Raketen im Kloster

Vor fünfzig Jahren schlägt im Luzerner Baldegg die architektonische Nachkriegs­moderne zu. Und ein franziskanischer Frauen­orden lässt sich von einem Pariser Mode­designer beraten. Jetzt müssen über achtzig­jährige Nonnen wieder einen Neuanfang suchen.

Von Antje Stahl (Text) und Christian Grund (Bilder), 29.12.2022

Vorgelesen von Regula Imboden
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Religion und moderne Baukunst gehen zusammen …
… wie das Kloster Baldegg auch mit der Kloster­kapelle beweist.

Auf dem Kirchturm sitzen zwei Störche und kacken ab und zu. Nicht jede der Baldegger Schwestern hat ihre Freude an den neuen Mitbewohnern. In den umliegenden Dörfern werden Witze auf ihre Kosten gerissen. Störche sollen doch Kinder bringen. Dem franziskanischen Frauen­orden bleibt der Nachwuchs jedoch schon seit Jahr­zehnten fern.

Trotzdem dürfen die Störche neben den Glocken über­wintern. Den Schwestern ist der Einklang mit der Natur seit eh und je wichtig. Auch wenn Spazier­gänge rund um den Baldegger­see beziehungs­weise durch den Junker­wald weiter oben auf dem Hügel nicht mehr für alle von ihnen zur Tages­ordnung gehören. Mit einem Rollator über Stock und Stein? Das geht einfach nicht so gut.

Wir schreiben einen dieser kalten Luzerner Dezember­tage, an denen die nassgraue Wolken­decke den Pilatus in der Ferne verschluckt und das Herz am liebsten ausgewrungen werden würde. Männer in Fleece­jacken und Warn­westen vertreiben mit lauten Blas­maschinen das letzte Laub vom Acker. Ein Traktor fährt über den Kiesweg, der von der Kirche mit den Störchen hinauf zum Mutter­haus des Klosters auf der Sonn­halde führt. Dort hat das Sterben eingesetzt. Bald dreissig Jahre ist es her, dass die letzte Frau die Profess ablegte – und damit das arme Leben wollte, das Gehorsam und Jung­fräulichkeit von ihr abverlangt. Das Durchschnitts­alter der Frauen überschreitet deshalb achtzig Jahre.

Lassen wir uns trotzdem nicht vom Angesicht des Todes – «des modernen Nichts», wie Paul Auster sagen würde – runterziehen. Der Bauer auf seinem Traktor winkt. Es ist Weihnachtszeit. Da kehren viele Leute zurück in die Gottes­häuser, um sich im Kerzen­schein ein bisschen spirituelle Wärme abzuholen, bevor sie zum Braten und zur Bescherung übergehen. Die Geburt von Jesus Christus steht für einen Neuanfang, das betonen die Zeremonien­meister der Kirchen jedes Jahr. Und darüber können sich durchaus und ganz besonders in Baldegg selbst Atheisten freuen.

Hier im ländlichen Nirgendwo des Kantons Luzern hat die architektonische Nachkriegs­moderne zugeschlagen. Die drei Kerzen­ständer der Dreifaltigkeit – des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes – sehen aus wie Raketen, die neben dem Altar in der Kapelle zum Abschuss bereit­stehen. Und so eine Symbiose aus Avant­garde und Religion, die vielleicht «gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens», die wurde vor über hundert Jahren im Manifest des Bauhauses beschworen. Aber eben nur äusserst selten so gelebt und vertreten wie von den «Schwestern von der Göttlichen Vorsehung aus dem Regulierten Dritten Orden des heiligen Franziskus» aus Baldegg.

Zwischen Schiess­scharten und Sonderbunds­krieg

Vor genau fünfzig Jahren, im November 1972, ist das neue Mutterhaus eingeweiht worden (wobei, «eingeweiht» wurde streng genommen nur die Kapelle, das Gebäude wurde «gesegnet»). Und dieses Mutterhaus gleicht einer platt­gedrückten Betonkrake – jedenfalls zeigt keiner der Arme der im Grundriss wie die Buchstaben­kombination HH ausgerichteten Anlage vertikal in den Himmel.

