Beeinträchtigt und Mutter: Eine Frau mit ihrem Kind in einer betreuten Wohnform in Deutschland.

Tabu im Quadrat

Auch Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung beschäftigt das Thema Sex. Nur mag kaum jemand darüber sprechen. Dabei ist der Bedarf gross: Eine neue Beratungs­stelle wird von Hilfe­suchenden überrannt.

Von Barbara Lukesch (Text) und Ruben Hollinger (Bilder), 04.01.2023

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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An einem Herbst­nachmittag, an dem es nochmals richtig warm geworden ist, klopft Thomas Schürch schüchtern gegen eine offen stehende Tür. Der 43-jährige Winterthurer ist bepackt, als wolle er auf eine längere Reise gehen: Rucksack, grosse Tasche, kleine Tasche, feste Jacke. Kein Wunder, schwitzt er.

Thomas Schürch hat eine kognitive Beeinträchtigung. Und er hat Fragen zu Liebe und Sex.

Deshalb ist er nach Zürich gereist, zur Beratungs­stelle Liebi+. Nicht zum ersten Mal: Er sei ein Stamm­kunde, sagt Sylvia Milewski, die Co-Leiterin der Beratungs­stelle. Sie begrüsst ihn herzlich und bietet ihm ein Glas Wasser an. Er schüttelt den Kopf und zieht ein PET-Fläschchen mit Sinalco aus dem Rucksack.

Kaum hat er Platz genommen, sagt er, er sei «ganz allein» mit dem Zug von Winterthur nach Zürich gekommen. Stolz erzählt er, dass er es inzwischen auch mit seinem Geld richtig gut hinbekomme: «Ende Monat überprüfe ich den Bankauszug, und nun passiert es nicht mehr, dass ich zu viel ausgebe.» Die Sinalco habe er sich also leisten können. Er strahlt.

Übergangslos fährt er fort: Nicht so glücklich sei er, weil seine Freundin mit ihm Schluss gemacht habe. Nach einem Jahr sei sie «raus­geschlichen» und habe sich geweigert, mit ihm in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Es sei ihr alles zu viel geworden, habe sie ihm gesagt. Auch seine Kleidung habe ihr nicht so gut gefallen. Er zieht die Stirn kraus und schaut ziemlich ratlos. Zum Glück könne er zu Sylvia in die Beratung und mit ihr besprechen, wie er am schnellsten wieder eine Frau finde.

Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung haben einen schweren Stand im Leben. «Auf der gesellschaftlichen Stufen­leiter rangieren sie ganz unten», sagt Irene Müller, die zweite Co-Leiterin der Beratungs­stelle. Ausdruck davon seien auch Begriffe wie «Schwach­sinnige» oder «Idioten», mit denen die Betroffenen früher bezeichnet wurden.

Dass unsere Gesellschaft ihnen auch heute noch mit grossem Unverständnis begegnet, ja, am liebsten gar nichts mit ihnen zu tun hätte, wird auch daran deutlich, dass sich knapp 90 Prozent der Frauen für eine Abtreibung entscheiden, wenn während einer Schwanger­schaft per pränatalem Test eine Trisomie 21 festgestellt wird. Wer dennoch Ja zu einem solchen Kind sagt, berichtet nicht selten von Irritation oder regelrechter Ablehnung in seiner Umgebung: «Warum tust du dir das an?»

In der Schweiz leben rund 90’000 Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Diese ist teilweise genetisch bedingt, beispiels­weise bei einer Trisomie 21 oder dem Fragilen-X-Syndrom. Gewisse Formen von Autismus sind die Folge einer Entwicklungs­störung. Aber auch Komplikationen während der Geburt oder Unfälle können zu einer kognitiven Beeinträchtigung führen.

