Literatur aus existenzieller Notwendigkeit

Eine grosse und noch immer zu wenig gewürdigte Schweizer Autorin: Heute wäre Mariella Mehr 75 geworden. Eine persönliche Hommage.

Von Yael Inokai, 27.12.2022

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Vorgelesen von Miriam Japp
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Roman­autorin, Reporterin, Dramatikerin und Kritikerin: Mariella Mehr (1947–2022). Ayse Yavas

Mitte der 2010er-Jahre schrieb ich an meinem zweiten Roman «Mahlstrom», die Geschichte einer Gewalttat unter Kindern. Da kam ich das erste Mal mit dem Werk von Mariella Mehr in Berührung. Eine frühe Leserin meiner Arbeit legte mir «Daskind» ans Herz. Wenn ich über das generationen­übergreifende Fortwirken von Gewalt schreiben wolle, käme ich um diese Lektüre nicht herum.

Ich suchte. Lieferbar war der Titel nicht. Die Bibliothek immerhin hatte ein Exemplar vorrätig – aber da ich ein Buch mit Eselsohren bestücken und vollschreiben können muss, fiel diese Option weg.

Es dauerte, bis ich «Daskind» schliesslich in einem Antiquariat fand. Den Text konnte ich dann nur in Etappen lesen. «Daskind» ist eine Kindheits­geschichte, ein Foto­negativ des vermeintlichen Schweizer Idylls. Es geht um ein Adoptiv­kind, das in einem Dorf lebt. Von den Menschen dort, die sich als recht­schaffene Bürger sehen, wird es geschlagen, miss­handelt und zum Nicht­menschen degradiert.

Hat keinen Namen, Daskind. Darf nicht heissen. Darf niemals heissen, denn dann könnte keine der Frauen im Dorf, der danach zumute ist, Daskind Kleinerbub nennen oder Frecherfratz, zärtlich, gierig. Oder Saumädchen, Hürchen, Dreckigerbalg, wenn Daskind Bedürfnisse hat.

Es ist ein gnaden­loses Buch. Beim Lesen blieb ich an Text­stellen hängen, als seien sie Wider­haken. Andauernd begleitete mich der Gedanke, offenbar in einem Land aufgewachsen zu sein, wo das Wort «Fürsorge» wie eine Drohung klingt.

Zugleich fühlte ich mich hingezogen zu Mehrs spröder und scharf­kantiger Prosa. Ich wollte mehr lesen. Zunächst war ich allerdings erleichtert, dass es länger dauerte, an andere Werke von ihr zu kommen. Denn «Daskind» war eine körperliche Erfahrung gewesen: schlechter Schlaf, ein säuerlicher Geschmack im Mund. Wut, die den Kopf schwer werden und das Herz rasen lässt.

Zur Autorin

Yael Inokai, geboren 1989 in Basel, lebt in Berlin. Ihr zweiter Roman «Mahlstrom» wurde mit dem Schweizer Literatur­preis ausgezeichnet. Sie ist Redaktions­mitglied der Zeitschrift «PS: Politisch Schreiben». Für ihren Roman «Ein simpler Eingriff» (2022) – eine Besprechung lesen Sie hier – erhielt sie den Anna-Seghers-Preis und stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2022. Sie arbeitet als freie Autorin und gibt Schreib­kurse für Studierende.

Ich legte eine mehr­jährige Pause ein. Dann suchte ich wieder nach einem Buch von Mariella Mehr. Als ich an meinem Roman «Ein simpler Eingriff» arbeitete, die Geschichte einer Kranken­schwester und ihrer Zweifel an der Medizin, wollte ich «Zeus oder der Zwillingston» lesen, Mehrs zweiten Roman. Zeus höchst­persönlich will darin seine Unsterblichkeit loswerden und steigt dafür auf Erden hinab, in eine Psychiatrie, die Klinik Narren­wald. Ich konnte das Buch nirgendwo finden, nicht übers Internet, nicht in Antiquariaten.

Stattdessen las ich die komplette Roman­trilogie, von der auch «Daskind» ein Teil ist. Sie wurde zusammen mit dem Sammel­band «Widerworte – Geschichten, Gedichte, Reden, Reportagen» (heraus­gegeben von Christa Baum­berger und Nina Debrunner) wiederveröffentlicht.

Einerseits stimmte mich das froh: Es gab Menschen, die sich für das Bewahren von Mehrs Werk einsetzten und sie als Autorin in ihrer ganzen Bandbreite beleuchteten. Anderer­seits begann mir Mehrs Fehlen in der hiesigen Literatur­welt nun umso stärker aufzufallen. Wie selten sie erwähnt wurde. Dass sie Schreibenden in meinem Alter meist nichts sagte. Mich beschlich die Ahnung, dass die literarische Welt – mit ihrem kurzen Gedächtnis – dabei war, Mehr zu vergessen. Das Netzwerk der Erinnerung steht nur wenigen offen.