Der Baumeister, der dieses Kloster entworfen hat, der Architekt Marcel Breuer, verzichtete auf ausladende Gesten. Sogar über der Kapelle liegt ein flaches Dach. Modulare Betonteile aus der Fabrik rahmen in den oberen beiden Geschossen die Fenster zu den Zimmern der Schwestern ein. Schiess­scharten über Schiess­scharten charakterisieren die Fassade. Und hier und da ein bisschen Sicht­mauerwerk, heisst: richtige Steine.

Die Baldegger Schwestern müssen ihr religiöses Leben zwar nicht mehr verteidigen wie damals nach dem Sonderbunds­krieg. Am 8. April 1853 beschloss die damals neue Regierung, ihre gerade aufblühende Schule wie so viele andere dichtzu­machen, weil sie ihnen eine Nähe zu den Jesuiten unterstellte.

Ein Kaplan hatte 1829 das alte Schlossgut unten beim See erstanden, um «den zukünftigen Müttern des Volkes eine zweck­mässige Bildung zu ermöglichen». Und gleich darauf zu Beginn des Jahres 1830 sieben Schwestern (leibhaftige übrigens aus der Familie Hartmann) überzeugt, ihre religiös ausgerichtete Lehr­tätigkeit dorthin zu verlegen sowie die Felder zu bewirtschaften.

Auf dem Weg zur Klosterkapelle.

Dort, wo früher einmal der Bergfried als höchstes Gebäude der Anlage war, wurde 1866 ein neugotisches Kirchlein fertig­gebaut (und 1939 an ebendieser Stelle wiederum ein viel grösseres und natürlich schlichteres Kirchen­schiff mit jenem hohen Turm, auf dem die Störche sitzen). Es gab grosse Schlafsäle und sogar Einzel­zimmer, die alte Schloss­anlage wurde über die Jahr­zehnte immer wieder den Verhältnissen angepasst: 1903 wurde ein neues Schul­gebäude – das sogenannte Gelbe Haus – und 1928 ein grosser Klosterbau errichtet, der später erweitert wurde, damit alle Schwestern unterkamen.

Nun werden die Zimmer in Klöstern aus Gründen der Tradition allerdings Zellen genannt. Und das könnte mitunter Assoziationen wecken, die in die dunklen Kapitel der katholischen Kirche führen.

Immer wieder werden Missbrauchs­geschichten aufgedeckt, in denen nicht nur Männer als Gewalt­täter auftreten. In Frauen­orden herrscht eine strenge Hierarchie, junge Novizinnen müssen sich der Frau Mutter – wie die Äbtissinnen beziehungsweise General­oberinnen genannt werden, die Klöster leiten – wie einer Heiligen unter­werfen. Dass hinter verschlossenen Kloster­mauern Gewalt ausgeübt und sexueller Miss­brauch geschehen konnte, wurde so über Jahr­hunderte hinweg religiös legitimiert und vom Vatikan systematisch unter Verschluss gehalten.

Klösterlicher und gesellschafts­politischer Umbruch

Bei meinem ersten Besuch des Klosters Baldegg vor drei Jahren traf ich Sr. Martine Rosenberg – die von vielen hier als «wandelndes Archiv» bewundert wird. Bereits kurz nach dem Abschluss ihres Studiums der Ökonomie übernahm sie stell­vertretende Leitungs­aufgaben, bis sie 1981 dann selbst zur General­oberin – zur Frau Mutter – gewählt wurde und dieses Amt für achtzehn Jahre ausführte. In Studien über «Fürsorge und Gewalt in kirchlich geführten Erziehungs­anstalten im Kanton Luzern» taucht ihr Name unter den Quellen auf, die der Forschung zugrunde liegen.

Baldegger Schwestern hatten über viele Jahrzehnte in Heimen gearbeitet, um Kinder «durch Belehrung und Arbeit zu religiös sittlichen und nützlichen Gliedern der Menschheit zu erziehen». Schläge sollten «wirklich nicht so an den Pranger» gestellt werden, steht in einem Brief von einer der Schwestern aus dem Jahr 1963 an eine der Vorgängerinnen von Sr. Martine.