Die Betroffenen bekommen in nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens die Konsequenzen ihrer Beeinträchtigung zu spüren: schulisch, beruflich, beim Wohnen und beim sozialen Austausch. Kaum jemand weiss, wie man mit ihnen reden soll. Verstehen sie überhaupt etwas? Wann überfordert man sie? Können sie selbst­verantwortlich Entscheide fällen und deren Konsequenzen abschätzen? Ratlosigkeit paart sich mit dem Wunsch, rücksichts­voll zu sein. Und am Ende gehen die meisten auf Distanz.

«Da guckt niemand gern hin»

Viele Betroffene sind sozial isoliert, einsam. Jungen fehlt es an gleichaltrigen Freunden und Kolleginnen, mit denen sie sich austauschen, einen Ausflug machen oder sogar eine erste Liebes­beziehung eingehen könnten. Oft sind ihre Eltern ihre wichtigsten Bezugs­personen. Das führt dazu, dass viele nicht aufgeklärt sind. Doch auch in Heimen oder heilpädagogischen Schulen kommt die Sexual­aufklärung teilweise nur am Rande vor.

Das habe damit zu tun, dass das Thema Sexualität bei Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung ein «potenziertes Tabu» darstelle, sagt Alex Oberholzer. Er ist Film­journalist und war viele Jahre Vorstands­mitglied bei Pro Infirmis, der Dach­organisation für Menschen mit körperlichen, kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen.

«Sex wird trotz der Hyper­sexualisierung unserer Gesellschaft immer noch tabuisiert», sagt Oberholzer, der selber mit einer sichtbaren Behinderung durchs Leben geht. «Und Sex bei Menschen mit einer geistigen Behinderung mit ihrer vielschichtigen und schwer lesbaren Persönlichkeit erst recht – das führt zu einer brisanten Mischung mit geringer gesellschaftlicher Akzeptanz. Da guckt niemand gern hin, und das Thema anschneiden mag man schon gar nicht.»

Deutlich sei das zum Ausdruck gekommen, als Pro Infirmis 2003 beschloss, sogenannte Berührerinnen auszubilden, die Behinderten dabei helfen, Sinnlichkeit und Erotik zu erfahren. In der Folge ging das Spenden­aufkommen der Hilfs­organisation um rund 400’000 Franken zurück und zwang sie, sich vom Projekt zu distanzieren.

«Fangis» im Stadtpark: Ein Erwachsener mit Beeinträchtigung und ein Kind beim Spiel im Freien.
In dieser betreuten Wohnung lebt eine Mutter mit Beeinträchtigung. Ihr Kind wohnt im gleichen Haus. In einem gemeinsamen Haushalt zusammen­leben dürfen sie ohne Aufsicht aber noch nicht.

Zu den Bildern

Die Fotos zu diesem Beitrag stammen aus der Serie «benni I love» des Schweizer Fotografen Ruben Hollinger. Er porträtierte Menschen, die trotz ihrer kognitiven Beeinträchtigung Eltern geworden sind. Sie sind auf Unter­stützung angewiesen – und stellen trotzdem den Anspruch, für ihr eigenes Glück verantwortlich zu sein.

Doch auch Menschen mit einer Beeinträchtigung kommen in die Pubertät, werden geschlechts­reif, spüren die Sehnsucht nach Zärtlichkeit und den Wunsch, ihre Sexualität zu leben. Was unter solchen Umständen passieren kann, schildert Sylvia Milewski: «Bei einer 26-Jährigen mit kognitiver Beeinträchtigung wurde während einer Kontrolle in einem Spital eine Schwanger­schaft im sechsten Monat festgestellt. Sowohl die Frau als auch ihr 28-jähriger Freund, ebenfalls kognitiv eingeschränkt und alkohol­abhängig, waren total überrascht. Mangels Aufklärung war es ihnen ein Rätsel, wie es zu der Schwanger­schaft hatte kommen können.»

