Radikal poetisch

Kae Tempest ist eine Ausnahme­erscheinung in der zeit­genössischen Literatur- und Musik­szene. Versuch der Annäherung an eine Person, die ihr Leben konsequent ihrer Kunst widmet.

Von Anja Nora Schulthess, 06.01.2023

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Vorgelesen von Patrick Venetz
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Kae Tempest: «Kreativität ist wie eine Landkarte fürs Ankommen in der Gegenwart.» Wolfgang Tillmans

Es gibt jene Autorinnen oder Poeten, deren Texte man nicht mehr lesen kann, ohne dabei ihre Stimmen im Ohr zu haben. Die eigentümliche Stimme von Kae Tempest gehört definitiv dazu. Im Fall Tempests ist das zweifellos ein Gewinn für die Worte, die an sich schon schaffen, was viel anderer zeitgenössischer Literatur missglückt: Sie vermögen einen wirklich zu rühren oder in Aufruhr zu versetzen. Kritikerinnen verfallen leicht in allzu gefühls­selige Metaphern, wenn sie versuchen, Tempests Texte und Performances zu beschreiben, die so viel Wut, Verzweiflung, Zärtlichkeit und Zuversicht vermitteln, zumeist auf eine sehr ernsthafte und direkte, ja rohe Art. Reichlich abgestumpft oder zynisch muss sein, wer davon nicht irgendwie ergriffen ist.

Für Songzeilen wie:

There is so much peace to be found in people’s faces (…) I love people’s faces.

In den Gesichtern der Menschen ist so viel Frieden zu finden (…) Ich liebe die Gesichter von Menschen.

Kae Tempest: «People’s Faces».

oder:

You make me immortal / You take me to space / You are a planet / A place I’ve not known

Du machst mich unsterblich / Du bringst mich ins Weltall / Du bist ein Planet / Ein Ort, den ich noch nicht kenne

Kae Tempest: «Firesmoke».

würde man jedoch manch andere Interpretin in die Kitsch­ecke verfrachten. Bei Tempest wirken sie auf faszinierende Weise ehrlich und pathetisch im besten Sinn – warum?

Wie viel hat Tempests Plädoyer für Kreativität, Empathie und Verbindung mit dem Achtsamkeits­gelübde unserer Zeit zu tun? Und ist das wirklich alles politisch?

Poesie oder Aktivismus?

Kae Tempest, bis zum Coming-Out als non-binäre Person 2020 bekannt als Kate Tempest, wuchs in London auf und begann als Teenager zu rappen, entdeckte Anfang zwanzig die Spoken-Word- und Poetry-Szene für sich und widmete sich seither Lyrik, Rap, Literatur, Theater, Performance und der Verbindung von alledem – äusserst produktiv und mit grossem Erfolg. Fünf Alben, sechs Gedichtbände, vier Theater­stücke, einen Roman und ein Sachbuch hat Tempest mit 37 Jahren bereits veröffentlicht, und sie wurde mit diversen Preisen ausgezeichnet.

In den deutsch­sprachigen Medien und darüber hinaus als «Virtuosin», «Ausnahme­talent», «Meisterin des Sozial­realismus und der Sozial­kritik», «Allround-Genie» und als «Stimme ihrer Generation» bezeichnet, schrieben die Feuilletons Tempest ein Engels­gesicht zu, beriefen sich fast schon mantra­artig auf die goldenen Locken der (damals noch weiblich gelesenen) Rapperin, die mit einer poetischen Rauheit die Leiden und die Zerstörungs­wut des Spät­kapitalismus besang – oder beklagte.

2020 schnitt sich Kate Tempest die Haare kurz, wurde zu Kae und kommunizierte diesen Wandel ohne viel Aufhebens auf Instagram:

I have tried to be what I thought others wanted me to be so as not to risk rejection. This hiding from myself has led to all kinds of difficulties in my life. And this is a first step towards knowing and respecting myself better.

Ich habe versucht, so zu sein, wie ich dachte, dass andere mich haben wollten, um Ablehnung zu vermeiden. Dieses Verstecken vor mir selbst hat zu allen möglichen Schwierigkeiten in meinem Leben geführt. Und dies ist ein erster Schritt, um mich selbst besser kennen und respektieren zu lernen.