Sr. Martines biografischer Werdegang im Kloster Baldegg begann zu Zeiten des grossen Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965), in dessen Rahmen das Patriarchat – der Papst und die Bischöfe – Aggiornamento anstrebte, also eine längst über­fällige Erneuerung der Glaubens- und Lebens­weisen. «Das Zweite Vatikanische Konzil war ein prägendes Ereignis für die Kirche, das immer auch Spannungen mit sich bringt, dies auch für die Ordens­gemeinschaften. Es ging auch um das Tempo, mit dem die Veränderungen und die Erneuerungen der Kirche umgesetzt wurden», schreibt Sr. Martine auf Nachfrage kurz vor dem Weihnachts­fest. «In Baldegg sind wir diese Veränderungen mit Offenheit angegangen, das mag auch der Grund dafür gewesen sein, dass in Baldegg anders als in anderen Ordens­gemeinschaften keine Austritts­welle eingesetzt hat.»

Das minimale Formen­repertoire des Marcel Breuer

Über tausend Frauen zählte das Kloster Baldegg damals, so viele wie nie zuvor. Und fragt man nach Erinnerungen an diese Jahre des Umbruchs, sprechen viele hier so wie Sr. Boriska Winiger von einer «glücklichen» und «beeindruckenden» Zeit. Sr. Boriska kommt wie Sr. Martine aus einem katholischen Elternhaus (acht Kinder, darunter sieben Mädchen, ländliches Gebiet), sie ist ein wandelndes Beispiel für die Emanzipations­geschichte, die in der Schweizer Nachkriegs­zeit ebenfalls von Frauen­klöstern geschrieben werden will.

Sonnige Plätze im Speisesaal.
Ein Wohnraum der Schwestern.

Sr. Boriska musste als Kind auf den Feldern arbeiten, damit ihre Familie einiger­massen unbeschadet durch den Winter kam. Sie sehnte sich trotzdem danach, Lehrerin zu werden wie ihr Vater, weiter­führende kantonale Schulen waren jedoch Jungs vorbehalten. Im Schwestern­institut Baldegg besuchte sie in den 1960er-Jahren statt­dessen eine von fünf Klassen mit jeweils rund zwanzig Mädchen. Hier wurden Seminare für Lehrerinnen und Kinder­gärtnerinnen, Hauswirtschafts­lehre und Handarbeit angeboten.

Ihre Schwester folgte ihr drei Jahre später. Die alte Kloster­anlage platzte aus allen Nähten. Und auch die Schwestern, die in die Jahre gekommen oder bereits pflege­bedürftig waren, sollten es doch ebenfalls leichter haben als im Altenteil.

Kein Wunder, schmiedete der Orden Neubau­pläne. Das Wohnen und Leben in der Gemeinschaft sollte «zeitgemäss» aussehen. Und das bedeutete, dass die Bauherrinnen sich nicht mit dem erstbesten Architekten zufriedengaben.

Sie lobten einen Architektur­wettbewerb aus, der kein einziges Resultat hervor­brachte, mit dem sie sich identifizieren konnten. Sie wollten in diesen gesellschafts­politischen Aufbruchs­zeiten kein Zuhause, das aussieht wie eine Kongress­halle oder ein Alten­heim. Die Schwestern zogen den damaligen Kantons­baumeister von Luzern zur Beratung hinzu. Und der durfte dann Marcel Breuer 1967 mit dem Entwurf beauftragen: ein ganz schönes Kaliber.

Marcel Lajos Breuer wurde 1902 in Ungarn geboren. In den 1920er-Jahren hatte er am Bauhaus in Weimar in der Möbel­werkstatt studiert und gelehrt. Das Staatliche Bauhaus wurde 1919 nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gegründet und von Walter Gropius programmatisch nach dem eingangs erwähnten Manifest ausgerichtet. «Architekten, Bildhauer, Maler» sollten «gemeinsam den neuen Bau der Zukunft» erschaffen. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs emigrierte Breuer in die USA und gründete später ein eigenes Büro, das nach Kriegs­ende von New York aus das Antlitz des neu vereinigten Westens wie nur wenige andere prägte.

