«Twitter hat ein Team, das ich ziemlich genial finde»

Eine Social-Media-Plattform wie Twitter hat das Potenzial, die Menschheit voranzubringen, sagt Techunternehmerin Bea Knecht. Selbst mit Elon Musk als Besitzer. Ein Gespräch zum Jahreswechsel.

Von Philipp Albrecht (Text) und Agata Nowicka (Illustration), 22.12.2022

Vorgelesen von Danny Exnar
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Für 44 Milliarden Dollar hat Elon Musk Ende Oktober das Social-Media-Unternehmen Twitter übernommen. Mit seinen umstrittenen Plänen, das Unternehmen langfristig profitabel zu machen, hat er seither zahlreiche User und Werbe­kunden aufgeschreckt. Über die Hälfte der Angestellten entliess er.

Bea Knecht zählt zu den aufmerksamsten Beobachterinnen von Facebook und Twitter. Die Co-Gründerin von Zattoo, einer der weltweit ersten legalen TV-Streaming-Anwendungen, lebte 15 Jahre im Silicon Valley und verbringt jedes Jahr zweieinhalb Monate dort. Sie beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie die technologischen Innovationen aus den USA unser Zusammen­leben beeinflussen.

Wie kann eine Plattform wie Twitter die Menschheit voranbringen? Und welchen Einfluss hat das unberechenbare Verhalten von Elon Musk auf diese Entwicklung?

Wir treffen Bea Knecht am Sitz ihres dritten Unternehmens, des Social-Media-Management-Start-ups Levuro, einen Steinwurf vom Zürcher Bellevue entfernt.

Bea Knecht, viele Twitter-User wie Politikerinnen, Wissenschaftler und Journalistinnen haben in den letzten Wochen ein Mastodon-Profil eingerichtet. Sie auch?
Ja, vor einem Monat. Ich habe auch schon etwas gepostet.

Darf ich fragen, was?
Bei einem Besuch in Paris diskutierte ich kürzlich mit einem Bekannten ausführlich über die Netflix-Serie «The Playlist». Wir waren beide begeistert über die gewählte Erzählweise.

«The Playlist» ist eine schwedische Produktion über die Entstehung von Spotify.
Sie ist streckenweise fiktional, aber in der Summe sehr glaubhaft. Ich verwende dies jetzt als Analogie, es gilt sinngemäss auch für Twitter: Wer eine Handlung aus den Blick­punkten verschiedener Akteure erzählt, erstellt ein Abbild der Realität. Je kompletter das Abbild, desto mehr hilft es, uns korrekt zu orientieren. Beispiele für inkomplette Abbilder der Realität gibt es viele, etwa in einer Beziehung oder zwischen den Erfahrungs­welten von Männern und Frauen. Auch in einer Jungfirma haben alle möglichen Akteure unterschiedliche Vorstellungen. Weil es so schwierig ist, die verwobenen Handlungs­stränge beim Aufbau von Spotify zu verstehen, wurden für «The Playlist» sechs verschiedene Blick­winkel konstruiert, was ich als sehr hilfreich empfinde. Darum habe ich das als meinen ersten Post auf Mastodon gestellt.

Gab es Reaktionen auf Ihren Post?
Ich war seither nicht mehr auf Mastodon. Ich glaube, ich weiss nicht einmal mehr, wie ich mich einloggen muss.

Dann ergeht es Ihnen wie vielen: Sie haben nach Elon Musks Twitter-Übernahme ein Mastodon-Profil eingerichtet und sind danach gleich wieder zu Twitter zurückgekehrt.
Ich nutze Twitter vor allem zum Lesen. Auf Mastodon wüsste ich noch gar nicht, was zu lesen wäre, weil weniger Leute teilnehmen, schliesslich hat Twitter 10 bis 15 Jahre Vorsprung. Zudem hat Twitter ein Team, das ich als ziemlich genial empfinde – man nennt es the team responsible for messing up your timeline. Es vermischt die Meldungen von Leuten, denen man folgt, mit Meldungen anderer Leute, die man interessant finden könnte. Es stellt also glückliche Fügungen her. Das Funktionieren dieses Teams ist ein wichtiger Aspekt der Twitter-Experience. Ich kann noch nicht sagen, dass Mastodon das gleich gut macht.

