Raus aus der Teufels­kreis-Ökonomie

Warum die Wirtschafts­wissenschaften einen umfassenderen Begriff von Arbeit benötigen. Weshalb mehr Markt nicht immer die richtige Antwort ist – und manchmal genau die falsche.

Von Peter Ulrich und Werner Vontobel, 02.01.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
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Man at work: Abfallentsorgung in Zürich. Die Bilder zu diesem Beitrag stammen aus der Serie «Men at Work» des Fotografen Marvin Zilm. Marvin Zilm/13 Photo

Ein neuer Trend wird in allen Medien debattiert: Die Generation Z, also die um die letzte Jahrhundert­wende herum geborene, mehrheitlich im Wohlstand aufgewachsene Alters­gruppe, flüchtet vor dem Leistungs­druck der heutigen Arbeits­welt. Sie will zunehmend nur noch in Teilzeit­pensen arbeiten. Wer im Job wenig Erfüllung findet und es sich leisten kann, reduziert immer öfter seine Arbeits­zeit oder steigt gleich ganz aus. Nach den offenbar nicht nur schlechten Erfahrungen im Corona-Homeoffice streben viele Beschäftigte nach mehr Selbst­bestimmung und Selbst­findung.

Repräsentativ belegt wird das vom «Global Workforce Hopes and Fears Survey 2022»-Bericht von PricewaterhouseCoopers mit mehr als 52’000 befragten Arbeits­kräften in 44 Ländern. In den USA macht der Trend unter dem Schlag­wort The Great Resignation die Runde. Besonders ausgeprägt ist dieser Trend gemäss einer neuen Studie des Bundesamts für Statistik in der Schweiz.

Arbeitgeber und Ökonominnen «warnen» unisono vor den Gefahren dieser Entwicklung: Sie akzentuiere den Fachkräfte­mangel, gefährde die Alters­vorsorge und mache die öffentlichen Investitionen in die Ausbildung der Arbeits­kräfte unrentabel, so etwa kürzlich Bildungs­ökonom Stefan Wolter.

Dass die Arbeit­geberinnen in Sorge sind, kann man verstehen. Aber wieso teilen auch die meisten Ökonomen diesen Standpunkt? Warum hört man von ihnen kaum je Überlegungen dahin gehend, dass die Flucht in die Teilzeit­arbeit das Symptom einer überholten Arbeits­politik sein könnte – einer Politik, die den anhaltenden Produktivitäts­fortschritt fast ausschliesslich in Form von wachsendem Konsum und höheren Unternehmens­gewinnen zu nutzen trachtet?

Das kommt daher, dass die meisten Ökonomen kraft ihrer Ausbildung zwei entscheidende Dinge nicht sehen können oder wollen.

Erstens blenden sie die Tatsache aus, dass wir produktive, bedürfnis­befriedigende Tätigkeiten nicht nur gegen Geld für Fremde ausüben, sondern seit jeher auch unentgeltlich für uns selbst und unsere Angehörigen, für Nachbarinnen und Bekannte. Die Missachtung der nicht monetären Care-Ökonomie macht sich hier bemerkbar.

Zweitens übersehen sie, dass Arbeit nicht nur der Produktion dient, sondern auch der sozialen Integration. Im Folgenden erläutern wir, worin sich dieser blinde Fleck der (Mainstream-)Ökonominnen symptomatisch zeigt, worauf er beruht und welche neuen Perspektiven und Frage­stellungen sich ergeben, wenn wir den Versuch machen, die Ökonomie umfassender und realitäts­gerechter zu verstehen.

Zu den Autoren

Peter Ulrich, Dr. rer. pol., war ab 1987 erster Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschafts­ethik an der Universität St. Gallen (HSG) sowie ab 1989 Leiter des dort von ihm gegründeten Instituts für Wirtschafts­ethik. Er entwickelte die «Integrative Wirtschafts­ethik. Grundlagen einer lebens­dienlichen Ökonomie», die als Buch in deutscher, englischer und spanischer Sprache vorliegt.