Tempest habe dieses Coming-out nie als radikalen Akt verstanden, erfuhren wir in einem Gespräch mit dem «Guardian», und sieht sich nicht als aktivistische Figur. Die Rolle des Poeten, der Poetin sei eine andere: «Deshalb werde ich immer zögern, zu viel über einen Aspekt meiner Erfahrung zu sprechen, wie gross dieser auch sein mag. Denn Poesie ist weit. Sie ist selten und tiefgründig, grösser als meine oder Ihre Erfahrung.»

«Schreiben bedeutet Scheitern»

Trotz Absage an die Zuschreibung des Aktivismus gilt Tempest selbstredend als politische Figur.

Da sind einmal die Texte, die die Zumutungen unserer Zeit, soziale Zusammen­hänge und Ungerechtigkeiten benennen und besingen, den Kapitalismus verfluchen, die man aber missversteht, wenn man ihnen Moralismus oder das Predigen von politischen Botschaften unterstellt. Dafür sind die Texte, insbesondere die Lyrik und die Prosa, weitaus zu komplex, die schnellen Wechsel von Perspektiven, das Mäandern zwischen Figuren so angelegt, dass ein Finger­zeigen gar nicht erst aufkommen kann:

What am I gonna do to wake up?
We are lost, we are lost, we are lost
And still nothing will stop, nothing pauses
We have ambitions and friendships and our courtships to think of
Divorces to drink off the thought of
The money, the money, the oil
The planet is shaking and spoiled
And life is a plaything
A garment to soil
The toil, the toil
I can't see an ending at all
Only the end (…).

Was soll ich machen, wie wache ich auf
Wir sind kaputt, wir sind kaputt, wir sind kaputt
Und trotzdem hört nichts auf, nichts hält inne
Wir haben Ziele, Freundschaften, Liebschaften, da denken wir dran
und die Gedanken an die Trennungen trinken wir weg
Geld, Geld, Öl
Der Planet ist am Zittern und Faulen
Dein Leben ein Spielball
Kleidung zum Einsauen
Schinderei, Schinderei
Ich seh nicht, wo das aufhört
Nur das Ende (…).

«Europe Is Lost» aus dem Gedichtband «Let Them Eat Chaos – Sollen sie doch Chaos fressen».

Trotzdem hat Tempest stets auch deutlich Stellung bezogen, etwa gegen den Brexit. 2015 hat Tempest, selbst jüdischer Abstammung, eine Petition der Gruppe «Artists for Palestine» unterzeichnet und sich dazu verpflichtet, nicht in Israel aufzutreten. Letzteres brachte Tempest viel Kritik ein, ein Konzert an der Volksbühne in Berlin musste 2017 wegen Drohungen abgesagt werden, was wiederum für Kritik sorgte – eine verfahrene Situation von Boykott und Gegen­boykott, man möchte sagen: in Endlos­schleife.

2020 hat Tempest dann den Essay «On Connection» (deutsch: «Verbunden­sein») veröffentlicht. Es ist eine Art politisch-ästhetisches Manifest für Verbundenheit als künstlerisch-politisches Konzept. Tempest plädiert darin für Kreativität und Empathie, dafür, Verbindung herzustellen mit sich selbst, der Welt, den anderen – nicht zuletzt gegen die Abstumpfung und die Entfremdung, die wir in einer Welt, in der Konsum unser eigentliches «Vermächtnis» ist, erfahren.

Anhand der eigenen Erfahrungen – Drogen­missbrauch, ein Stimm­verlust, das chaotische Künstler­leben – argumentiert Tempest, dass etwa achtsames Lesen von Texten und aktives Hören von Musik auch zu besserem Zuhören und somit zu mehr Verständnis für die anderen und Verbindung mit sich selbst und seinen Mitmenschen, seiner Umgebung führen. Denn Verbundenheit, schreibt Tempest, sei keine «Künstler:innen vorbehaltene Domäne», vielmehr sei Kunst «eine gute Möglichkeit, um zu verstehen, was uns jener andere Ort bringt, wo unsere Gemeinsamkeiten beginnen».

Selbstachtung, Achtsamkeit, Körper­gefühl, Verbundenheit, Kreativität – man könnte, wüsste man es nicht besser, leicht vermuten, hier reise jemand auf dem medial so beliebten Achtsamkeits­trip mit, der uns in Blogs, Artikeln und Podcasts geradezu inflationär ein noch besseres, physisch und psychisch gesünderes Selbst verspricht.