Die Frage des Erinnerns ist natürlich auch die Frage danach, wem eine eigene Geschichte zugestanden wird. Mariella Mehr sollte keine haben. Sie war ein paar Jahre nach ihrer Geburt 1947 im Zuge der Pro-Juventute-Initiative «Kinder der Landstrasse» von ihren jenischen Eltern getrennt worden. Man wollte die «Vaganität erfolgreich bekämpfen», indem man die Familien auseinanderriss und die Kinder zu «brauchbaren Gliedern der Gesellschaft» erzog. Mehr wuchs bei Pflege­eltern, in Heimen und Anstalten auf und musste sich dort von Psychiatern begutachten lassen. Ein Kind, ein Fall, eine Akte. Was auch immer diesem Kind, diesem Fall, dieser Akte widerfuhr – es war egal, es zählte nicht. Dieser Mensch gehörte sich nicht selbst.

Mehr kämpfte sich ins Leben. Als junge Frau machte sie eine Zufalls­bekanntschaft mit Laure Wyss, der Mitgründerin des «Tages-Anzeiger Magazins». Wyss war beeindruckt von Mehr und ermöglichte ihr eine erste Veröffentlichungs­plattform. 1975 erschien «Alptraum der Embryos», Mehrs Bericht über ihre Kindheit und Jugend im Heim.

Dezember, 1951. Nikolaus, du guter Mann, sangen sie, weil er die Braven liebte, sie hingen an seinem roten, wattierten Rock und betasteten seinen Bart. Sie lachten alle. Ich war Bett­nässerin, hässlich und schielte. Ich zerstörte das Spielzeug der anderen Kinder, bombardierte Sand­burgen und quälte Hühner im Hof. Ich stahl. Deshalb verbrachte ich den Heiligen Abend im gutgenähten Jutesack «draussen vor der Tür». Die Liebe des heiligen Mannes galt den anderen, den «Trockenen», den «Geraden».

Mariella Mehr: «Alptraum der Embryos».

Mehr machte sich als Journalistin einen Namen. Ihr Weg führte sie als Schreibende zurück zu den Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Sie porträtierte Menschen in Psychiatrien, Gefängnissen und Obdachlosen­heimen. Zimperlich war sie mit ihnen nicht.

1981 erschien dann ihr Debütroman «Steinzeit». Darin schildert sie autobiografisch das erlebte Grauen in den Heimen und Anstalten. Es sind kurze Kapitel, ein schwer erträglicher Text, fast alles, was der Haupt­person im Roman widerfährt, ist Gewalt. Die Protagonistin dissoziiert. Mal ist sie ich, mal Silvio, dann Silvia, mal Silvana. Einen ähnlichen narrativen Kniff wendete Mehr später im Roman «Angeklagt» an. Eine Brand­stifterin spricht von ihrer Zelle aus, bis das Ich und die Sprache schliesslich zersplittern.

Aber Nerven will nicht sterben nicht sofort immer Zucken Zischen Winden ja lange noch Wegkriech­versuch aber nur Versuch kann nicht kann nicht mehr ich

Mariella Mehr: «Angeklagt».

Neben ihrer Tätigkeit als Roman­autorin und Reporterin arbeitete Mehr auch als Dramatikerin und Kritikerin. Mehrere tausend Bücher zählte ihre Bibliothek. Sie hatte das Lesen einst von einem Pflege­vater gelernt. Eine ihrer ersten Lektüren war «Niemandsland» von Renée Brand gewesen. Die Deutsch-Jüdin schildert darin den brutalen Umgang der Schweizer mit jüdischen Flüchtlingen während des zweiten Weltkrieges.

Mehr formte ihr eigenes Schreiben durch die Lektüre von wider­ständigen Büchern wie diesem. Sie hatte den Anspruch, dass Literatur aus existenzieller Notwendigkeit entstehen muss. So streng sie darin mit sich selbst war, so streng begegnete sie auch ihren Kolleginnen.

Mich beschäftigt das drohende Vergessen­werden von Mariella Mehr schon lange. Während der Arbeit an diesem Text starb sie, seither fürchte ich, es wird jetzt noch viel schneller gehen. Ich spreche mit einer befreundeten Autorin darüber. Sie glaubt, es liege an der Härte von Mehrs Texten. Sie selbst habe nur einen einzigen Roman zur Hälfte lesen können. Ob es denn tröstlicher werde, vielleicht sogar versöhnlich?