Als der Säugling auf der Welt war, kümmerten sich zunächst die Grosseltern mütterlicher­seits um ihn. Doch es stellte sich schnell heraus, dass sie heillos überfordert waren. Die Grossmutter, selber auch kognitiv beeinträchtigt, hatte unterschätzt, wie aufwendig die Betreuung eines Neugeborenen ist. In der Folge sei es in einer Pflege­familie platziert worden. Nachdem Sylvia Milewski das Paar aufgeklärt hatte, hätten sich beide auf eigenen Wunsch sterilisieren lassen: «Sie wollten nie wieder ein Kind haben.»

Die Sozial­pädagogin und Sexual­therapeutin Milewski hatte bereits mehrere Jahre als Ressort­leiterin Beziehung und Sexualität in den Wohnstätten Zwyssig gearbeitet, einer Institution für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Als Ansprech­partnerin für 220 Männer und Frauen hatte sie viel gelernt über die Sorgen und Nöte ihrer Klientinnen. Dann realisierte sie, dass es an einem wichtigen Angebot fehlte: einem Ort, wo diejenigen Menschen über sexuelle Wünsche, Ängste und Unsicherheiten reden konnten, die niemanden hatten.

Damit war die Idee geboren, eine Beratungs­stelle ins Leben zu rufen. Sie fand eine Partnerin in der 49-jährigen Irene Müller, Sozial­arbeiterin, Sozial­wissenschaftlerin und Dozentin. Müller liefert vor allem den theoretischen Hintergrund – zum Beispiel alle Details zur Uno-Behinderten­rechts­konvention, die 2014 auch die Schweiz ratifizierte.

Damit verpflichtet die Schweiz sich, «Menschen mit Behinderungen ein selbst­bestimmtes Leben und die volle Teilhabe in allen Lebens­bereichen zu ermöglichen». Dazu gehören auch Fragen zu Sexualität, Partnerschaft und Familie. Als Beispiele nennt Müller den Schutz vor Ausbeutung und sexueller Gewalt oder das Recht einer urteils­fähigen Person, selber zu entscheiden, ob und wie viele Kinder sie haben möchte. Um der Behinderten­rechts­konvention zu genügen, so Müller, sei es unerlässlich, dass es ein Angebot wie ihre Beratungs­stelle gebe.

Am liebsten hätte er eine hübsche Blonde, mit der er tanzen kann

Liebi+ startete Anfang 2020 als Pilotprojekt. Die Resonanz auf das neue Angebot war von Anfang an gross, obwohl die beiden Geschäfts­leiterinnen bewusst auf jede Information an die Medien verzichtet hatten: «Wir ahnten, dass auch ohne Publizität einiges auf uns zukommen könnte», sagt Milewski. Auch wenn die Pandemie die Beratungs­stelle zunächst etwas ausbremste und Beratungen vor Ort verunmöglichte, lief das Telefon heiss: «Viele Männer und Frauen mit Beeinträchtigungen litten noch mehr als sonst unter der Einsamkeit», sagt Milewski.

Seither steigt die Zahl der Beratungen stetig an, von 500 auf 600 im letzten Jahr. «Und das bei einer Klientel, die in hohem Masse auf Geduld angewiesen ist und sich sofort verschliesst, wenn der Druck und das Tempo sie überfordern. Das heisst, jede einzelne Beratung erfordert viel Zeit.»

Im Hallenbad: Eine junge Mutter und ihr Kind bei einem Ausflug mit einer Gruppe, die in betreuten Wohnungen lebt.

Dass so viele Menschen sich beraten lassen wollten, zeigte auch den Geld­geberinnen, dass sie richtig entschieden hatten. Allen voran hatten Stadt und Kanton Zürich dem Projekt von Anfang an grosse Bedeutung beigemessen. So signalisierte der Regierungsrat in einem Beschluss vom Sommer 2019 «ein über­durchschnittliches Interesse an der raschen Umsetzung des Vorhabens» und hielt fest, dass im Kanton Zürich «zwar grosser Bedarf an entsprechenden Informationen und Unter­stützung besteht, aber keine öffentlich zugängliche Einrichtung, die auf die Thematik spezialisiert ist».