Wer genau liest und zuhört, merkt jedoch schnell, dass Tempests Ideen, die in «On Connection» formuliert werden, reichlich weit weg sind von der Idee des selbst­optimierten Subjekts oder der Verklärung von Kreativität als Allerwelts­heilmittel. «Meine Kreativität ermöglicht mir Zugang zu Welten parallel zu dieser. Aber selbst mit diesen Werkzeugen bleiben die anderen Welten manchmal unzugänglich. Der Sound ist runter­gedreht, und ich bin im Zwei­dimensionalen gefangen. Abgeflacht durch Routine und das Bedürfnis nach einem von Routine geprägten Leben», schreibt Tempest.

Tempest vertritt einen emphatischen Kunst­begriff, der Musik und Literatur dezidiert abgrenzt von «Massen­ware», die «zynisch zusammen­gestellt» nichts will «ausser deinen Klicks» und es aktiv auf die «Abstumpfung» abgesehen hat. Trotzdem hat Tempest auch einen realistischen Blick auf die Kunst und das eigene Schaffen. Schreiben etwa, meint Tempest, scheitere immer an der Idee: «Beim Schreiben gibt es immer nur ein geringeres Ausmass des Scheiterns. Schreiben bedeutet Scheitern.» Geradezu fatalistisch ist auch der Ton dort, wo es um das Leben selbst geht:

Alle scheitern. Das Leben selbst ist ein Scheitern: Zum Schluss endet es. Deshalb ist es aber nicht weniger mächtig.

«Verbundensein», deutsche Ausgabe.

Und doch heisst es dann hier auch wieder lapidar:

Leg das Handy weg. / Lausche den Vögeln. / Mach Feuer an einem stillen Ort. / Achte auf die Einzelheiten wenn du deine Liebe küsst. / Wenn du dich mit deinen Nachbar:innen über ihre Gesundheit unterhältst. / Wenn du die Strasse überquerst, die Katze fütterst oder Tomaten kaufst. / Wenn du Mutter oder Vater einäscherst. / Wenn alles verschwimmt, ändere den Fokus. / Aber wenn du den Fokus nicht ändern kannst, dann ändere ihn nicht (…).

Ist es so einfach?, möchte man Tempest fragen und auch: Ist nicht gerade das verdammt schwer?

Kreativität als Landkarte

Ich kriege einen Interview-Slot, kurz vor Beginn von Tempests Europa-Tour diesen Winter, zwanzig Minuten via Zoom. Trotz der absurden Situation, ein Distanz­gespräch über «Verbundensein» zu führen, ein Gespräch zwischen zwei Laptop-Bildschirmen, ist Tempest spür- und fassbar, sehr präsent, keine aufpolierten Floskeln. Tempest nimmt sich Zeit, spricht langsam und überlegt, schweigt lange, lacht zwischen­durch. Dann sprudelt es aus Tempest heraus, mein Gegenüber wirft mir klare Worte hin und wiederholt sie dort, wo es wichtig scheint.


In Ihrem Buch «On Connection» sprechen Sie über Verbundenheit. Gibt es ein Gefühl der Verbundenheit ohne Erwiderung dieses Gefühls von einem Gegenüber?
Ja. Ich kann mich mit mir selbst verbunden fühlen, mit der Stadt, mit den Menschen in meinem Leben, ohne mit jemandem in einer Gemeinschaft sein zu müssen. Ich kann Verbundenheit auch alleine fühlen. Aber ich muss in der richtigen Stimmung sein. Wenn ich zum Beispiel ein Konzert oder ein Theater besuche. Ich fühle diesen Zustand der Verbundenheit, während ich dort sitze und dann, wenn ich mich auf den Heimweg mache. Ich fühle Verbundenheit, wenn ich im Zug sitze, ich sehe die Leute an, ich bin da, ich bin bei ihnen, sehe sie, die Stadt, alles, den Bahnhof, ich denke an die Elektrik, die den Zug führt. Du wirst dir jedes Zustands in diesem Prozess bewusst. Aber dann braucht es nicht viel, um dich heraus­zureissen aus diesem Gefühl – das Telefon klingelt oder du denkst: «Ich habe Hunger» –, es ist weg, vorbei.

Sie würden also sagen, es geht darum, im Moment zu sein, sich bewusst zu werden, was gerade passiert, was alles um einen herum ist?
Es geht darum, dort zu sein, wo man tatsächlich ist – nicht dort, wo man hofft, zu sein, wo man glaubt, dass man sein sollte oder wo man gewesen ist, sondern einfach dort, wo man tatsächlich ist. Es ist wirklich schwer, dorthin zu gelangen. Deshalb ist Kreativität für mich so kraftvoll, sie ist wie eine Land­karte fürs Ankommen in der Gegenwart.