Ich muss sie enttäuschen. Alle drei Protagonistinnen der Roman­trilogie, Mehrs Schlüsselwerk, werden im Verlauf ihrer jeweiligen Geschichte selbst zu Täterinnen. Die Brand­stifterin, die schon zu Beginn von «Angeklagt» im Gefängnis sitzt und von dort aus ihre Geschichte erzählt. Die Pflegerin Anna Priska Kreuz, die in der Eröffnungs­szene von «Brandzauber» einer Ameise dabei zusieht, wie sie von einer Pflanze verschlungen wird – und später von ihrer Kindheit in einem Internat berichtet, wo sie sich einem Gewalt­rausch hingibt. Auch Daskind tötet. Mit einer Stein­schleuder, die es erst auf Vögel und dann auf einen Menschen richtet. Reue empfinden die Protagonistinnen nicht; eher Freude oder Erregung. Vermeintliche Richtwerte wie Schuld und Sühne oder Moral stellt Mehr auf den Kopf.

Ist das also einer der Gründe, weshalb Mehr langsam vergessen wird, die fehlende Versöhnlichkeit? Wenn ja, bezieht sich das auf ihre Werke oder geht es um die Versöhnlichkeit, die Mehr uns als Gesellschaft verweigert? Und lässt sich das überhaupt voneinander trennen?

Der Wunsch, dass ein Mensch das ihm wider­fahrene Grauen in etwas Schönes verwandelt, ist verständlich – meistens stammt er nicht von jenen, die dieses Grauen erfahren mussten. Es ist der Wunsch einer Befreiung; von Schmerz und von Mitschuld. Als könnte man unter Unrecht einen Schluss­punkt setzen.

Mariella Mehr hat dem nie nachgegeben.

In ihrer Rede «Von Mäusen und Menschen», die dieses Jahr in Buchform erschienen ist, wendete sich die Autorin am 19. Dezember 1996 an das medizinische Pflege­personal der Kantonalen Heilanstalt St. Urban (Luzern), das ihr Publikum war. (Sie hielt die Rede knapp zwei Jahre später, am 27. November 1998 noch einmal, als man ihr in Basel die Ehrendoktor­würde verlieh.)

Dem Publikum stellte sie dabei sich selbst mit den Worten eines Psychiaters vor, der sie einst begutachtet hatte:

Vor Ihnen steht eine verstimmbare, haltlose, geltungs­bedürftige und moralisch schwach­sinnige Psychopathin mit neurotischen Zügen und einem starken Hang zur Selbst­überschätzung, was ihr Wunsch, Schriftstellerin zu werden, beweist.

Mariella Mehr: «Von Mäusen und Menschen».

Es sind Worte, die Mehr öfters verwendete. Sie gehörten jetzt ihr. Sie hatte ein Leben lang darum gekämpft. In der Rede fügt sie ihnen hinzu:

Immerhin, Schrift­stellerin bin ich geworden, eine die sich, so gut es eben geht, den Verachteten, Ungeliebten, den Belächelten verschrieben hat, jenen Seiltänzern wie ich, die es, je nach Erfahrung und Schicksal, oft bis in den Wahnsinn verschlägt, und Wahnsinn steht am Ende fast jeder dieser Wege, so wie an deren Anfang nur allzu oft eine Diagnose steht, die sich buchstäblich selbst vorantreibt, und sich, mit etwas praktischer Nachhilfe, in die Seele eines Menschen einmeisselt, bis dieser daran zerbricht.

Zerbrechen. Das war der Ansatz der Initiative «Kinder der Landstrasse». Nichts sollte übrig bleiben vom Jenischen; nicht die Familien­bande, nicht die Kultur, nicht die Sprache. (Mehr erzählte einmal in einem Interview, dass in praktisch jeder Anstalt, jedem Heim auch andere Jenische einsassen und sie, obwohl das Jenische im Heim verboten war, so überhaupt erst die Sprache lernen konnte.)

Stattdessen Akten, Gutachten. Mariella Mehr kämpfte dafür, dass diese den Jenischen selbst übergeben wurden. Sie musste erleben, dass Ärzte, statt mit ihr zu kooperieren, sie mit dem Inhalt ihrer Akten drangsalierten. Es sei illegal, diese Akten zu lesen, warf sie einem besonders dreisten Arzt entgegen. Dem Arzt war es egal. Er war beschützt von seiner Zunft, beschützt von einem Macht­system, beschützt von Schweigen und Ignoranz.