Liebi+ kam also wie gerufen – der Kanton steuerte für die Pilotprojekt­phase aus dem Gemein­nützigen Fonds (vormals Lotterie­fonds Zürich) 260’000 Franken bei, die Stadt 270’000.

Rat suchen Betroffene, aber auch deren Angehörige und Fachleute. Thomas Schürch, der 43-jährige Winterthurer, möchte so gern wieder eine Freundin haben, weil es schön sei, mit einer netten Frau reden zu können. Am liebsten hätte er eine Hübsche mit blonden, kurzen Haaren, mit der er tanzen könne und – er blickt verschmitzt – die ihn küsse und mit der er schmusen könne. Er selber sei ein Fröhlicher, spiele Schwyzer­örgeli, könne stricken und häkeln und ganz gut kochen. Im Pro-Infirmis-Kurs habe er gelernt, wie man Rösti und Spiegel­eier und Hörnli mit Gehacktem zubereite. Dazu sei er gut im Lesen und finde unterwegs alle Adressen ganz schnell. Sylvia Milewski nickt: «Thomas hat wirklich viel zu bieten.»

Der Wunsch nach einem Partner stehe ganz oben auf der Themen­liste ihrer Klientel, sagt die Beraterin. Sie sei froh, gebe es ein paar Angebote, die sie empfehlen könne. Zum Beispiel die Kontakt­inserate im Infoheft von Insieme Zürich, einer Organisation, die Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung und ihre Angehörigen unterstützt. Die mit Fotos versehenen kurzen Texte seien «extrem beliebt und werden von ganz vielen Leuten gelesen».

Daneben gebe es mit «Dein Date» eine Online-Partner­börse, die sich ausdrücklich an Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen richte. Bei der «Schatzkiste» der Zürcher Wohn­stätten Zwyssig könnten Partner­wünsche auch telefonisch angemeldet werden. Sie empfehle ihren Klienten auch, auszugehen, um andere Leute kennen­zulernen. Thomas Schürch nickt. Er besuche oft Veranstaltungen wie die Schlager-Stubete oder die von Insieme organisierte Fasnachtsparty.

Hat es dann einmal gefunkt, passiert es nicht selten, dass Paare gemeinsam in die Beratung kommen. Die einen wissen nicht, wie sie einen Streit wieder schlichten können. Andere fragen, was sie machen sollen, wenn es Probleme beim Geschlechts­verkehr gibt. Dritte kommen mit der Verhütung nicht klar, weil die Frau die Pille nicht verträgt und er nicht recht weiss, wie er Kondome benutzen muss.

Milewski steht auf und holt einen Karton, in dem Holz­penisse in unter­schiedlichen Grössen liegen: «Diese Modelle haben wir auch schon zusammen angeschaut, um die richtige Grösse heraus­zufinden, gäll Thomas?» Er nickt.

Gerade die Empfängnis­verhütung ist bei Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung ein wichtiges Thema, das vor allem deren Angehörige umtreibt: «Oft haben die Eltern grosse Angst, dass ihre Tochter schwanger wird oder ihr Sohn ein Kind zeugt.» Wer soll das Baby betreuen, das ja vielleicht auch behindert sei, würden sie fragen. In der Ahnung, dass es an ihnen hängen bleiben könnte. Ihre Tochter oder ihr Sohn sei dazu jedenfalls nicht in der Lage, nicht zuletzt, weil es auch an staatlicher Unter­stützung fehle. Da prallen heftige, oft unvereinbare Bedürfnisse aufeinander.

Will ich das wirklich?

Die Zürcher Regisseurin Stina Werenfels unterstützt die Beratungs­stelle als Patin ehrenamtlich. Milewski bezeichnet Werenfels als «grossartige Botschafterin für unsere Anliegen». Dies, weil die Regisseurin in ihrem Film «Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern» bereits 2015 die Sexualität einer 18-Jährigen mit kognitiver Beeinträchtigung ins Zentrum gerückt habe und damit fachlich versiert sei wie wenig andere.