Was macht Mastodon aus Ihrer Sicht gut?
Erstens hat Mastodon von Haus aus ein moderneres Verständnis von free speech, von Redefreiheit, als Twitter. Es wurde in Deutschland erfunden, wo Hassrede – im Unterschied zu den USA – nicht als free speech toleriert wird. Die Deutschen haben sich viel damit auseinander­gesetzt, aus bekannten Gründen. Zweitens sind Mastodon-Server föderal miteinander verbunden. Um ein Profil einrichten zu können, muss man sich bei einem Server quasi bewerben. Jeder Server hat teilweise eigene Nutzungs­regeln. Ob ein Server Meldungen anderer Server akzeptiert, hängt von diesen Regeln ab. Von der Konstruktion her ist das sehr klug und flexibel. Nehmen wir mal an, der Iran würde einen Mastodon-Server anbieten und die Plattform mit Hassrede überziehen. In diesem Fall hätten die anderen Mastodon-Server einen Mechanismus zur Hand, um den Iran-Server abzukoppeln. Mastodon verfügt also über Mechanismen, um Hassrede ins Leere laufen zu lassen.


Was ist der Zweck einer Social-Media-Plattform jenseits von Plaudern, Streiten, Loben und Werben? Das ist eine der zentralen Fragen, mit denen sich Bea Knecht beschäftigt. Sie sagt: In der Ideal­vorstellung wäre Twitter die digitale Variante einer Allmend. Als Allmend bezeichnete man einst – und teilweise noch heute – einen öffentlichen Versammlungs­ort im Besitz der Allgemeinheit. Im Digitalen könnte dieser Ort qualifizierte Diskussionen ohne räumliche Einschränkung ermöglichen – mit dem Ziel, ein gemeinsames und möglichst realistisches Bild der Wahrheit zu schaffen.

Auch Online-Medien und Newsportale können laut Knecht eine Allmend-Funktion einnehmen. Für sie sind funktionierende Allmenden «essenziell, um die Menschheit voran­zubringen». Denn im digitalen Zeitalter gebe es keine bessere Möglichkeit, eine Idee oder einen Lösungs­vorschlag für ein gesellschaftliches Problem – sie spricht von «Werk­stücken» – öffentlich zu machen und von anderen Menschen beurteilen und bearbeiten zu lassen.


Stellt Mastodon die digitale Allmend besser dar als Twitter?
Mir gefällt, dass keiner sich in den Mittel­punkt stellen und von heute auf morgen die Regeln über den Haufen werfen kann, wie das Elon Musk gerade bei Twitter tut.

Muss Twitter deshalb abgelöst werden durch neue Allmenden?
Musk reisst Twitter gerade ab. Es soll zu Twitter 2.0 werden. Sollte Twitter dadurch als Allmend nicht mehr funktionieren, müssten wir uns neu organisieren. Es gäbe ein Durch­einander, und es entstünden anderswo neue Dialoge, beispielsweise auf Mastodon, dessen föderaler Aspekt eine demokratische Alternative zum gottähnlichen Verhalten von Musk bietet.

Zur Gesprächspartnerin

Bea Knecht, 55, hat mit Zattoo eine der ersten legalen Anwendungen entwickelt, mit der man TV auf dem Computer schauen kann. Aufgewachsen im aargauischen Windisch, zog sie 1985 nach Nordkalifornien und studierte Informatik in Berkeley. Nach einem weiteren Studium in Betriebs­wirtschaft beriet sie bis 2001 Unternehmen für McKinsey und entwickelte Organisations­software. 2005 gründete sie gemeinsam mit Sugih Jamin Zattoo. Ab 2008 beteiligte sich die TX Group (damals Tamedia) an der Firma. Heute beschäftigt Zattoo über 200 Angestellte und ist im Mehrheits­besitz der TX Group. Knecht sitzt weiterhin im Verwaltungsrat. In der Zwischenzeit hat sie mit Levuro und Genistat zwei neue Firmen im Bereich Social-Media-Management und Data Science gegründet. Seit 2015 ist sie Mitglied der Eidgenössischen Medien­kommission. Bis zum Alter von 45 Jahren hatte Knecht als Mann gelebt.