Werner Vontobel, lic. rer. pol., Ökonom und Wirtschafts­journalist, etwa für «Tages-Anzeiger», «Weltwoche» und «Blick». Langjähriges Mitglied der Chef­redaktion des Schweizer Wirtschafts­magazins «Cash». Autor zahlreicher Bücher, darunter «Die Wohlstands­maschine. Das Desaster des Neoliberalismus» (1998) und «Arbeitswut. Warum es sich nicht lohnt, sich abzuhetzen und gegenseitig die Jobs abzujagen» (2008, mit Philipp Löpfe).

Wie nutzen wir den Produktivitäts­fortschritt?

Zunächst einmal ist es auch in der herkömmlichen ökonomischen Logik sinnvoll, den volks­wirtschaftlichen Produktivitäts­gewinn wenigstens teilweise zu einer Senkung der Normal­arbeitszeit zu nutzen, so wie wir das bis in die 1970er-Jahre erfolgreich getan haben. Die politische Leitidee sollte heute mehr denn je lauten: reduzierte Erwerbs­arbeit für alle – bei Mindest­löhnen, von denen es sich ohne sozial­staatliche Aufstockung anständig leben lässt. Das wäre sinnvoller als individuelle Teilzeit­pensen, die sich nur diejenigen leisten können, die genug verdienen für eine ausgewogenere Lebensform.

Können wir uns eine generelle Verkürzung der Normal­arbeitszeit aber auch volks­wirtschaftlich leisten – oder sollten wir sie uns sogar leisten? Die Fakten sprechen dafür: In der Schweiz stieg gemäss dem Bundesamt für Statistik die Arbeits­produktivität in den 25 Jahren von 1995 bis 2019 insgesamt, über alle Wirtschafts­sektoren, um immerhin etwa 40 Prozent, also um etwa 1,25 Prozent pro Jahr. Demgegenüber ist die tatsächliche Jahres­arbeitszeit pro erwerbstätige Person zwischen 2010 und 2020 nur um 7,2 Prozent gesunken, bis 2019 (ohne den Corona-Effekt) sogar nur um 3,9 Prozent. Und auch dies fast nur aufgrund des Trends zur Teilzeitarbeit – bei nahezu gleich bleibender Normal­arbeitszeit.

Weil die Normal­arbeitszeit kaum noch reduziert wurde, hat sich der Segen des Produktivitäts­gewinns in den Fluch der stetig drohenden Arbeits­losigkeit verwandelt. Arbeits­losigkeit bedeutet Einkommens­mangel, und dieser ist für die Betroffenen verheerend in einem Wirtschafts­system, das auf die Versorgung der Menschen über den Markt setzt.

So hat sich in die Wirtschafts­politik eine fatale Ziel-Mittel-Verkehrung eingeschlichen: Wir müssen immer mehr konsumieren, damit mehr Erwerbs­arbeit geleistet werden kann, statt dass alle weniger arbeiten, sobald unsere materiellen Bedürfnisse hinreichend, zugleich aber umwelt- und klima­verträglich erfüllt sind.

Bei unveränderten Arbeitszeiten muss der Gesamt­konsum proportional zur Produktivität steigen. Dies ist jedoch aufgrund der sehr ungleich verteilten Einkommen kaum möglich: Im unteren Bereich des Einkommens­spektrums müssten die Löhne deutlich stärker als die Produktivität steigen, um die abnehmende Konsum­neigung derjenigen zu kompensieren, die schon alles haben (und zusätzliche Mittel lieber vermögens­bildend anlegen).

Wirtschaftlich starke Länder wie Deutschland oder die Schweiz versuchen, die inländische Konsum­lücke im Ausland auszugleichen – durch hohe Export­quoten. Das so bezeichnete Verhältnis der Ausfuhr von Waren und Dienst­leistungen zum Brutto­inland­produkt hat 2021 in Deutschland etwa 47 Prozent und in der Schweiz sogar fast 70 Prozent erreicht. Im internationalen Standort­wettbewerb gerät die Steigerung der Exporte mit der im Inland eigentlich erforderlichen Lohn­steigerung allerdings in Konflikt.