Die Regisseurin konfrontiert in ihrem Spielfilm Dora, die Protagonistin, mit allen Unwägbarkeiten der Kinder­frage und zeigt das schier unlösbare Dilemma, in dem sich die Beteiligten befinden.

Auf eine Abtreibung, die Doras Mutter veranlasst und durchsetzt, folgen verzweifelte Versuche, die Verhütung zu organisieren. Doch Dora weigert sich, die Pille zu schlucken, und reisst sich den Hormon­ring eigenhändig aus dem Unterleib. Prompt wird sie wieder schwanger, worauf ihre Mutter, die am Rande eines Nerven­zusammenbruchs steht, sie in eine betreute Wohn­gemeinschaft bringt. Der Vater des Kindes stiehlt sich davon und überlässt Dora ihrem Schicksal. Nach der Geburt steht die Frage ungelöst im Raum, wer denn nun das Baby betreuen wird.

Sylvia Milewski sagt, im Alltag brauche es in erster Linie Verhütungs­mittel, die sich einfach anwenden lassen. Sie kramt eine Liste hervor und zählt auf: Verhütungs­stäbchen, die sich eine Frau für die Dauer von drei Jahren unter die Haut implantieren lassen könne. Hormon­pflaster, die Pille, das Kondom. Eine Sterilisation sei heute ohne die Zustimmung der Beteiligten, Gott sei Dank, kein Thema mehr.

Mit der Verhütung allein sei es allerdings nicht getan, sie müsse auch den Kinder­wunsch vieler ihrer Klientinnen ernst nehmen. Milewski zeigt eine computer­gesteuerte Puppe, mit der lebensnahe Situationen durchgespielt werden können. So schreit das Baby, wenn es Hunger hat, unter Bauchweh leidet oder berührt werden möchte. Oder es signalisiert, dass es die Windeln voll hat.

Auf diese Art, so Milewski, könnten sich ihre Klientinnen konkreter mit ihrem Kinder­wunsch und seinen Folgen auseinander­setzen. Will ich das wirklich? Komme ich mit all diesen Heraus­forderungen klar? Viele schätzten diesen Anschauungs­unterricht, weil er ihnen deutlich mache, was mit einem Baby auf sie zukomme. Einzelne würden sich im Anschluss eine lebensechte Puppe kaufen, zu der sie mitunter eine erstaunlich intensive Beziehung entwickelten. Sie wechseln ihre Windeln, kleiden sie an, tragen sie herum, baden sie und geben ihr einen Namen.

Eine alleinerziehende Mutter mit ihrem Kind. Sie leben zusammen in einer betreuten Wohnung in einer Einrichtung in Deutschland, die Mütter mit kognitiven Beeinträchtigungen unterstützt, um das Zusammenleben der Familie zu ermöglichen.

Wenden sich Fachleute an Liebi+, geht es manchmal auch um sexuelle Übergriffe, die in Wohn- und Betreuungs­institutionen für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen über­durchschnittlich häufig vorkommen. Wie kann ich Betroffene befähigen, künftig besser Grenzen zu setzen? Wie lernen sie, früher «Stopp!» beziehungs­weise «Nein!» zu sagen?

Ebenso folgenschwer und komplex ist die Tatsache, dass gerade Männer mit kognitiver Beeinträchtigung häufig wegen Verdachts auf ein Sexual­delikt angezeigt werden. Dazu gehört der junge Mann, der auf einer Parkbank gut sichtbar für alle onaniert. Oder der andere, der in der Wasch­küche seines Wohn­hauses Frauenslips entwendet. Oder der dritte, der sich an einem Nachmittag einen Kinderfilm im Kino anschaut, dabei selbstvergessen an seiner Hosentasche herumfingert, sein Handy herausholt und dieses zuletzt noch mit einem Taschen­tuch putzt. Das Aufsichts­personal ist alarmiert und schaltet die Polizei ein. Ist das ein Pädophiler, der sich ins Kinder­programm geschlichen hat? Der Verdacht stellt sich letztlich als unbegründet heraus.