Sie schreiben in Ihrem Buch über Konzepte wie Kreativität und Empathie und beschreiben eine Haltung, die man vielleicht als Achtsamkeit bezeichnen könnte. Nun sind «Kreativität» und «Achtsamkeit» zu trendigen Schlag­worten, Versprechen von Selbst­optimierung und Verkaufs­argumenten geworden. Wie grenzen Sie sich von solchen Konzepten ab?
Oh, das Zeug ist real für mich, das ist echt. Ich weiss nicht, was trendige Schlag­worte sind, ich schaue mir den Scheiss nicht an, es ist mir egal. Man spürt, wenn etwas einfach nur Bullshit ist und nichts bedeutet. Es ist nicht so, dass ich sage: Hey, ich habe ein Tape gemacht, und die Tatsache, dass der hyper­kompetitive Spät­kapitalismus, das Blut, auf dem diese Städte gebaut sind, der Raub von Land, die Zerstörung von Körpern und natürlichen Ressourcen, das Wüten und das Tyrannisieren von Menschen … ich sage nicht, das alles ist in Ordnung, weil ich ein Tape gemacht habe. Ich bin nicht daran interessiert, zu sagen: «Hey, entspannt euch» – das ist nicht mein Ding. Das, worüber ich spreche, ist alt, uralt, und es ist uns allen ureigen – die Leute reden seit Hunderten und Hunderten von Jahren darüber. Und ich bin spät dran. Der Sinn des Buches, nehme ich an, bestand aber auch darin, dass ein Verleger mich um einen fiktiven Essay bat und ich schrieb einfach, was mir durch den Kopf ging.

Kae Tempest vermag es, die niederen Dinge in Poesie zu fassen – gerade weil Tempest sich enorm zurücknimmt. Wolfgang Tillmans

Sie werden in den Feuilletons oft als «Stimme Ihrer Generation» bezeichnet. Was machen Sie mit dieser Verantwortung?
Es ist nicht meine Verantwortung, es bedeutet mir nichts. Ich habe eine Verantwortung meinen Ideen gegenüber, den Menschen gegenüber, mit denen ich in einer direkten Gemeinschaft lebe, meinen Mitarbeiterinnen, der Kreativität gegenüber, mein ganzes Leben ist dieser Aufgabe gewidmet. Ich liebe Journalisten, es ist ihr Job, ihre Berufung, ihr Leben. Sie lieben das Schreiben, sie haben eine Faszination für die Mechanismen der Kultur und der Menschen, daran, wie all das funktioniert. Ich verstehe das. Aber oft, finde ich, hat das Schreiben über Musik und Literatur nichts mit der Realität eines Lebens zu tun, in dem man das Zeug herstellt. Die Perspektive ist eine völlig andere: Hier hat man einen Einblick, das Herz öffnet sich, «schaut hier rein», während Journalistinnen, nun ja, notwendiger­weise von aussen versuchen, anhand der fertigen Werke zu verstehen, was die Erzählung ist. So verstehe ich Erzählung nicht. Ich erschaffe Erzählungen oder meine Figuren, also beginne ich im Inneren und schaue dann nach aussen.

Sie schreiben: «Wir leben in einer Zeit, in der man Stellung beziehen muss.» Gleichzeitig sagen Sie, dass Sie lediglich Verbindung aufnehmen und nicht über andere urteilen möchten. Ist das nicht ein Wider­spruch? Gibt es nicht Situationen, wo es ein Urteil braucht oder eine Abgrenzung nötig ist?
Wer bin ich, what the fuck, wer bin ich, was weiss ich? Ich weiss nichts, ich weiss gar nichts. Die Leute brannten immer schon für Dinge, mit denen ich nicht einverstanden bin, aber das bedeutet nicht, dass sie unrecht haben. So fühlen sie sich, das ist ihr Leben, ihr Leben hat sie dorthin geführt, mein Leben hat mich hierhin geführt. Ich hänge jeden Tag mit Leuten ab, die ganz anders sind als ich, sozial, kulturell, jeden Tag bin ich von dieser Scheisse umgeben und ich muss einfach nach vorne schauen. Ich denke, das ist die eleganteste Art, es zu sagen: Wer zum Teufel bin ich, dass ich davon ausgehe, dass das, was ich glaube oder denke, wahr oder richtig ist? Es ist alles Wahrnehmung, und dein Leben führt dich dazu, die Entscheidungen zu treffen, die du getroffen hast. Ich verurteile niemanden für irgendetwas.