Realpolitisch sitzt dabei die Export­wirtschaft am längeren Hebel. Infolge­dessen setzte die Wirtschafts­politik allzu lange einseitig darauf, «Arbeits­plätze zu schaffen» durch die relative oder sogar absolute Verbilligung der Arbeit. Das entspricht dem standard­ökonomischen Rezept der neoliberalen «Angebots­politik».

Besonders in Deutschland sollte der Niedriglohn­sektor zum Auffang­becken für die Arbeits­losen werden: Sozial ist, was Arbeit schafft, egal wie und wie schlecht bezahlt. In der resultierenden Armuts­falle des deutschen Niedriglohn­sektors mit Stunden­löhnen von weniger als zwei Dritteln des Median­lohns (das heisst des mittleren Stunden­lohns: Die eine Hälfte der Erwerbs­tätigen erhält mehr, die andere Hälfte weniger) sind im Jahr 2011, dem Höhepunkt dieser Fehlentwicklung, 24 Prozent und damit nahezu ein Viertel der Beschäftigten gelandet.

Während in Deutschland das alles ab 1998 ein erklärtes politisches Ziel der Regierungen unter Gerhard Schröder (SPD) und Angela Merkel (CDU) war, konnte in der Schweiz die einiger­massen funktionierende Sozial­partnerschaft von Arbeit­geberinnen und Gewerkschaften eine so krasse Fehl­entwicklung weitgehend verhindern. Aber auch hierzulande ist vor allem in Bereichen mit fehlenden Gesamtarbeits­verträgen (GAV), insbesondere bei gering qualifizierten Dienst­leistungen, ein Sektor mit unterbezahlten und sozial schlecht abgesicherten Arbeits­verhältnissen entstanden.

Der Teufelskreis der Wachstums­ökonomie und die gesellschaftlichen Folgen

Wer unter den prekären Bedingungen des Tieflohn­sektors seinen Lebens­unterhalt bestreiten muss, schuftet notgedrungen – ganz anders als die privilegierten Teilzeit­beschäftigten der Generation Z – fast bis zum Umfallen und bleibt dennoch angewiesen auf Sozial­hilfen aller Art, neuerdings in Deutschland sogar auf situative «Entlastungs­pakete». Die sozial­staatlichen Folgekosten dieser neoliberalen Arbeits­politik sind gigantisch, und ein Ende ihres Wachstums (!) ist nicht in Sicht. Damit sie einiger­massen tragbar bleiben, muss die ganze Volks­wirtschaft wachsen – der Teufelskreis ist geschlossen.

Auch in gesellschaftlicher und ökologischer Hinsicht setzten die Politikerinnen, die den «sachverständigen» Empfehlungen der orthodoxen Ökonomie brav folgten, einen Teufels­kreis in Gang.

Erstens wurde massenhaft unbezahlte Arbeit in (überwiegend miese) Jobs umgewandelt. In Deutschland etwa ist laut einer Studie des Statistischen Bundesamts (Destatis) die unbezahlte Arbeit von 1992 bis 2013 um 13 Milliarden Jahres­stunden (entsprechend einem Fünftel der Erwerbs­arbeit) oder gut 12 Prozent geschrumpft. Allerdings nimmt in vielen Familien die unbezahlte Arbeit (Haus- und Betreuungs­arbeiten sowie Freiwilligen­tätigkeit) immer noch mehr Zeit in Anspruch als die Erwerbs­arbeit, was oft schwierig zu vereinbaren ist. Das geht einher mit der Zerrüttung von Familien und Nachbarschaften als Folge von langen Arbeits­wegen und ungünstigen Arbeits­zeiten.