Milewski sagt, dass fast alle ihre Klienten schon einmal angezeigt worden seien, oft auch mehrmals. Sie erklärt, dass es viel Fach­wissen brauche, um das teilweise irritierende, ja verstörende Verhalten dieser Männer zu verstehen. Natürlich sei es ihr Ziel, den verantwortungs­bewussten Umgang mit der Sexualität zu fördern. «Aber ich frage mich schon, wie Sexual­verhalten erlernt werden soll, wenn die Sexualität der Betroffenen in so hohem Masse tabuisiert wird.» Unter diesen Umständen könne sie verstehen, dass die Lust so gross werde, dass sie seltsame Blüten treibe.

Von der Klientin zur Peer

Umso wichtiger seien Beratungs­gespräche, in denen man den einzelnen Personen verständlich aufzeige, dass ihr Verhalten andere, aber auch sie selber schädige. Milewski verwendet dabei oft sogenannte leichte Sprache, die aus kurzen Sätzen und unkomplizierten Wörtern besteht. Diese ergänzt sie teilweise mit Bildern oder kleinen Film­ausschnitten, um zu veranschaulichen, was sie meint. Ist sie unsicher, stellt sie eine Frage immer wieder in unterschiedlicher Form. Betreue sie einen Klienten über einen längeren Zeitraum, erleichtere ihr das die Einschätzung.

So erklärt Thomas Schürch im Gespräch sehr überzeugend, dass er sich Kinder wünsche. Milewski schaut ihn verwundert an und erinnert ihn daran, dass er bisher immer betont habe, wie sehr er sich von dem Geschrei und der grossen Belastung als Vater überfordert fühlen würde. Er lacht und räumt ein, dass sie recht habe. Später erklärt sie, dass er offenbar das Gefühl hatte, er erfülle mit seiner Antwort irgendwelche an ihn gestellte Erwartungen: «Er wollte uns gefallen.» Das sei ein Verhalten, das sie häufig antreffe und deuten können müsse.

Bei der Kommunikation helfen auch Peers. Die Beratungs­stelle beschäftigt drei, darunter die 29-jährige Suad Dahir. Sie hat Sylvia Milewski ursprünglich als Klientin kennen­gelernt und bei ihr Unter­stützung in einer schwierigen Beziehung gesucht. Dahir, die von sich sagt, sie habe eine Lern­schwäche, keine kognitive Beeinträchtigung, drückt sich differenziert aus und verfügt über ein spürbares Kommunikations­talent.

Milewski hat sie im Laufe der Zeit für Beratungs­aufgaben geschult und in Tandem-Gesprächen mit Rat­suchenden eingesetzt. Mittlerweile hilft sie auch, eine Frauen­gruppe zu leiten und eine Single­gruppe aufzubauen. Milewski schätzt ihre spezifische Kompetenz: «Suad kommt sehr gut an bei unserer Klientel, weil sie als eine von ihnen wahrgenommen wird, mit der man auf Augenhöhe kommunizieren kann.» Weil die Leute ihr schnell vertrauten, wirke sie als Türöffnerin.

Trotz der Unterstützung durch die Peers drehen die beiden Co-Leiterinnen mit ihren insgesamt 100 Stellen­prozenten längst im roten Bereich. Die Über­stunden hätten bedrohliche Ausmasse angenommen; gleichzeitig müssen zahlreiche Leute auf die Warteliste gesetzt werden, was ihnen nur schwer zu vermitteln ist: «Sie haben ein Problem oder stecken gar in der Krise – da duldet es im Grunde keinen Aufschub.»

