Von England nach Ruanda – der britische Justizthriller um Asylsuchende
Mit dem «Rwanda asylum plan» will die britische Regierung «illegale Migranten» nach Afrika abschieben. Doch ist diese Politik des Offshoring von unerwünschten Menschen überhaupt rechtmässig?
Von Yvonne Kunz, 04.01.2023
Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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Falls Sie im Lead über die «illegalen Migranten» gestolpert sind – der Begriff gehört ja eigentlich in den lexikalischen Giftschrank, kein Mensch ist illegal –, dann ist das gut so. Eine nachvollziehbare Reaktion.
Man kann leicht auch von «papierlosen Geflüchteten» sprechen, von «irregulärer Migration» oder von «Asylsuchenden». Doch ist eine neutrale Sprache in der Debatte, um die es hier geht, nicht illusorisch? Und führt die Vermeidung von politisch toxischen Wörtern nicht dazu, dass grundsätzlichere Fragen gar nicht erst besprochen werden?
Zum Beispiel, ob es nicht Rechtfertigungsgründe dafür gibt, dass Menschen mit ihrem Grenzübertritt das Gesetz brechen? Als Widerstand gegen die globale Ordnung? Und ist dieser Widerstand nicht zuzugestehen – den Menschen im Globalen Süden, in den Ex-Kolonien, den Weltregionen, wo Menschenrechte durch Globalisierung, Klimawandel und vieles andere verletzt werden?
Oder anders und konkret gefragt: Ist das, was derzeit in Grossbritannien mit «illegalen Migrantinnen» geschieht, hinnehmbar? Menschenwürdig?
Ort: High Court of Justice, London
Zeit: Verhandlungen vom 5. bis 9. September 2022 und vom 12. bis 14. Oktober 2022, Urteil vom 19. Dezember 2022
Fall-Nr.: [2022] EWHC 3230
Thema: Ausweisung nach Ruanda
Nur schon das Lesen des Rubrums, dieser Übersicht ganz am Anfang von Gerichtsdokumenten, wo steht, wer und warum an welchem Gericht gegen wen klagt, macht in diesem Fall schwindlig.
Es ist «THE KING» auf Antrag von AAA, AHA und AAM aus Syrien, AS, AT und RM aus dem Iran, ASM und NSK aus dem Irak sowie HTN aus Vietnam, SAA aus dem Sudan, AB aus Albanien und mit ihnen im Namen der Grenzbeamten die Staatsangestellten-Gewerkschaft PCS sowie die Flüchtlingsorganisationen Asylum Aid, Detention Action und Care4Calais.
Das heisst jetzt nicht, kleine Randbemerkung, dass König Charles III. himself das Gericht angerufen hätte, weil ihm die Asylpolitik seiner Regierung missfällt. Es bedeutet, dass vor einem Gericht eines Königreichs verhandelt wird, genau gesagt an der King’s Bench Division. Aber, Funfact: Charles habe den Rwanda asylum plan in privaten Gesprächen als «eine erschreckende Idee» bezeichnet.
Das war im Frühling, kurz nachdem die britische Regierung ihre neue Politik des Offshoring von «illegalen Migranten» ankündigt hatte. Da war Charles noch nicht mal König. Und seither gings auf seiner Insel drunter und drüber.
Was dieser Fall sehr schön illustriert. Aber das wird erst etwas später klar.
Wir sind bei der Rubrum-Lektüre auch erst bei der Beklagten angelangt: The Secretary of State for the Home Department, also der Innenministerin. Das war zum Klagezeitpunkt noch die Konservative Priti Patel. Sie hat am 14. April 2022 einen Deal mit Ruanda unterzeichnet: Für 120 Millionen Pfund übernimmt das Land im Rahmen einer Migrations- und Entwicklungspartnerschaft ab sofort Menschen, die «auf gefährlichem oder illegalem Weg oder unnötigerweise in das Vereinigte Königreich einreisen».
Also die meisten Asylsuchenden.