Verschärfend wirkt zweitens, dass Arbeit auch räumlich verschoben wurde. Die Jobs gingen an die Standorte, welche die Löhne am schnellsten gedrückt, die Arbeits­märkte «flexibilisiert» und die Unternehmens­steuern gesenkt hatten. Statt dass die Arbeits­plätze zu den Menschen kommen, müssen diese zu immer entfernteren Arbeits­orten «wandern».

Man at work? Langstrasse in Zürich. Marvin Zilm/13 Photo

Hierzulande wurde es kostengünstiger, fehlendes Personal im Ausland zu rekrutieren, statt vermehrt in die Aus- und Weiter­bildung der im Inland vorhandenen Arbeits­kräfte zu investieren. Das verstärkt potenziell den Lohndruck auf die Niedrig­qualifizierten.

Gleichzeitig tummeln sich in den Führungs­etagen der wachsenden Firmen immer mehr hoch bezahlte «Expats». Allerdings verduften diese karriere­halber oft nach wenigen Jahren wieder. Und so verschärft sich der kurzfristig überbrückte Mangel an inländischen Fachkräften in der aufgeblähten Volks­wirtschaft auf Dauer sogar.

Drittens haben manche der neu geschaffenen Jobs kompensatorischen Charakter: Die Markt­wirtschaft ist zunehmend damit beschäftigt, die eigene Komplexität zu bewältigen und selbst verursachte Schäden zu begrenzen. Man denke etwa an den ausufernden und krisen­anfälligen Finanz­sektor; an die Umverteilungs­bürokratie, mit der die extrem ungleiche Verteilung der Markt­einkommen kompensiert werden muss; oder an den Werbe­aufwand, mit dem einer eh schon übersättigten Mittel- und Oberschicht noch mehr Konsum aufgedrängt wird, zugleich aber der Bedarf nach Entsorgung und Umwelt­schutz wächst.

So wird fortlaufend der Überfluss des Über­flüssigen oder gar Schädlichen gesteigert, während gleichzeitig wachsende Bevölkerungs­anteile von einer neuen Verknappung von Lebens­notwendigem betroffen sind: Es mangelt zunehmend an sauberer Luft und Trinkwasser, gesunden Lebens­mitteln und zahlbarem Wohnraum, an Kinder-, Alten- und Kranken­betreuung. Und immer mehr Infra­strukturen erweisen sich als überfordert (Stichwort: mangelnde Resilienz) oder grundlegend fehlkonstruiert (Stichwort: Pseudo­liberalisierung).

Erwerb und Selbst­versorgung: Eine Frage der Balance

Mit einer Senkung der Normal­arbeitszeit ist es angesichts all dieser Probleme natürlich nicht getan. Aber sie erleichtert schon einmal die faire Aufteilung der Familien­arbeit, insbesondere der Kinder­betreuung zwischen Müttern und Vätern. Darüber hinaus schafft sie Freiräume und bisweilen Lust auf mehr Eigenarbeit für die Selbst­versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs. Gelderwerb und Konsum dominieren nicht mehr alles. Die Werbe­botschaft, dass Bedürfnis­befriedigung allein konsumtiv durch den «Genuss» käuflicher Güter und Dienst­leistungen erfolge, während Arbeit blosses Mittel zum Zweck des Konsum­wohlstands und daher stets Mühsal (lateinisch labor) sei, weicht der Erfahrung unmittelbar sinnvollen Tuns.

Daraus nährt sich der Impuls, grundsätzlich nachzudenken über ein neues, menschen­gerechtes Gleich­gewicht zwischen bezahlter Erwerbs­arbeit und unbezahlter Eigen­arbeit, zwischen Markt­orientierung und unmittelbarer Bedarfs­orientierung.

Die Aussichten sind verlockend: Eröffnet sich uns womöglich die epochale Chance, mit weniger Stress und weniger Plackerei mehr echten Wohlstand, mehr individuellen Lebens­sinn, ein ausgeglicheneres Familien­leben und mehr soziale Integration in produktiven Gemeinschafts­aktivitäten zu gewinnen?

