plädieren, sie richtig zu managen, sich möglichst gut damit zu arrangieren. Denn es gibt ja auch eine gute Nachricht: Trotz aller Polarisierung lehnt eine Mehrheit der Bürger den Autoritarismus und eine allzu riskante, verantwortungs­lose Politik ab. Das ist jedenfalls die Lehre, die ich aus den Niederlagen des Maga-Republikanismus ziehen würde. Die Trump-nahen Politiker haben angefangen, gewalttätig, stabilitäts­bedrohend und fahrlässig zu wirken. Und deshalb haben sie keinen Erfolg mehr.

Sie gehen also davon aus, dass wir extreme Spannungen in unseren sehr diversen, pluralistischen Gesellschaften haben werden, dass es letztlich aber doch ein breites Bekenntnis zu primären Werten der Rechts­staatlichkeit und der Demokratie zu geben scheint.
Das ist die Lehre, die ich aus der amerikanischen Entwicklung ziehe.

Sie waren ein Leben lang ein überzeugter Konservativer, haben in der ersten Phase seiner Präsidentschaft für George W. Bush Reden geschrieben, arbeiteten lange für den neo­konservativen Thinktank American Enterprise Institute. Sie waren aber auch immer auf Ihre Unabhängigkeit bedacht. 2016 haben Sie Ihre Stimme Hillary Clinton gegeben. Weshalb ist der Konservatismus für Sie trotzdem so wichtig?
Über die Wichtigkeit des Konservatismus für die demokratische Stabilität haben wir ja schon gesprochen. Aber lassen Sie mich ein konkretes Beispiel geben: die jetzigen Wahlen im Bundes­staat Arizona. Die republikanische Kandidatin für das Gouverneurs­amt, Kari Lake, verbreitete Verschwörungs­theorien und profilierte sich als Impf­gegnerin und Trump-Verehrerin. Es gab noch eine Reihe weiterer republikanischer Kandidaten für andere Ämter, die ein ähnliches Profil hatten. Sie sind alle gescheitert. Für das Amt des State Treasurer in Arizona – das ist gewisser­massen der Finanz­minister – kandidierte jedoch eine gemässigte Republikanerin, Kimberly Yee, die Erfolg hatte. Sie sagte Dinge wie: Geld wächst nicht auf den Bäumen. Staatliche Ausgaben müssen auch finanziert werden. Wollt ihr dafür die Steuern erhöhen? Solche Leute brauchen wir auch. Wir brauchen in unseren politischen Systemen sowohl Akteure, die Gas geben wollen, als auch solche, die auf die Bremse gehen. Leute, die sagen: Das erscheint mir zu teuer. Wie finanzieren wir das? Da Sie mich auf meine eigene intellektuelle Biografie angesprochen haben, möchte ich noch etwas hinzufügen.

Bitte!
Ich habe einen guten Teil der letzten zwei Jahre damit verbracht, meine politischen Memoiren zu schreiben, wobei ich nicht sicher bin, ob ich sie vor meinem Tod für die Veröffentlichung freigeben werde. Aber ein wichtiges Thema ist, wie mir eines bewusst wurde: Wenn man sich in den Vereinigten Staaten konservativ nennt, stellt sich erst einmal die Frage, was man bewahren will. Man verteidigt ja weder das Erbe einer nationalen Monarchie noch das Erbe einer etablierten Konfession. Das amerikanische Erbe, das es zu bewahren gilt, sind die liberalen politischen Institutionen. Echter Konservatismus ist hier nur in einem liberalen Rahmen möglich. Das dürfen wir nie vergessen.

Und diese Bewahrung der liberalen Institutionen wird auch heute weitergehen. Trotz der extremen Heftigkeit der Kultur­kämpfe und der politischen Polarisierung?
Bis an einen bestimmten Punkt sind heftige Auseinander­setzungen ein Zeichen der Gesundheit einer Demokratie. Sie sind auch kein neues Phänomen. Nehmen Sie die berühmte Beschreibung, die Alexis de Tocqueville in «Über die Demokratie in Amerika» davon gibt, wie sein Schiff im Hafen von New York einläuft. Plötzlich wird er sich bewusst, was da für ein höllischer Lärm herrscht, dass die Leute miteinander reden, streiten, sich anbrüllen wie nirgendwo sonst auf der Welt. Es ist sowohl verstörend und erschreckend als auch ein Ausdruck der Besonderheit von Demokratie. Demokratische Gesellschaften sind laut. Und ich denke, das muss so sein.

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