Das Haupt­quartier der Unesco in Paris (1953) gehört zum Beispiel zu seinem Portfolio oder das Recherche­zentrum von IBM in La Gaude (1962). Es gibt auch Hotels und Einfamilien­häuser, die sehr viel stärker auf den Brutalismus zurückzu­führen sind, mit anderen Worten noch viel kolossaler und markanter dastehen. Im südfranzösischen Recherche­zentrum des damals mächtigsten Unter­nehmens für Computer­technologie erkennt man aber einige formale Eigenarten besser, die einen an den neuen Klosterbau in Baldegg aus dem Jahr 1972 erinnern können. Diese Schiessscharten-Betonfassade etwa.

Marcel Breuer, gestorben 1981, wurde schon zu seinen Lebzeiten für sein «minimales Repertoire an Bauelementen» belächelt. «Ich kann nicht jeden Montag­morgen ein vollkommen neues System entwerfen», soll er darauf geantwortet haben. So steht es in einem ganz hübschen, jüngst erschienenen Buch vom Taschen-Verlag, das sich dem Aufschwung der Office-Architektur widmet, mit der den «Aktivitäten des globalen Kapitalismus» erstmals ein angemessenes Zuhause zuteilwurde.

Schattenwurf an der Klosterkapelle.

Rationelle Planung, die sowohl die Baukosten senkt als auch effiziente Arbeits­abläufe und -wege einräumt, ist für einen tätigen franziskanischen Frauen­orden genauso wichtig wie für die freie Markt­wirtschaft. Nur die Sache mit Konsum und Profit passt nicht so richtig zu dessen Werten. Im Kloster Baldegg haben sich alle Frauen den drei evangelischen Räten verschrieben: der Armut, dem Gehorsam und der Jungfräulichkeit.

Bloss kein «Schnickschnack»

Sr. Martine begegnete Marcel Breuer in den Baujahren des neuen Mutter­hauses. «Herr Breuer hat uns gelehrt, dass man das Material wirken lassen soll: Holz ist Holz, Glas ist Glas, Stein ist Stein. Er war gegen jeden Schnick­schnack» erzählt sie. Marcel Breuer hat im Auftrag der Schwestern die Architektur und – passend zu seiner Bauhaus-Ausbildung in der Möbel­werkstatt – auch das gesamte Interieur des Mutter­hauses durchdesignt.

Scharen von Schwestern nehmen nach der Fertig­stellung des Baus vor fünfzig Jahren auf Möbel­klassikern aus Stahlrohr Platz – Dutzende über Dutzende von Frei­schwingern mit traditionellem Wiener Sitz­geflecht aus den 1920er-Jahren zum Beispiel und alle möglichen Sonder­anfertigungen: etwa Holzkuben mit zurück­haltenden, beige­farbenen Sitz­flächen, die am Ende eines langen Flurs auf dem Weg zur Kapelle stehen, der bis aufs Dach komplett verglast ist.

Sie wandeln über schwarze Schiefer­platten an weiss gestrichenen Wänden vorbei, an denen abstrakte Gemälde und Teppiche von Schweizer Grafikern wie Richard Paul Lohse, Rolf Rappaz oder Heinz Egger für minimale Farb­tupfer wie im Bauhaus sorgen – blau, rot, grün, gelb. Die Farbe der Vorhänge aus bisschen kratzigem Stoff wirkt einiger­massen upgedatet auf die Ästhetik der 1970er-Jahre, es ist dieses typische Gelb-Orange. Der Wand­teppich im Kapitel­saal mit langen einfarbigen Streifen wurde von dem Architekten Beat Jordi entworfen (der mit der Ausführung des Baus vor Ort beschäftigt war).

Über den Köpfen der Schwestern, die in der Kapelle beten, scheinen Beton­rippen zu schweben. Der Altar besteht aus schwerem Granit. Die Altar­wand aus vergoldeten Mosaik­steinen. Und davor stehen, wie erwähnt, drei Kerzen­ständer – der Vater, der Sohn und der Heilige Geist im Raketen­look. Der vollendeten ästhetischen Selbst­erneuerung steht in dieser Zeit wirklich nur noch eine Sache im Weg: das alte Ordenskleid.