Aber noch ist Twitter nicht am Ende.
Die Allmend von Twitter umfasst über 400 Millionen regelmässige Teilnehmer, und 120 Millionen davon sind Follower von Elon Musk. Die meisten sind ihm recht hörig. Wer jetzt also auf Twitter ein prominentes Thema bearbeitet, muss sich damit auseinandersetzen, was Musk und seine 120 Millionen Follower damit machen. Legt Musk erst mal eine Denk­schneise fest, folgt ihm seine Horde. Musk meint nun, er baue eine swarm thinking institution, also einen Ort, wo man praktisch zu allen Problem­stellungen die Leute befragen kann, und die Schwarm­intelligenz löst das Problem. Aber er stellt die Fragen primär seinen Followern und präsentiert das Resultat den Medien als demokratisch legitimiert. Das ist groupthink: Er spurt die Antwort vor, und aufgrund seiner Hierarchie­dominanz fallen seine Follower wie Domino­steine in seine Richtung.

In einem Fall ging das offensichtlich schief: Als er fragte, ob er als CEO zurücktreten soll, stimmten 57,5 Prozent dafür.
Die Stimmung auf Twitter hatte sich aufgeheizt und gegen ihn gedreht. Er hatte gerade die wichtige Abstimmung zur Sperrung von sieben Journalisten verloren – Stichwort: «The Thursday Night Massacre». Es ging um nichts weniger als die Zukunft und Vertrauens­würdigkeit von Twitter. Daraufhin gleich noch zu fragen, ob er sich selbst feuern sollte, war ungeschicktes Timing und de facto eine Vertrauens­abstimmung. Das war ein Steilpass, den seine Gegner nicht ignorieren konnten. Mit 16 Millionen Stimmen insgesamt kam es zu einer Mobilisierung von Kräften ausserhalb seiner Gefolgschaft und führte zu einer der grössten Stimm­beteiligungen auf Twitter.

Musks Übernahme von Twitter ist also eine Katastrophe für die Allmend-Funktion von Twitter?
Musk selbst denkt, er befreie Twitter mit der Wieder­einführung von free speech und fördere dadurch Diversität und Vielfalt. Aber er irrt. Er hat eine Allmend geschaffen, in deren Mitte er als Betreiber die ganze Aufmerksamkeit an sich bindet. Alles, was er sagt, wird gelesen wie Kaffeesatz. Twitter ist dadurch mono­thematisch mit Musk beschäftigt – und mit der Frage, ob ihm ein bestimmter Keks gemundet hat. Das produziert nicht diversity of opinion, Meinungs­diversität. Das produziert nicht die vielfältigen Werkstücke, die wir eigentlich brauchten. Insofern tut Musk der Allmend nicht gut.

Kann Regulierung in Europa und den USA Twitter in die richtige Bahn lenken?
Ich glaube, es wird in diese Richtung gehen. Selbst Mark Zuckerberg sagte: Reguliert uns! Und es geht ja nicht nur um Twitter, sondern auch um Facebook und andere Plattformen. Es geht auch um die Kommentar­spalten von Newsseiten, wo es sehr viel Hassrede gibt. Das Treiben auf der Allmend braucht Regeln – solche der Plattform wie auch solche der Gesellschaft. Diese Regeln könnten sich am deutschen free speech und an der modernen Lehre zu Sensemaking orientieren.


Sensemaking ist ein zentraler Begriff in Bea Knechts Schaffen und ein noch junger Zweig aus der Verhaltens­forschung. Auf Deutsch lässt er sich am ehesten mit Sinnstiftung übersetzen. Gemeint ist ein Prozess zur kollektiven Entscheidungs­findung.