Dass solche Optionen des Ausbruchs aus den Zwängen des Wirtschafts­wachstums in der Teufelskreis­ökonomie kaum diskutiert werden, hat einen simplen Grund: In ihrer Wachstums­doktrin zählt nur die Erwerbs­arbeit, denn nur sie wird im Bruttoinland­produkt erfasst.

Verkannt wird darüber hinaus, dass die Wirtschaft unsere Bedürfnisse nicht nur über die Menge der produzierten Güter beeinflusst, sondern vor allem auch durch die Art und Weise, wie sie unser soziales Leben organisiert oder desorganisiert. Schon immer sind wesentliche Teile unserer Bedürfnisse auf dem Weg der familiären oder gemeinschaftlichen Selbst­versorgung erfüllt worden, also ohne den bisweilen ineffizient grossen Umweg über Geld­einkommen. Mit einer geeigneten nachbar­schaftlichen Infra­struktur und modernem Gerät könnten wir unsere sozialen und auch manche materiellen Bedürfnisse besser und erst noch günstiger befriedigen als über den Markt – besonders wenn dank generell kürzerer Erwerbs­tätigkeit Zeit und Energie für die Selbst­versorgung ausserhalb des Marktes wachsen würden.

Statt einseitig alle arbeits­fähigen Personen mit möglichst hohen Pensen in die Erwerbs­wirtschaft integrieren zu wollen, sollten wir die zeitlichen, räumlichen und technischen Rahmen­bedingungen für die umweglose Bedarfs­wirtschaft verbessern. Zweckdienlich sind beispiels­weise gut ausgestattete Gemeinschafts­räume in jeder Wohn­überbauung oder in jedem Quartier, reservierte Parzellen für die guten alten Schreber­gärten und eine Stadt­planung der kurzen Wege (Stichwort: 15-Minuten-Stadt).

Vorzüge und Vordenker einer neu ausbalancierten Wirtschaft

Eine ausgewogene Kombination von Erwerbs- und Bedarfs­wirtschaft bietet gegenüber der konventionellen, einseitig auf Markt­wachstum setzenden Wirtschafts­politik drei wesentliche gesellschaftliche Vorzüge:

Erstens orientiert sich die Bedarfs­wirtschaft unmittelbar an den Lebens­bedürfnissen der Menschen und wird als dementsprechend sinnvoll empfunden, was für die «Beschäftigten» in komplexen Produktions­strukturen sehr oft nicht gegeben ist.

Zweitens bietet sie den sich selbst versorgenden kleinen Lebens­gemeinschaften eine weitaus stärkere Selbst­bestimmung, als dies in hoch arbeitsteiligen und hierarchischen Organisationen möglich ist.

Drittens dämmt die gemeinschaftliche Deckung der Grund­bedürfnisse von vornherein die sozial desintegrierenden Auswirkungen des Marktes ein.

Indem nämlich die Abhängigkeit von Kaufkraft für die Befriedigung der existenziellen Grund­bedürfnisse geringer wird, nimmt die Rolle von Geld und Einkommen für die Existenz­sicherung endlich wieder ab, statt dass sie den Lebens­alltag immer stärker dominiert. Der strukturelle Zwang, neue Erwerbs­arbeit durch Wirtschafts­wachstum zu schaffen, entfällt weitgehend. So wird die Stärkung der Bedarfs­wirtschaft zugleich zur Basis für eine Postwachstums­ökonomie im Sinne von Niko Paech, wie sie zur Bewältigung der Klima­krise ohnehin erforderlich wird.