Zur gängigen Vorstellung von politischer Autorschaft passt es nur bedingt, dass die Literatur von den Rändern kommt. Hartnäckig hält sich das Bild des weissen, männlichen Intellektuellen, der von der Mitte aus alles über­blicken kann. Vielleicht ist das nicht verwunderlich in der selbst­ernannt ältesten Demokratie der Welt, die das Frauen­stimmrecht erst 1971 einführte und noch heute einem beachtlichen Teil seiner Bevölkerung die politische Stimme verweigert.

Mariella Mehr selbst sagte zu ihrer Position:

Ich hab mich eigentlich immer nur an die Ränder rangemacht und daraus die grosse Lehre gezogen, dass die Ränder eigentlich die Mitte sind.

Literaturgeschichte ist nur so lange eine Selbst­verständlichkeit, bis man beginnt, die Hände dahinter zu erkennen, die sie schreiben. Diese Hände, die darüber entscheiden, was weiter­getragen wird und was nicht.

Es genügt nicht, Bücher zu verfassen, besprochen und ausgezeichnet zu werden (selbst wenn das allein schon alles andere als selbst­verständlich ist). Es genügt noch nicht einmal, Autorinnen der Vergessenheit zu entreissen, ihre Bücher neu zu drucken, ihre Errungen­schaften in Artikeln und Vorworten zu feiern. Die Frage von Vergessen oder Erinnern greift viel tiefer. Sie entscheidet sich in Bildungs­institutionen, Museen und Verlagen. Sie ist an Geld gekoppelt; wie bei Stiftungen oder Preisen, die nach bekannten Persönlichkeiten benannt sind. Und an die Möglichkeiten eines einzelnen Menschen, sich nicht auf die Suche machen zu können, weil die Zeit dazu fehlt, das Geld, das Umfeld.

Mariella Mehr hatte sich nie geschont. Es gab kaum jemanden, mit dem sie sich zu Lebzeiten nicht angelegt hatte. Sie suchte die Auseinander­setzung, den Streit, unerträglich fand sie es, wenn man ihr mit Schweigen und Desinteresse begegnete.

Ist auch das ein Grund für das langsame Vergessen? Ich versuche mir das Gesicht so manch eines Schweizers vorzustellen, als der die Ankündigung der Lesereihe sah, die Mehr in den 80er-Jahren mitorganisierte: «Frauen lesen Männer­literatur». Humor habe sie gehabt, sagt man mir. Ein Humor wie eine geschliffene Klinge.

Ich empfinde Dankbarkeit gegenüber dieser grossen Autorin. Ich bin davon überzeugt, dass ich das Land, in dem ich aufgewachsen bin, durch sie noch einmal besser verstanden habe. Das Schwelen von Gewalt, die Härte des Schweigens, die Maske all des Schönen und Geordneten, hinter der sich so viele Abgründe verbergen. Und auch wenn das vielleicht mein eigener Wunsch nach einem Stück Versöhnung ist, so gibt mir Mehrs Lebensweg unglaublich viel Hoffnung. Sie, die Auto­didaktin, die sich ihre Geschichte und ihre Stimme zurück­erobert hat.

Am 5. September dieses Jahres ist Mariella Mehr gestorben. Ich hatte mir für das Schreiben dieses Textes erhofft, sie noch treffen zu dürfen. Obwohl ich schon öfters eines Besseren belehrt worden bin, dachte ich, ich hätte Zeit. So unfassbar lebendig erschien sie mir, als ich noch einmal in ihr Gesamtwerk abtauchte, auch ihre Lyrik ganz neu las.

Teile davon hatte sie in der Toskana geschrieben. Für fast zwei Jahrzehnte war das ihr Wohnort gewesen, sie hatte der Schweiz nach mehreren tätlichen Angriffen 1997 den Rücken gekehrt. Auf ein solidarisches Statement wartete sie damals vergebens. Aus der Autoren­gruppe Olten stieg sie im Jahr 2000 aus, nachdem diese das Ziel, «eine demokratische sozialistische Gesellschaft zu verwirklichen», aus ihren Statuten gestrichen hatte. Autorinnenschaft und politischen Aktivismus voneinander trennen zu wollen, muss Mehr unmöglich vorgekommen sein.

Ich wünsche Mariella Mehr – und uns – zu ihrem 75. Geburtstag am 27. Dezember 2022, dass wir uns erinnern. An ihr Werk, an ihre Geschichte, die auch ein Teil unserer Geschichte ist.

Es wuchs das wort
Mir im mund
Zur steinschleuder
In der hand

Nun versteinert
Was mich schweigen hiess
An mir

Und schöner tönt leere
In die zeit
Endlich

Mariella Mehr: Ohne Titel, aus dem Band «Widerworte», S. 312.

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