«Ständig fühlte ich mich schuldig»

Dazu kommt, dass der Kanton das Angebot ab 2023 nicht mehr finanziell unterstützt. Und das, obwohl der Bedarf gemäss den beiden Geschäfts­leiterinnen ausgewiesen ist, ein Evaluations­bericht positiv ausgefallen ist und Fach­organisationen das Angebot als wichtig taxieren. Trotzdem bestätigt der Kanton auf Anfrage, er rechne damit, dass die Beratungs­stelle kommendes Jahr ohne seine finanzielle Unter­stützung über die Runden komme. Milewski winkt ab: «Wir haben von Anfang an klar kommuniziert, dass Liebi+ eine öffentliche Aufgabe erfüllt und damit auch auf entsprechende Gelder angewiesen ist.»

Milewski und Müller betonen, dass sie bereits bei der ersten Gesuchs­eingabe 2018 kommuniziert hätten, dass Liebi+ nur betrieben werden könne, wenn Stadt und Kanton als Geld­gebende mit dabei seien. Immerhin habe die Stadt Zürich signalisiert, dass sie die Beratungs­stelle weiterhin unterstützen werde. Doch um den Bedarf des Jahres 2023 decken zu können, betreiben die Geschäfts­leiterinnen aktuell ein intensives Fundraising bei verschiedenen Stiftungen – was viel Zeit kostet, die dann wieder bei der Beratung der Klientinnen fehlt.

Ein Vater und seine Tochter spielen in ihrem Wohnzimmer. Ihre Wohnung befindet sich in einer Institution, die Eltern begleitet und unterstützt. Dass beide Elternteile wie in dieser Familie zusammen­leben, ist in solchen Institutionen eher die Ausnahme.

Stina Werenfels kennt solche Finanzierungs­probleme. Sie hatte ursprünglich 3,6 Millionen Franken für die Realisierung ihres Films budgetiert. Weil sie aber nicht genug Geld sammeln konnte, musste sie das Budget auf 1,3 Millionen Franken reduzieren. Weder der Bund noch Zürich mochten einen Film unterstützen, der im besten Fall ambivalente Gefühle auslöst, unter Umständen aber auch Ablehnung und Wider­willen: «Es kam mir vor wie eine Abtreibung des ungeliebten Themas», sagt Werenfels.

Allerdings hatte sie sich längst in ihren Film­stoff «verliebt», wie sie sagt, und sogar ein Praktikum in einer Wohn­einrichtung für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung absolviert. Sie war also bereit, auch mit einem Minibudget zu drehen. Dass das Thema tatsächlich sperrig ist und Irritationen auslöst, spürte sie während der gesamten Dreh­arbeiten. Immer wieder quittierten Mitarbeiterinnen ihren Job, so zum Beispiel ein Film­techniker. «Ständig fühlte ich mich schuldig, weil ich bei den Leuten so grosses Unbehagen auslöste, und meinte, mich rechtfertigen zu müssen», erinnert sich Werenfels. Das habe sie alles extrem viel Kraft gekostet.

Die Kritiken seien dann erfreulich positiv ausgefallen, auch die Fachwelt habe anerkennend reagiert. Das hat Werenfels gefreut: «Denn ‹Dora› behandelt ein Thema, das nicht unter den Tisch gewischt werden darf.»

Thomas Schürch ist nach wie vor auf der Suche nach einer Freundin. Inzwischen hat er gemeinsam mit Sylvia Milewski eine Art Kontakt­anzeige verfasst, die er, versehen mit einem Foto, an seinem Arbeitsort und in verschiedenen Freizeit­stätten wie dem Insieme-Treff aufgehängt hat. Beharrlich verfolgt er sein Ziel. Am Ende des Gesprächs fragt er noch, ob er seine Handy­nummer hinterlegen könne, falls sich eine Interessentin auf diesen Artikel melden würde. Sie ist notiert.

Zur Autorin

Barbara Lukesch arbeitet seit vielen Jahren als freie Journalistin und Autorin. Sie hat zahlreiche Bücher geschrieben, zuletzt «‹Peter Schneider, wie wird eine Ehe schön?› Gespräche über Partnerschaft und Liebe». Daneben ist sie Dozentin an verschiedenen Fachhoch­schulen.

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