Die grundlegende Voraussetzung zur Stärkung der Selbst­versorgung ist, dass wir den Produktivitäts­fortschritt vermehrt zur Kürzung der Normal­arbeitszeit statt zur Steigerung des Konsums nutzen. Wir können uns dabei immerhin auf den wohl grössten Ökonomen des 20. Jahrhunderts berufen, auf John Maynard Keynes. In seinem berühmten Essay «Economic Possibilities for Our Grandchildren» (1930) argumentierte er, dass zwei bis drei Generationen später – und da wären wir inzwischen angelangt – dank der anhaltenden Produktivitäts­steigerung eine Normal­arbeitszeit von 15 Wochen­stunden ausreichen werde, um die Konsum­bedürfnisse der Menschen zu decken. Die Erwerbs­arbeit würde dann zur Nebensache, und die Menschen könnten sich in der gewonnenen Zeit der Kunst eines kultivierten Lebens widmen.

Unter den durchaus zahlreichen Sozial­ökonominnen, die Keynes’ Gedanken folgen, haben vor allem der britische Ökonomie­professor Robert Skidelsky und sein Sohn Edward Skidelsky, seinerseits Philosophie­professor, mit ihrem Buch «Wie viel ist genug?» breite Resonanz gefunden. Dass sich Keynes’ Prophezeiung trotz eines Produktivitäts­fortschritts, der seine Annahmen seither sogar übertroffen hat, nicht erfüllt, versuchen sie damit zu erklären, dass Keynes den Unterschied zwischen begrenzten Grund­bedürfnissen und im Prinzip endlosen Konsum­begierden, wie der Kapitalismus sie schüre, nicht beachtet habe.

Das mag so sein, aber die elementare Bedarfs­deckung jener, die unter den Arbeits- und Einkommens­bedingungen des Tieflohn­sektors leiden, bleibt unter der Dominanz der Markt­logik prekär, selbst wenn der Luxus­konsum der Wohl­habenden längst obszöne Züge angenommen hat.

Das Problem ist nicht nur kultureller, sondern struktureller Art: Keynes konnte zu seiner Zeit die fatalen Effekte der Hyper­globalisierung nicht voraussehen. Der durch sie entfesselte internationale Standort­wettbewerb hat die Gestaltungs­macht der je nationalen Politik ausgehebelt. Seither ist die Verkürzung der Normal­arbeitszeit gemäss der Produktivitäts­entwicklung zum Stillstand gekommen, und ohne sie lassen sich die prekären Bedingungen des Niedriglohn­sektors kaum überwinden.

Immerhin hat in jüngster Zeit die Einsicht in die Notwendigkeit höherer Resilienz (Robustheit) der internationalen Liefer­ketten eine gewisse Tendenz zur De-Globalisierung ausgelöst. Mit ihr erweitern sich die arbeits­politischen Gestaltungs­spielräume wieder.

Ökonomische Rationalität als ideologisches Tarnkleid

Wäre es angesichts der Chancen einer ausbalancierten Dual­wirtschaft nicht klug, uns gemeinsam – und nur so funktioniert es volks­wirtschaftlich – ein Stück weit aus den Markt­zwängen zu emanzipieren? Für die Normal­bürger ist das Streben nach einem gut ausbalancierten «Doppel­leben» teils in der Erwerbs­wirtschaft und teils in der Selbst­versorgungs­wirtschaft immer schon ein Stück real existierende ökonomische Vernunft.

Man würde unter diesen Umständen erwarten, dass sich die Wirtschafts­wissenschaften intensiv mit den strukturellen Voraus­setzungen einer zeitgemässen Arbeits­politik auseinander­setzen. Doch die akademisch vorherrschende orthodoxe Standard­ökonomik rümpft bezüglich des «Keynesianismus» und anderer erweiterter Ansätze gleichsam die Nase. Sie argumentiert weiterhin just aus jener einäugigen Effizienz­logik des Marktes heraus, die zu den beschriebenen prekären Verhältnissen des Niedriglohn­sektors und zu den darin wurzelnden gesellschaftlichen Verwerfungen geführt hat. Deshalb erscheint ihr eine verbindliche Verkürzung der Normal­arbeitszeit als drohender Wohlstands­verlust.