Mode aus Paris

Coco Chanel hätte sich vielleicht angeboten? Die Französin, geboren 1883, lebte in den prägenden Jugend­jahren in einem Kloster in Aubazines und baute ihr Mode-Imperium auf seinen ästhetischen Grund­pfeilern auf: klare Linien, eine gewisse Strenge und schwarz-weisse Kontraste. Auch die Besessenheit von der Numerologie, allem voran natürlich die Symbolik des Fünfecks, und die Gerüche (Chanel N°5) sollen von der sinnlichen Kloster­erfahrung inspiriert worden sein. Coco Chanel starb allerdings 1971 und damit ein Jahr vor der Fertig­stellung des Mutter­hauses Sonnhalde.

1973 korrespondierte das Kloster Baldegg also mit einem jüngeren Ansprech­partner, dem französischen Mode­designer André Courrèges, der für Balenciaga arbeitete (ein Modehaus, das heute die inter­nationalen Catwalks rockt), sich dann selbst­ständig machte und 1972 das gesamte Personal der Olympischen Spiele in München einkleidete.

Weitere Impressionen aus der Klosterkapelle.

Courrèges leitete das «Space Age» in der Mode ein: In München bestimmen knallig-farbige «Unisex-Overalls, kurze Kleider mit funktionalen Cargo-Taschen sogar auf den Brüsten, Kostüme im Safari-Stil» den Look von Hostessen und anderen. André Courrèges hat die Mode revolutioniert. For Christ’s sake, wir haben ihm und der Designerin Mary Quant den Minirock zu verdanken.

Sr. Felizia Baumgartner und Sr. Mechthild Juen besuchten den Modestar in seinem schnee­weissen Atelier in der 40 Rue François 1er im 8. Pariser Arrondissement. Und er entwarf tatsächlich neue Ordens­kleider für sie. Die Skizzen der Nonnen-Models sind im Archiv des Kloster Baldegg erhalten. Teilweise sehen sie aus wie eine Frauen­armee in schwarzer Uniform und Springer­stiefeln. Einige dieser Entwürfe wurden sogar mass­geschneidert und auf einer Modenschau im Baldegger Kapitelsaal von Schwestern auf einem Laufsteg präsentiert: Ein boden­langes Kleid, schwarzweiss kariert, ist von der Hüfte aufwärts wie eine Latzhose geschnitten. Ein schlichtes schwarzes Rollkragen­hemd bedeckt Hals und Arme. Cool.

Ordenskleid ablegen, um zu überleben

Das erste Ordens­kleid aus der Gründungs­zeit des Klosters Baldegg war lang und schwarz, mit Brustkreuz und weisser Haube, so düster, wie man sich Ordens­kleider eben vorstellt. Allerdings wurde es nur von vier der Schwestern Hartmann, die ab 1830 auf dem Schloss lebten, getragen. Und das rettete dem Frauen­orden nach dem Sonderbunds­krieg angeblich die Existenz. Die übrigen drei Schwestern, die in Zivil auftraten (aber in nicht weniger züchtigen Kleidern, versteht sich), durften nämlich auf dem Schlossgut bleiben, obwohl die neue Regierung ihre Schule ja eigentlich schliessen liess. Ja, ihnen wurde alsbald «die Erziehung gefährdeter Mädchen» anvertraut – und der Bischof genehmigte neue Statuten. Fortan galt Franz von Assisi als Ordens­vater, 1863 wurde das Institut dann endlich auch von der Regierung in Luzern genehmigt, und neben den Herrn Direktor trat die erste Frau Mutter mit eigenem weiblichem Personal­stab auf die Bühne.

Für die Schwestern ist die Sache mit dem Ordens­kleid deshalb auch weit mehr als eine Legende. Es stand auch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, das Ordens­kleider nicht mehr für zwingend einstufte, für politischen Widerstand – und jene Emanzipations­geschichte. Sr. Boriska, die Anfang der 1960er-Jahre das Schwestern­institut besuchte, studierte im Anschluss in Heidelberg Blinden­pädagogik. Und wurde im Hörsaal wie zu erwarten für ihr Ordens­kleid belächelt. Sie bat ihre Frau Mutter darum, es ablegen zu dürfen – um es dann nach ihrem Studium wieder anzuziehen. Die Baldegger Schwestern gehören einem tätigen Orden an, Sr. Boriska wollte Beruf und Glauben verbinden, auch wenn am Ende Frau Mutter über den beruflichen Werdegang jeder einzelnen entschied und es durchaus hätte passieren können, dass sie in der Küche landete. Aber es kam anders.