Manchmal ist es sehr schwer, es nicht zu tun. Und wenn auch nur, weil wir so daran gewöhnt sind, zu werten und zu urteilen.
Du weisst, was du weisst. Du glaubst an deine Moral. Aber wo ist die objektive Moral? Die gibt es für mich nicht. Es gibt die objektive Wahrheit, dass, wenn man jemanden ermordet, diese Person tot ist und nicht mehr zurückkommt, und wir sind uns alle einig, dass wir das in unserer Gesellschaft nicht wollen. Aber es gibt verdammt schreckliche Dinge, die Menschen passieren, schreckliche Dinge, ich mag sie nicht, ich will nicht, dass sie passieren. Es ist nicht so, dass ich sage, dass ich Gewalt nicht hasse. Es ist einfach so, dass es kein Falsch und kein Richtig gibt, es ist einfach ein Spiel, alles ist ein Spiel, und dann ist es so, dass man sich einfach um die Leute um einen herum kümmern muss. Es klingt vielleicht banal, aber das ist einfach mein Standpunkt.

Sie wurden stark kritisiert für die Unter­zeichnung der Petition «Artists for Palestine», es gab Drohungen gegen Sie. Wie wichtig war Ihnen diese Positionierung?
(lange Stille) Was bedeutete das damals für mich? Ich erhielt den Brief … den ich sehr bewegend fand … und ich fügte meinen Namen hinzu. Was hat das für mich bedeutet? Ich weiss es nicht mehr. Tut mir leid, ich weiss es nicht. Damals war es das, was ich fühlte. Ich kann es nicht ehrlicher sagen.


Ein gefühlt langes Schweigen stellt sich wieder ein, bevor ich mit Tempest über die anstehende Tour spreche und darüber, wie es ist, in fremden Städten unterwegs zu sein, während die Situation in England, ganz Europa, weltweit, dermassen ungemütlich und besorgnis­erregend ist. Ja, sagt Tempest, es gebe schreckliche Dinge, die hier, dort, überall passierten. Aber darunter – «below, below, below» – seien die Menschen. «Ich liebe die Menschen.» Tempest will die politischen Anstriche der Zeit nicht schmälern, «aber ich interessiere mich einfach mehr für das Ewige, das fühlt sich für mich aktueller, realer an».

Tempest sagt solche Sätze mit einer derartigen Überzeugung, dass man sie einfach glaubt. Alles, was Tempest sagt, wirkt konsequent, authentisch, stimmig. Und dennoch bleiben natürlich Fragen.

Zum Beispiel die Frage, wie man bei einer derart scharfen Beobachtungs­gabe und einem Gespür für all die Facetten und Schattierungen gesellschaftlicher Zusammen­hänge eine solche Petition einfach aus einem momentanen Gefühls­zustand heraus unter­schreiben kann. Oder die Frage, ob eine Aussage wie die, dass alles ein Spiel ist, dass es kein Richtig und Falsch gibt, nicht brand­gefährlich ist.

Es gibt auf diese Fragen keine einfachen Antworten. Politisch scheint mir an Tempest eher die Kunst selbst und dass sich diese Person ihrer Kunst so radikal und mit einem grossen Verantwortungs­gefühl widmet.

Tempest taugt nicht unbedingt zur politischen Vorbild­figur im engeren Sinne. Wer sich dem Ewigen und Allgemeinen nahe fühlt, fühlt sich konsequenter­weise nicht dazu berufen, sich zu aktuellen politischen Debatten zu äussern, oder verspürt den Drang, auf jede mediale Regung zu reagieren – und muss auch nicht. Wer glaubt, jemand, der die Besonderheiten und Leiden unserer Zeit mit Poesie einfängt, müsse praktische Antworten auf die Fragen nach den Ursachen dieser Besonderheiten geschweige denn Lösungen bereithalten, hat das Verhältnis von Kunst und Politik missverstanden. Dieses ist immer verzahnt, liegt aber im Widerstreit, beide sprechen unterschiedliche Sprachen, die sich nicht leichtfertig übersetzen lassen.

Wie heisst es in «On Connection»? «Ich möchte nur Verbindung aufnehmen.» Das tut und gelingt Tempest auch immer wieder.