Im Sensemaking-Prozess wird Wissen zusammen­gefasst, um ein möglichst realistisches Bild zu kreieren. Auf diese Weise sollen Probleme aller Art gelöst werden. Hier kommt die digitale Allmend wieder ins Spiel: Eine Plattform wie Twitter kann laut Knecht idealerweise die Rolle einer Sensemaking-Allmend einnehmen.


Können Sie ein praktisches Beispiel von Sensemaking geben?
Stellen Sie sich ein brennendes Haus vor. Die Feuerwehr wird gerufen, und der Feuerwehr­kommandant kommt auf den Platz. Es sind Gaffer da, Opfer und andere Feuerwehr­leute. Nun hat der Kommandant ein paar Sekunden Zeit, sich zu überlegen, wie der Brand beschaffen ist, damit er ihn löschen kann. Er muss wissen, was brennt. Er braucht eine These, was den Brand ausgelöst haben könnte. Er braucht Informationen, und je näher er an die Realität kommt, desto besser weiss er, wie er den Brand am effektivsten und sichersten bekämpfen kann.

Und was muss man sich unter einer Sensemaking-Allmend vorstellen?
Sie sollte ein Ort sein, den Menschen besuchen, um in allen möglichen Bereichen des Lebens weiter­­zukommen. Das Bild der Wirklichkeit, das wir dort zusammen schaffen, entsteht durch Beigabe unserer verschiedensten Gesichts­punkte. Denken wir an «The Playlist»! Diese verschiedenen Gesichts­punkte kennen­zulernen, das führt erst zum Aha-Erlebnis. Wir brauchen zwingend gut funktionierende Allmenden, sonst haben wir keine Chance, die Welt zu verstehen. Wir würden stattdessen mit einem Zerrbild leben, und daraus würden wir falsche Handlungen ableiten.

Ist das nicht eine utopische Vorstellung einer solchen Plattform? Wenn ich durch meine Twitter-Timeline scrolle, treffe ich vor allem auf das Mitteilungs­bedürfnis exzentrischer Menschen und daneben auf viel Missgunst. Ehrlich gesagt sehe ich da wenig Sensemaking.
Musk würde wohl zustimmend nicken und sagen: Weil wir die Ideal­vorstellung noch nicht umgesetzt haben, setzen wir auf absolute free speech. Musk bewegt damit Twitter leider ans andere Ende des Spektrums, dorthin, wo der Lärm maximal ist. Lärm wirkt wie Zensur. So hat Musk ein neues Problem geschaffen. Diesem wiederum will er nun Herr werden, indem er selektiv manche Meldungen nicht in die Timeline anderer Nutzer einspielt: freedom of speech is not freedom of reach. Das heisst: Du darfst heute auf Twitter fast alles sagen, aber Twitter boostet dich nicht. Nicht die ganze Welt sieht deine Hassrede. Und irgendwann wirst du sogar gesperrt, so wie Kanye West. Ich hoffe, dass Musk ein System baut, das Twitter konstruktiver macht.

Wie realistisch ist es, dass er in diese Richtung arbeitet? Auf viele Menschen macht er eher einen unberechenbaren Eindruck.
Er schillert. Bemerkenswert an Musk ist nicht, was er sagt, sondern die Beharrlichkeit, mit der er in Richtung Ziel torkelt – wenn auch im Schlinger­kurs. Sein Ziel ist, den Diskurs der Menschheit auf eine digitale Allmend zu heben. Er würde wohl selbst zugeben, dass er bisweilen danebenlag. So spontan und unreflektiert, wie er da hin und her torkelt, wirkt er konfus. Weil er uns aufgrund seiner Macht und bisherigen Leistung nicht egal sein kann, versucht die halbe Welt aktuell, hände­ringend Sensemaking rund um Musk zu betreiben – auf Twitter! Dadurch, dass er selbst Twitter beherrscht und viele an seinen Lippen hängen, wird das erschwert.