Nach dem Traumberuf

Letztlich entschieden sich die Schwestern nicht für das karierte Kleid mit Latzhosen­trägern. Das Ordenskleid, das zwei Baldegger Schwestern für angemessener hielten, ist graublau, im Winter aus Wolle, mit langen Ärmeln und Rock, nicht zu weit geschnitten, aber fern von eng. Unter dem runden Ausschnitt taucht immerhin das Rollkragen­hemd von André Courrèges auf, das auch auf der Modenschau präsentiert wurde – nur nicht aus schwarzem, sondern aus weissem Stoff. Auf dem Kopf steckt ein schlichter Schleier in der Farbe des Kleides im mittler­weile ergrauten Haar. Sr. Boriska trägt dazu noch ein silbernes Kreuz vor der Brust, das an einem schwarzen Band hängt.

Nachdem sie viele Jahre Sonnen­berg geleitet hat, eine Beratungs­stelle und Schule für sehbehinderte Kinder und Jugendliche in Baar im Kanton Zug (also letztlich ihren Traum­beruf ergreifen durfte), hat sie die Führungen durch die Breuer-Architektur übernommen. Besucherinnen empfängt sie im Osttrakt hinter gläsernen Türen, zwischen denen eine Schwester in einer Kabine sitzt und aufpasst, dass keine ungebetenen Gäste über die Schwelle treten.

Im Gegensatz zu anderen Klöstern ist das Mutterhaus von Marcel Breuer nicht abgeschirmt. Es gibt keine Mauern oder Zäune. Theoretisch könnte jeder in einen der Höfe und Gärten stürmen, die in dieser HH-Anlage liegen (in denen im Winter leider keine Kräuter wachsen, nur totes Gestrüpp steckt). «Die Schwestern sollten die Welt ins Kloster hinein­lassen und selber den Blick auf die Welt haben», steht auf einem Papier­bogen, auf den Sr. Boriska ab und zu schaut, um die wichtigsten Fakten nicht zu vergessen: wie viele Schwestern überhaupt noch leben (180, davon 156 in Baldegg, Stand vergangene Woche) und wie viele davon (34) drüben im Pflegeheim liegen (das übrigens ebenfalls von Breuer entworfen und von Jordi 1979 ausgeführt wurde). Und so sind wir wieder zurück in der etwas bedrückenden Gegenwart gelandet.

In Zukunft Yoga-Retreats?

Seit einiger Zeit kommen immer mehr Leute zu Besuch, die sich fragen, was aus dem ästhetischen Bekenntnis zur Gegenwart der 1970er-Jahre wird, wenn es keine der Baldegger Schwestern mehr gibt. Das Kloster engagierte sogar eine sogenannte Strategie- und Transformations­beauftragte, um eine Zukunft mitzugestalten, in der sie fehlen werden. Und da können durchaus Welten aufeinander­prallen.

Einige versuchen die Werte von Frauenorden für die jüngeren Zeitgenossen zu übersetzen und preisen «Gemeinschafts­projekte wie solidarische Landwirtschafts- beziehungs­weise Wohnungsbau­genossenschaften», die «gemeinwohl-orientiert statt profit­maximiert arbeiten, die selbst­verwaltet, nachhaltig, konsum­kritisch das Richtige für Mensch, Gemeinwohl und Natur tun wollen».

Die neue Transformations­beauftragte Gabriela Christen empfiehlt die Lektüre des Buches «Klosterfrauen Frauenkloster». Die Heraus­geberinnen Jutta Görlich und Ulrike Rose starteten «eine künstlerische Untersuchung zu Frauen­klöstern im Wandel» und besuchten viele Orden, die ihre Kloster­anlagen bereits verlassen haben. Darunter auch das schöne alte Kloster Schlehdorf am bayerischen Kochelsee, in dem die Berliner Yoga­lehrerin und Autorin Kristin Rübesamen gerne Yoga-Retreats anbietet.