Die Zahl dieser illegal people, wie der damalige Premier Boris Johnson sie nannte, stieg in den letzten Jahren steil an. Mehr als 44’000 sind 2022 in kleinen Booten über den Ärmelkanal nach Grossbritannien gelangt, so viele wie noch nie. Konservative nennen es eine Invasion, NGOs eine Tragödie – immer wieder ertrinken oder erfrieren Menschen bei der Überfahrt.
Jene, die es schaffen, sollen nach dem Willen der britischen Regierung möglichst umgehend nach Ruanda weiterreisen und dort die Abwicklung ihres Asylverfahrens abwarten. Mit dem Geld, das die Briten in die ostafrikanische Republik überweisen, würden auch Bildungsmöglichkeiten finanziert. Die Ausgeschafften dürften dort sogar arbeiten. Ruanda sei eines der sichersten Länder der Welt und geniesse globales Ansehen für seine Willkommenskultur, sagte Johnson.
Und falls sie kein neues Leben in Afrika aufbauen wollten, könnten die Migrantinnen von der ruandischen Hauptstadt Kigali aus dorthin zurückkehren, wo sie herkamen, oder versuchen, sich sonst wo niederzulassen. Einfach nicht in Grossbritannien, denn, so Johnson: «Unser Mitgefühl mag grenzenlos sein, aber unsere Fähigkeit, Menschen zu helfen, ist es nicht.» Das britische Innenministerium gibt an, jährlich 1,5 Milliarden Pfund für das Asylsystem auszugeben, täglich mehr als 4,7 Millionen Pfund allein für Hotels.
Die damalige Innenministerin Priti Patel beraumte ohne Verzug den ersten Ausschaffungsflug an, für den 14. Juni 2022. Also nur zwei Monate nach Unterzeichnung des Abkommens.
Über hundert Migranten erhielten in den folgenden Wochen den Abschiebebescheid, die removal order.
Und das juristische Tauziehen begann.
Season 1 eines Justizthrillers
Nach den Abschiebeentscheiden hagelte es Beschwerden und Interventionen. In den einzelnen Fällen und gegen den Rwanda asylum plan als Ganzes. Die Flüchtlingsorganisationen und die Gewerkschaft der Grenzbeamtinnen verlangten vom Innenministerium, den Plan klar zu definieren und zu veröffentlichen – vor dem ersten Flug.
Per Ende Mai sollten noch 99 Migranten ausgeschafft werden. Einige Beschwerden der Abzuschiebenden waren also bereits gutgeheissen worden.
Asylum Aid und eine weitere NGO namens Freedom from Torture ersuchten den High Court um eine einstweilige Verfügung: Es sollen keine Flüge durchgeführt werden dürfen, bis die Rechtmässigkeit der Abschiebepolitik durch ein Gericht festgestellt sei. Erfolglos.
Am 10. Juni 2022 hiess High-Court-Richter Jonathan Swift den geplanten Flug gut. Hauptgrund: das überwiegende öffentliche Interesse an dessen Durchführung, selbst wenn die Gesetzmässigkeit des Ruanda-Plans noch nicht gerichtlich überprüft sei. Sollte er sich später als unzulässig erweisen, könnten die Abgeschobenen immer noch zurückgeholt werden.
Zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der Abzuschiebenden auf etwa 30 geschrumpft. Das Innenministerium hob die Abschiebungsentscheide nun reihenweise wieder auf.
Noch 7 Menschen sollten an Bord, als das Berufungsgericht drei Tage später, am Vorabend des Flugs, grünes Licht gab.
Der Supreme Court, also der oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs, hörte den Fall gar nicht erst an und erteilte auch keine Prozessbewilligung für eine erneute Beschwerde am Berufungsgericht.