Und dann muss er auch noch Twitter als Unternehmen führen. Eines mit gigantischem Schuldenberg.
Darum besteht die Gefahr, dass Twitter zu einer Entertainment-Plattform oder Bezahl-Super-App wird, anstatt Sensemaking zu fördern. Es steht nicht gut um Twitter. Wer jetzt noch Werbung schaltet, macht das, weil er Musk gut findet oder weil gerade die Preise tief sind. Die Reichweite ist ohnehin nicht gross, Facebook und Youtube erreichen fünfmal mehr Menschen. Werbe­treibende können Twitter auch einfach ignorieren.

Wird das auch passieren?
Für Musk wäre es katastrophal. Bevor er Twitter kaufte, nahm das Unternehmen mit Werbung fünf Milliarden Dollar pro Jahr ein. Das ist ein guter Wert, den man nicht über Nacht erreicht. Twitter hat über Jahre Beziehungen zu Werbe­treibenden aufgebaut und dazu die Plattform mehr oder weniger frei von Hassrede und Fake News gehalten.

Aber Twitter hat doch regelmässig Verluste geschrieben.
Gründer Jack Dorsey hat zugegeben, dass er zu viel Personal aufgebaut hatte. Neben den Angestellten wurden ja nochmals so viele Externe beschäftigt. Total waren etwa 15’000 Leute auf der Gehalts­liste. Das kostete. Musk hat nun auch die Externen zu einem grossen Teil entlassen. Es ist also nur noch eine Rumpfcrew am Werk, so spart er. Dass jetzt die Werbung wegbricht, was dem Verhalten von Musk höchst­persönlich geschuldet ist, bringt die Firma in existenzielle Gefahr.

Was hat dazu geführt, dass Musk so unberechenbar geworden ist? Liegt es an seinem Reichtum und der Tatsache, dass die Menschen grundsätzlich Respekt vor dem reichsten Menschen der Welt haben?
Ich sehe das Problem nicht bei der Tatsache, dass er superreich ist. Ich denke eher, dass es bei einem Teil der US-amerikanischen Gesellschaft liegt, der ein grosses Bedürfnis hat, die Sau rauszulassen. Diese Menschen schauen im TV Wrestling und schalten dann weiter zu Trump – von der einen alternativen Realität zur nächsten. Und dann hören sie Trump sagen, Frauen seien Luder, und um Erfolg zu haben, müsse man einfach grabschen, ohne Rücksicht auf Verluste. Das enthemmt. Man ist nicht mehr in einem Gedanken­korsett, muss nicht mehr brav sein. Schauen Sie den Sturm aufs Capitol an: halb ernst mit Waffen, halb Kostüm­party. Sie haben die Sau rausgelassen.

Ich habe den Eindruck, dass nicht nur ein Musk oder ein Trump solches Verhalten fördert, sondern auch ein Peter Thiel. Der superreiche Techinvestor, der auch «Dark Lord des Silicon Valley» genannt wird und Trump finanziell und beratend unterstützt hat.
Thiel ist ein Libertärer. Dieses Gedankengut war schon vor 30 Jahren im Silicon Valley stärker vertreten als etwa in Zürich. Er vertritt den Technologie verherrlichenden und sozial­feindlichen Heldenkult, wie ihn viele im Silicon Valley in den Büchern von Autorin Ayn Rand gelesen haben und mit dem viele sympathisieren. Er sagt: Es gibt nicht viele, die etwas erschaffen, aber die, die das machen, sind meine Helden und werden von mir unterstützt. Er will eine möglichst freie Welt, möglichst wenig Interferenz. Aber Thiel triggert bei mir andere Themen.

Welche?
Thiel ist wohl einer, der sich darüber freut, dass wir uns bald mit der Frage befassen müssen, wie wir mit genetisch manipulierten und damit «überlegenen» Menschen umgehen sollen. Ich werde nicht tiefer darauf eingehen, aber ich bin überzeugt, dass die Frage auf uns zukommt. Genauso müssen wir einen Weg finden, mit künstlicher Intelligenz umzugehen. Heute lachen wir über Bilder, die von KI generiert werden, aber inzwischen kann sie schon ganze Essays schreiben und Computer­code korrigieren. Ich komme also wieder zur Dringlichkeit einer funktionierenden Sensemaking-Allmend zurück.