«Viele Menschen empfinden unsere individualisierte Gesellschaft nicht nur als Segen», schreibt sie auf Nachfrage per Text­nachricht. «Der ständige Imperativ, originell aus der Reihe zu tanzen, ist anstrengend. Besonders Gross­städter leiden unter Performance­druck. Sie sehnen sich nach der tröstenden Monotonie eines Kloster­lebens, sie hoffen, einen Raum zu betreten, in dem sie sich vom eigenen Gedanken­karussell erlöst mit etwas Grösserem (was auch immer das sein mag, wie wir diplomatisch sagen) verbinden.»

In einem Frauen­kloster könnten dabei nur leider viele an jenen dunklen Kapiteln der katholischen Kirche scheitern, die von Gewalt und Missbrauch handeln. Ausserdem hat sich ein Emanzipations­begriff durchgesetzt, der die Keuschheit als Sinnbild für die sexuelle Unter­drückung der Frau verdammt. Als die Bischöfe im Rahmen des Zweiten Vatikanischen Konzils tagten, wurde die Pille ja bereits verkauft. Seitdem wird die befreite Lust als Politikum gesehen und soll einem erfüllten Geistes­leben nicht im Weg stehen. Kloster­mauern, ganz gleich wie alt oder modern sie daher­kommen, scheinen all das zu verschlucken.

Es gibt mittler­weile zwar schlaue Menschen, die versuchen, das klösterliche Leben als «Punk» zu denken. Der Filme­macher und Drehbuch­autor Jan Schomburg zum Beispiel erklärt, dass der Verzicht auf Sex und Konsum in einer sexualisierten Konsum­gesellschaft möglicher­weise die einzige radikale Rebellion sei, die einem heutzutage noch so bleibe. 2020 lief seine romantische Komödie «Der göttliche Andere» in den deutschen Kinos, in der er einen jungen Mann und Gott in Rom um eine junge Frau werben lässt, die sich in ein Kloster zurück­ziehen möchte.

Bei aller Zuneigung zu solchen alternativen Lifestyles, die im Film so wunderbar leicht­füssig daher­kommen: Im Kloster Baldegg beschränkt sich das Patriarchat leider nicht nur auf die Geistlichen, die die Schwestern brauchen, um das Abendmahl zu empfangen. Die entwerfenden und ausführenden Architekten, die Grafiker und Künstler, die von den Bauherrinnen beauftragt wurden, bilden einen jener reinen Herrenclubs, die die feministische Architektur­kritik gerne zum Teufel jagt. Bis heute sei die Zentral­schweiz «männer­dominiert». Das stellte der neue Kantons­baumeister von Luzern erst kürzlich wieder fest.

Sitzplatz im Speisesaal.

Im Kloster Baldegg wurde das Dekorations­verbot, von dem Sr. Martine berichtet – kein «Schnickschnack» – zudem so weit befolgt, dass das Gesamt­kunstwerk tatsächlich unantastbar daher­kommt. Es gibt keine Gebrauchs­spuren. Keine Flecken auf dem Boden oder an den Wänden, keine Kratzer auf den Tischen. Es ist, als ob hier niemand wohnte und hauste, sondern Frauen im hohen Alter immer noch ihre musealen Aufsichts­pflichten erledigen müssten.

Mit Bonbons, aber ohne Kissen

Die Architektin Heike Biechteler war im Herbst mit ihren Studierenden von der Hochschule Luzern – Technik & Architektur hier. Sie sollten Fotoessays im Mutterhaus der Baldegger Schwestern anfertigen. Beim Rundgang nahm Biechteler die unter­schiedlichen Räume selbst mit ihrer Handy­kamera unter die Lupe und hielt das einzige Detail fest, das auf so etwas wie Leben in der Bude schliessen lässt. Dort, wo in den Kirchen­bänken die Gesangs­bücher und Bibeln stecken, entdeckte sie eine Packung mit Schweizer Ricola-Bonbons. Geschmacks­richtung: Holunderblüten.

Sonst ziert nichts die Stahlrohr­stühle und Kirchen­bänke, auch keine bunten Kissen im Blumen­muster, die den Hintern auf dem harten Holz vielleicht etwas abfedern würden (im hohen Alter ist das, haben wir gehört, recht angenehm). So eine, wie soll man sagen, asketische Ästhetik kommt bescheiden, ja mit Rücksicht auf so manch einen männlichen Vertreter der katholischen Kirche sogar vorbildlich rüber. Wer erinnert sich nicht an den Bischofssitz von Limburg, in dem Almosen im Wert von 31 Millionen Euro für Luxus­badewannen oder Fenster­scheiben ausgegeben wurden, die auf Knopfdruck abdunkeln? Andererseits müssen bequeme Kissen nicht gleich auf Verschwendung und Hochmut schliessen lassen.