Demut

Das zweite Set am Konzert im Salzhaus in Winterthur im Dezember endet mit dem Song «People’s Faces». Im ersten Set hat Tempest das aktuelle Album «The Line Is a Curve» gemeinsam mit der Bühnen­partnerin durchgespielt, ohne abzusetzen, ein Take, ein Fluss. Mal wummernde Bässe, der Boden vibriert so sehr, dass man ins Wanken kommt. Dann wieder beinahe Stille, immer die Worte im Zentrum, getragen von der Stimme Tempests – mal verletzlich, mal sanft, mal roh, seufzend, raunend, schreiend, fordernd –, die Instrumente sind mehr reduziertes akustisches Bühnen­bild. Es sind die Wort­ströme, deren Rhythmus, die Kadenz der Verse und die Wandelbarkeit dieser unverkennbaren Stimme, die einen regelrechten Sog entwickeln, Aufruhr und Ruhe, Ebbe und Flut. Beatbox und Elektronik tun das Übrige dazu.

Let me give love / receive love / and be nothing but love

Lass mich Liebe geben / Liebe empfangen / und nichts als Liebe sein

Auch wenn das Wort «Liebe» als Antwort auf fast alles daher­zukommen scheint, so ist die Liebe hier dennoch keine Floskel, sondern beschreibt ein aufrichtiges Gefühl der Verbundenheit und eine Haltung, die mehr Frage als Behauptung ist.

Darin liegt der Unterschied zum Kitsch, zum Prätentiösen – von Tempests unbestrittenen Rap- und Sprach­künsten ganz abgesehen. Was Tempest und die Performance dieser Person ausmacht, ist ihre Ernst­haftigkeit und Direktheit. Was Tempest sagt, singt oder schreibt, ist nicht aufgesetzt und scheint frei von Ruhm- und Gefallsucht. Das wirkt eben stark, gerade bei einer allgemeinen Tendenz in Pop, Kunst und Literatur, alles zu ironisieren – sich selbst oder das, worüber man sich im Allgemeinen so erhebt. Tempests, nennen wir es Attitüde, erscheint erfrischend andersartig.

Die grossen Gefühle – Liebe, Ängste, Verzweiflung, Resignation – kommen in einer schnörkel­losen Sprache daher, kritisch und anklagend im Gestus bei gleich­zeitigem Mitgefühl, mit Sinn für den inhärenten Wider­spruch. Das Radikale oder Politische, wenn man so will, an Tempest ist vermutlich zuallererst eine Demut, die sich darin äussert, dass sich hier jemand radikal seinen Figuren verpflichtet – während sich Tempest selbst als Künstler­figur enorm zurück­nimmt. Narrative und Szenen, die bei Tempest immer dem Zahn der Zeit nachfühlen, wirken gleichzeitig alterslos.

Vielleicht kann man es so sagen: Kae Tempest ist eine Person mit einer stark wirkenden Präsenz, die uns flüchtig an einem ganz besonderen Blick auf die Welt, an einem ganz besonderen Ausdruck teil­haben lässt und damit lange nachhallt und nachwirkt.

Kae Tempest vermag es, die niederen Dinge in Poesie zu fassen: erbärmliche Wünsche, Ruhmsucht, materielle Begierden und damit einher­gehende Leere, Taubheit und Resignation. Tempest tut all dies ohne je auf die Figuren in den Texten herab­zuschauen, mit so grossem Mitgefühl und Verständnis für die Geschichten und Empfindungen Einzelner bei gleichzeitiger Scharf­züngigkeit und Präzision, dass man diese Kunst einfach lieben muss.

Zum Werk

Kae Tempest: «The Line Is a Curve» (Album). Universal Music, 2022. 12 bis 26 Franken.

Kae Tempest: «Verbundensein» (Essay). Aus dem Englischen von Conny Lösch. Suhrkamp Insel, Berlin 2021. 138 Seiten, ca. 19 Franken.

Kae Tempest: «Let Them Eat Chaos – Sollen sie doch Chaos fressen» (Lyrik), Englisch und Deutsch. Aus dem Englischen von Johanna Davids. Suhrkamp Insel, Berlin 2018. 154 Seiten, ca. 20 Franken.

Zur Autorin

Anja Nora Schulthess, geboren 1988, studierte Philosophie, Kultur­analyse und Allgemeine und Vergleichende Literatur­wissenschaft an der Universität Zürich. Sie ist als freischaffende Autorin und Journalistin tätig.

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