Warum findet kein arbeits­politisches Umdenken in den Wirtschafts­wissenschaften statt? Die Erklärung hat mit der normativen Tiefenstruktur der orthodoxen Ökonomik zu tun. Normativ – das sind Vorstellungen davon, wie wir leben und wirtschaften sollen.

Wird über die lebensdienliche Gestaltung entsprechender Leitbilder nachgedacht, so sprechen wir von Wirtschafts­philosophie und -ethik. Werden solche Leitbilder hingegen implizit voraus­gesetzt und der kritischen Überprüfung systematisch entzogen, so handelt es sich eher um eine Wirtschafts­ideologie. Bedauerlicher­weise ist der Kern der dominierenden, ja an den Universitäten nahezu ausschliesslich gelehrten Ökonomik von solcher ideologischer Einigelung geprägt.

Weshalb fällt das der breiten Öffentlichkeit kaum auf? Die ökonomische Orthodoxie hat das akademische Tarnkleid ihrer ideologischen Prägung mit einem genialen methodischen Trick gewoben: Sie gibt ihre normativen Vorentscheidungen als Inbegriff ökonomischer Rationalität aus. Es ist die Rationalität des berühmt-berüchtigten homo oeconomicus, der strikt und rücksichtslos, ohne jede Empathie für andere Personen und «frei» von jedem Gemeinsinn, seinen wirtschaftlichen Eigen­nutzen maximiert. Jegliche Aspekte des guten Lebens und des gerechten Zusammen­lebens in der Gesellschaft sind diesem akademischen Homunkulus fremd.

Der «rationale» Lebens­entwurf des ökonomischen Homunkulus

Selbstverständlich wissen die Ökonomen, dass ihr methodisches Menschen­bild empirisch falsch und normativ unhaltbar ist; in der empirisch forschenden Verhaltens­ökonomie wird es dementsprechend relativiert und ergänzt.

Aber das normative Konzept «rationalen» Wirtschaftens und mit ihm die wirtschafts­politische Kernbotschaft bleiben unangetastet. Es geht stets um mehr von allem: mehr Effizienz durch technischen Fortschritt und globale Arbeits­teilung, mehr Gewinn und Einkommen, mehr Produktion und Konsum. Um Wirtschafts­wachstum um fast jeden Preis.

Die Standardökonomik identifiziert sich gleichsam mit einem Lebens­unternehmer, dessen ganzes Trachten auf seine Selbst­vermarktung zielt. Er findet sein eigenes Glück im Wettbewerbs­erfolg und in der damit erzielten Maximierung seines materiellen Lebens­standards. Mehr noch: Vermeintlich trägt er am meisten zum Gemein­wohl bei, indem er mithilft, die Produktivität und mit ihr das Brutto­sozialprodukt zu steigern. Dass er damit zugleich den Druck auf alle anderen verschärft, sich im immer härter werdenden Erwerbs­leben zu behaupten, und dass demzufolge unser Leben immer «stressiger» wird, bedenkt er nicht. Und dass unser Ressourcen­verbrauch nicht immer noch weiter gesteigert, sondern massiv gesenkt werden sollte, auch nicht.

Man at work: Strassenbauer in Berlin. Marvin Zilm/13 Photo

Sinnvolles Tätigsein und mit ihm Lebens­qualität jenseits des materiellen Wohlstands? Kennt der Homunkulus der totalen Markt­logik nicht. Eigenwert des gesellschaftlichen Zusammen­halts dank fairer Partizipation aller am Prozess und am Ergebnis der volks­wirtschaftlichen Wert­schöpfung? Nie gehört, oder wenn doch, dann aus dem Konzept rationalen Wirtschaftens ausgeblendet. Gesellschaftliche Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern im markt­wirtschaftlichen Selbst­behauptungs­wettbewerb? Interessiert nicht, denn die ökonomische «Rationalisierung» misst sich nur an der effizienten «Allokation» (der produktiven Verwendung) knapper Ressourcen, ohne Rücksicht auf die «Distribution» (soziale Verteilung) des Sozial­produkts.