Inwiefern hilft uns da der Sensemaking-Prozess?
Wir müssen gemeinsam herausfinden, wie wir auf diese technischen Entwicklungen reagieren sollen. Wir brauchen einen Mechanismus, um das gemeinsam diskutieren zu können. Dazu braucht es Regeln: Was genau ist ein akzeptiertes Werkstück? Wie bearbeiten wir es gemeinsam? Und wir brauchen eine Allmend, die diese Regeln hochhält. Von mir aus eine, auf der wir auch über Musks Kekse sprechen können. Dafür soll es auch Raum geben.

Was müsste Musk technisch und funktional an Twitter ändern, damit es besser als Sensemaking-Allmend funktioniert?
Erst einmal muss sich eine wichtige Erkenntnis durchsetzen: Je weniger Propaganda, Dogma, Zensur und groupthink, desto besser funktioniert Twitter als Allmend. Technisch bedeutet dies, dass Spam, Fake Accounts, Fake News und Hassrede unterbunden werden. Das ist nicht einfach, aber auf einer Zeitachse von drei bis fünf Jahren technisch machbar. Von der Haltung her bedarf es auch einer Anpassung.

Was meinen Sie?
Nehmen wir die Journalisten. Nachdem Musk vorüber­gehend sieben Ihrer Kollegen vom Dienst aussperrte, sagte er, Journalisten seien in Zukunft auf Twitter Leute wie alle anderen.

Waren wir das nicht vorher schon?
Doch. Sie haben auf Twitter keine Privilegien, die mir bewusst wären. Musk zielt auf etwas anderes: Ihm ist die öffentliche Rolle der Journalisten ein Dorn im Auge. Sie beantworten zeitgenössische Fragen mittels Informationen von offiziellen und inoffiziellen Quellen und haben auf diese Quellen mehr Zugriff als die meisten anderen Teilnehmer. Sie unterstehen einem beruflichen Ehrenkodex etwa in Bezug auf Fakten und Quellen­schutz. Sie haben das Handwerk gelernt, wie Sensemaking-Werkstücke erstellt und bearbeitet werden. Das heisst, Sie wägen hierfür Informations­brocken bezüglich ihrer Relevanz ab, trennen Sinn von Unsinn und leiten veredelte Werkstücke zur Prüfung und Publikation auf verschiedenen Medien weiter, nicht nur auf Twitter. Mittels Kommentar­funktion stimmen Leser zu oder wiegeln ab und ergänzen. Dann wiederholt sich der Zyklus. So erfahren wir alle – Journalisten wie auch Leser – von Veränderungen der Welt, können sie deuten und auch verstehen.

Glauben Sie, dass Musk das alles verhindern kann und will?
Ich weiss es nicht. Ich kann einfach nicht glauben, dass Musk das einfach unter den Tisch wischt. Wenn er auf Twitter wirklich ohne besondere Rolle der Journalisten auskommen will, muss er alternative Lösungs­vorschläge bringen, wie wir regelmässige, möglichst unmanipulierte Inputs zum Zustand der Welt einfordern und aufbereiten; wie wir diese mit Parteien, Beamten, Bildungs- und Wissenschafts­einrichtungen, Unternehmen, Verbänden, Experten, Publizisten und Bürgern diskutieren, kommentieren und verfeinern – ohne die Hilfe von Journalisten. Ihre Rolle auf Twitter ist eine zentrale. Sie sind in the business of sensemaking. Und am Ende geht es beim Sensemaking um das wahre Wesen des Menschen: Ist er gut oder schlecht?

Was würden Sie sagen?
Solange er zu essen hat, ist er eigentlich gut.

Zu den Gesprächen zum Jahreswechsel

Was war das für ein Jahr? Was hat Sie am meisten beschäftigt? Und was erwarten Sie vom Jahr 2023? Diese Fragen haben wir Menschen gestellt, die 2022 auf die eine oder andere Weise besonders gefordert waren. Den Auftakt macht Tech­unternehmerin Bea Knecht.

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