Öffentliche Empörung brandete auf. Laute Proteste vor den Gerichten und dem Innenministerium. Kirchenoberhäupter kritisierten die Pläne als beschämend. Uno-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi nannte sie «absolut falsch». Er befürchtet «einen gefährlichen Präzedenzfall». Wenn Grossbritannien sich von seiner Pflicht zur Hilfe freikaufen könne, würden andere Länder dies bald auch tun – was seine Arbeit erschwere. Ruanda verfüge nicht über die Strukturen für faire und effiziente Asylabklärungen und habe das Uno-Flüchtlingshochkommissariat bereits um Hilfe gebeten.
Deshalb ist auch der Uno-Flüchtlingskommissar Partei in dieser Sache, im Rubrum verzeichnet als «Intervener».
Am Abflugtag hatte das Anwaltsteam von Duncan Lewis Solicitors, das mehrere der abzuschiebenden Personen vertritt, in allen ihren Fällen die Aufhebung der Abschiebeentscheide erwirkt – mit einer Ausnahme. Im Namen dieses Betroffenen ersuchten die Anwältinnen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) um eine einstweilige Verfügung.
Weil der EGMR ein Organ des Europarats ist, eine von der EU getrennte Institution, der das Vereinigte Königreich auch nach dem Brexit weiter angehört, muss dieses die Entscheidungen des EGMR befolgen.
Und der EGMR erliess die einstweilige Verfügung.
Andere Anwältinnen, die die letzten 6 Menschen vertraten, die am Abend des 14. Juni 2022 das Flugzeug besteigen sollten, konnten weniger als zwei Stunden vor dem Abflug beim EGMR beantragen, dass der Entscheid auch auf ihre Fälle angewendet wird. Das Flugzeug blieb am Boden.
Was uns ein letztes Mal zurück zum Rubrum führt: Über 40 Anwältinnen sind in den Fall involviert.
Season 2: Die Marie Kondō der Paragrafen
Im Herbst 2022 ging die Angelegenheit in die zweite Runde: Nun lag es an den zuständigen Richtern Lord Justice Lewis und Mr Justice Swift des High Court, die erste richterliche Überprüfung der Rechtmässigkeit des Rwanda asylum plan vorzunehmen.
Kein einfaches Unterfangen. Hier zeigt sich das Abbild der chaotischen britischen Politik. Zwischen den Zeilen des 140-seitigen Urteils ist stellenweise das Seufzen einer Justiz zu hören, die um Klarheit ringt. Seitenlang beschäftigen sich die Richter mit der Frage: What are the issues?
Was genau ist Thema dieses Verfahrens?
Nach britischen Verfahrensregeln müssen die Parteien dem Gericht sogenannte skeleton arguments einreichen und untereinander austauschen: Rahmenargumente mit einem kurzen Überblick der strittigen Punkte.
Stattdessen ist im Urteil nachzulesen, wie es im Vorfeld der Verhandlungen zu einer ausufernden Papierschlacht kam.
Die beiden High-Court-Richter erinnern an die Vorgabe der britischen Strafprozessordnung (Practice Direction 54A), wonach Fakten und Klagegrundlagen klar und konzis darzulegen seien. Keine der Rechtsschriften erfülle diesen Standard, stellen sie fest. Alle Parteien hätten krass überlange Eingaben eingereicht, in denen sich ähnliche Argumente immer leicht anders wiederholen, sich Themen überlappen und sich die Klagegründe immer wieder kreuzen.
«Overall, it has become very easy to miss the wood for the trees», merken die Richter an: Es sei sehr einfach, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen.
Die Richter müssen sich also erst Klarheit verschaffen, über welche Fragen sie eigentlich zu entscheiden haben. Sie werden zur Marie Kondō der Paragrafen (die japanische Bestsellerautorin schreibt übers Aufräumen und Ordnungmachen), beginnen also, die Fragen zu sortieren, zunächst in zwei Kategorien:
Erstens jene, die übergeordnet sind: War das Vorgehen der Innenministerin bei der Einführung der neuen Abschiebepraxis rechtsfehlerhaft?
Zweitens jene Fragen, die sich darum drehen, ob die einzelnen Verfahren korrekt gelaufen sind.