Unter die Räder der markt­wirtschaftlichen Sachzwänge gerät auch die Fairness gegenüber den nachfolgenden Generationen, die mit den potenziell katastrophalen klimatischen und ökologischen Folgen unseres unverantwortlichen Umgangs mit den natürlichen Ressourcen werden leben müssen.

Die enge Rationalität des homo oeconomicus ist offensichtlich nicht die ganze ökonomische Vernunft.

Markt und Wettbewerb – ja, aber bitte vernünftig dosiert

Die orthodoxen Ökonomen suchen den verlorenen Schlüssel zur ökonomischen Vernunft am falschen Ort. Es geht nicht mehr wie einst in Zeiten einer wenig entwickelten Volks­wirtschaft primär um mehr von allem, sondern um die richtige Dosierung der Markt­kräfte im politisch-ökonomischen Rezept.

Die neue Leitfrage lautet: Wie viel Markt und Wettbewerb sind zur bestmöglichen Lösung unserer sozio­ökonomischen Probleme angemessen? Welche Probleme sind effektiver (qualitativ besser) und effizienter (mit besserem Kosten-Nutzen-Verhältnis) lösbar ohne den Umweg über den Markt, also in familiärer oder gemeinschaftlicher Selbst­versorgung?

Wer so fragt, interessiert sich für den sachdienlichen Stellenwert der Markt­wirtschaft in unserem Leben. Je nach den Ergebnissen der Analyse eines Problem­felds wird dann nicht immer nur die Ausweitung («Liberalisierung») des Marktes samt der Intensivierung des Wettbewerbs als ökonomisch rational gelten.

Stattdessen kann nun die konsequentere Einbettung und Einbindung der Markt­kräfte in die Gesellschaft, in der wir leben möchten, als Ausdruck vernünftigen Wirtschaftens beurteilt und von Wirtschafts­experten empfohlen werden, samt einer diesem Leitbild angemessenen sozial­staatlichen Daseins­vorsorge. Es steht dann nicht mehr von vornherein fest, ob Ökonomen in ihrer einfluss­reichen Rolle als Politik­berater für mehr Markt und Wettbewerb oder aber – bis anhin kaum denkbar – für deren problem­bezogene Einschränkung argumentieren werden.

Es geht dabei nicht etwa um die pauschale Abschaffung der Markt­wirtschaft, sondern um ihre Beschränkung auf jene Bereiche, in denen ihre dezentrale Koordinations­leistung lebens­praktisch wirklich vorteilhaft ist. Dabei sollte die Wirkungs­macht der Markt­kräfte stets zielbezogen dosiert werden. Weniger (statt immer nur mehr) Markt und Wettbewerb lässt sich je nach Problemlage als potenziell vernünftig erachten.

Was in der verengten Logik der orthodoxen Ökonomie tabu war, wird endlich aussprechbar!

Zur Literatur

Fred Frohofer, Werner Vontobel: «Eine Ökonomie der kurzen Wege. Von der Markt­wirtschaft zur Bedarfs­wirtschaft». Zürich, Rotpunktverlag 2021. 176 Seiten, ca. 18 Franken.

Niko Paech: «Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstums­ökonomie». München, Oekom 2012. 160 Seiten, ca. 20 Franken.

Michael J. Sandel: «Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes». Berlin, Ullstein 2012. 304 Seiten, ca. 15 Franken.

Robert und Edward Skidelsky: «Wie viel ist genug? Vom Wachstums­wahn zu einer Ökonomie des guten Lebens». München, Kunstmann 2013. 320 Seiten, ca. 25 Franken.

Ulrich Thielemann: «System Error. Warum der Freie Markt zur Unfreiheit führt». Frankfurt, Westend 2009. 240 Seiten, ca. 20 Euro.

Peter Ulrich: «Zivilisierte Markt­wirtschaft. Eine wirtschafts­ethische Orientierung». Erweiterte Neuausgabe. Bern, Haupt 2010. 208 Seiten, ca. 28 Franken.

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