Der jüdische Architekt Josef Frank aus Wien hatte es im Jahr 1927 gewagt, seinen Beitrag zur Werkbund­ausstellung in Stuttgart nicht ganz so puritanisch einzurichten wie die Kollegen Mies van der Rohe und Walter Gropius aus Deutschland oder Le Corbusier aus der Schweiz. In seinem Haus 26+27 in der Weissenhof­siedlung in Stuttgart, auf der sich das Who’s who des Neuen Bauens versammelte, hingen bunte Vorhänge vor den Fenstern, standen gemütliche Polster­sofas und Holz­stühle herum, Felle waren zum Kuscheln ausgebreitet und bunte Teppiche. Und ein Kritiker hatte diese Einladung zum Bleiben tatsächlich als «Bordell» beschimpft.

Das deutsche Bauhaus nahm Josef Frank nicht zuletzt deshalb als eine Erziehungs­anstalt wahr – durchaus im militaristischen Sinne. In seinem Buch «Architektur als Symbol» (1931) entlarvt er etwa die grosse Liebe zum Stahlrohr als «Welt­anschauung», die mit dem moralischen Zeigefinger daherkomme, obwohl sie doch im Schützen­graben geboren wurde. Die Stühle, die aus Stahlrohr (ganz besonders gerne von Marcel Breuer) gebaut würden, seien Sitz­gelegenheiten für «einen Reparations­kommissar, um ihm den Ernst der deutschen Bestrebungen vorzuführen». Frank erkannte, dass mithilfe dieses Stahls im Ersten Weltkrieg gerade noch Gewehre gebaut wurden, um damit Menschen zu erschiessen.

Wer spricht?

Nun überwintern im Jahr 2022 aber immerhin die Störche drüben auf dem Kirchturm und Weihnachten wird (beziehungsweise wurde) gefeiert. Ausnahms­weise werden von den Schwestern Sterne aus gelbem Papier an die Wände des Mutter­hauses geklebt, die ansonsten gut verpackt im Keller lagern. Schwester Iniga hat sie mit den Insassen der Straf­anstalt Lenzburg gebastelt, in der sie zwölf Jahre als Seel­sorgerin tätig war. Mit anderen Worten: Die Symbiose, die der franziskanische Gehorsam hier mit der formalen Strenge von Marcel Breuer (und seinen Kumpels) eingeht, wird vorsichtig gebrochen. Und vielleicht ist das ein guter Ausblick auf das, was kommen wird?

Zum Abschied schickte Sr. Boriska übrigens noch eine Nachricht per E-Mail. Sie habe unsere Frage nach der Zukunft des Klosters noch lange beschäftigt.

«Eines ist sicher: Es wird nie so bleiben, wie es jetzt ist», schreibt sie. «Ich hoffe aber, dass von unserem Mutterhaus, das inzwischen zu einem berühmten Bau geworden ist, etwas ausgehen wird, das viele Menschen erreichen kann, die sich nach Ruhe, Wärme und Geborgenheit sehnen. Wir versuchen, hier die franziskanische Spiritualität so zu verwirklichen, dass unser Mutterhaus zu einer Oase, zu einem Kraftort wird. Später, wenn niemand von uns mehr da sein wird, sollen die ‹Steine sprechen›.»

Das klingt schön. Nur sollten Steine niemals die Stimmen von Menschen übertönen. Zitieren wir zum Abschluss also noch ausführlicher aus dieser E-Mail:

«Mir ist es ein Anliegen, dass unser Ursprung, das Apostolat weiter verwirklicht wird, in erster Linie für jene, die es nicht leicht haben in der Gesellschaft und immer wieder an den Rand gedrückt werden, zum Beispiel behinderte Menschen. Sie werden gut ausgebildet, und dann fallen sehr viele so leicht durch die Maschen. Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit und grüsse Sie herzlich, Sr. Boriska Winiger»

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