Die Richter ordnen die relevanten Präzedenzfälle ein, zeichnen Entscheidungswege im Asylverfahren und in der Gesetzgebung nach, erläutern die Rechtsgrundlagen – es sind viele und viele unterschiedliche: die britischen Immigration Rules, die Uno-Flüchtlingskonvention, einzelne Anhänge zu zig Verordnungen. Viele davon sind überdies neu, eingeführt mit dem Brexit im Januar 2021.
Sie kommen schliesslich auf 12 übergeordnete Fragen. Zusammengefasst lauten sie wie folgt:
Ist Ruanda ein sicheres Drittland und hat das Innenministerium dies ausreichend belegt? Ja, sagen die Richter.
Gewährleistet der Deal, dass dort faire Asylverfahren durchgeführt werden können? Ja, finden Lord Lewis und Mr Swift. Seit Verfahrensbeginn habe das Innenministerium zusätzlich Überprüfungen durchgeführt und den Deal mit Ruanda weiter konkretisiert.
Hat die Innenministerin bei der Einführung des Ruanda-Plans Gesetzesbestimmungen falsch ausgelegt oder ihre Kompetenzen überschritten? Nein – die Richter finden keine Verfahrensfehler.
Ist es verhältnismässig, wenn der Straftatbestand der illegalen Einreise die Abschiebung nach Ruanda zur Folge hat? Ja, urteilen die Richter.
Sind die Kriterien für den Abschiebeentscheid unfair, weil die Entscheidungsprozesse unklar sind, der Zugang zu Anwältinnen beschränkt und die Fristen zu kurz? Nein, nein und nein, die Richter sehen das Recht auf ein faires Verfahren nirgends verletzt.
Verstösst der Ruanda-Plan gegen beibehaltenes EU-Recht, gegen die Flüchtlingskonvention und gegen Datenschutzbestimmungen? Nein, das Gericht sieht keine Verstösse, weder gegen internationales Recht noch gegen britische Verwaltungsbestimmungen.
So.
Aufgeräumt.
Alle übergeordneten Beschwerden der Klägerinnen bezüglich der britischen Asylpolitik werden abgeschmettert.
Laut den Richtern hat das zuständige Innenministerium bei der Einführung des Rwanda asylum plan keine juristischen Fehler gemacht. Er ist rechtmässig.
Nicht jedoch dessen Umsetzung.
Denn die Richter heissen nun sämtliche individuellen Beschwerden gegen die Abschiebung nach Ruanda gut. Das Innenministerium habe in keinem einzigen der Fälle die Umstände der auszuschaffenden Person ausreichend geprüft.
Es ist ein merkwürdig ordentliches Urteil in einer sehr messy Sache.
Season 3: Folgt demnächst
Es gab die Ansicht, der Rwanda asylum plan sei vor allem ein billiger Stunt. Ein Ablenkungsmanöver, mit dem Boris Johnson als Premier vom Chaos seiner Tory-Partei ablenken wollte. Oder Aktionismus der «Get Brexit done»-Regierung, deren zentrales Versprechen die Rückerlangung der Kontrolle über die Grenzen war.
Aktuell ist Suella Braverman Innenministerin, bereits zum zweiten Mal. Ihre erste Amtszeit dauerte sechs Wochen, dann wurde sie von der Kurzzeit-Premierministerin Liz Truss abgesetzt, der aktuelle Premierminister Rishi Sunak hievte sie zurück auf den Posten. Nun träumt sie öffentlich vom Tag, an dem endlich die Flugzeuge in Richtung Ruanda abheben.
Aber so schnell wird Ministerin Braverman kein nächstes Abflugdatum verkünden, auch sie muss einräumen: Es wird noch eine lange juristische Auseinandersetzung geben. Denn bald wird sich das Berufungsgericht mit dem Fall befassen. Mal sehen, ob es nicht die schöne Ordnung der ersten Instanz über den Haufen werfen wird.
Illustration: Till Lauer