Heimspiel einer Weitgereisten: Gunilla Palmstierna-Weiss in Stockholm (Moderna Museet, 2019). Åsa Lundén/Moderna Museet-Stockholm

Ein europäisches Leben

Die Bildhauerin Gunilla Palmstierna-Weiss überlebte den Holocaust und arbeitete mit Künstlern auf der ganzen Welt zusammen. Wenige Wochen vor ihrem Tod hatte unser Autor eine Begegnung mit einer unermüdlichen Arbeiterin.

Von Achim Engelberg, 16.12.2022

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Vorgelesen von Jonas Gygax
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Gunilla Palmstierna-Weiss war Keramikerin, Bildhauerin, Bühnen­bildnerin, Kostüm­ausstatterin, Kuratorin und Autorin. Anders als die ein Jahr nach ihr geborene Anne Frank überlebte sie als Mädchen die Schoah im besetzten Holland. In ihrer so besonderen Überlebens- und Lebens­geschichte spiegelt sich auch der Kampf um Gleich­berechtigung der europäischen Frau im 20. Jahrhundert.

Dieser Text war nicht als Nachruf geplant. Und jetzt, nachdem Gunilla Palmstierna-Weiss im November im Alter von 94 Jahren in Stockholm verstorben ist, hat dieses Porträt unweigerlich auch Nachruf-Charakter. Erst im September hatte ich sie noch zum Gespräch in Berlin getroffen.

In ihrem in diesem Herbst auf Deutsch erschienenen Buch «Eine europäische Frau» beleuchtet Palmstierna-Weiss die dunklen Winkel der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert und verwebt eigene Erinnerungen mit aus ihrer Familie überlieferten Anekdoten. Mitte des 19. Jahrhunderts kam ihr jüdischer Urgrossvater Peder Herzog, der eigentlich nach England wollte, aus Deutschland nach Schweden – angeblich, weil er das falsche Schiff genommen haben soll. Eine schicksalhafte Wendung, denn von hier aus entwickelte sich eine weitverzweigte, europäische Familie, deren Zentrum aber stets Stockholm und das Schwedische blieb. Durch die Ehe eines Enkels gibt es nun auch palästinensische Familien­mitglieder.

Nie wieder Deutsch sprechen

Mehrsprachigkeit bestimmte das Leben von Gunilla Palmstierna-Weiss schon, als sie noch ein Kind war: 1928 in Lausanne geboren, verbrachte sie die Kinderjahre in Paris, Wien und Berlin. Mit einem der letzten freien Züge entkam sie 1938 aus Nazi­deutschland nach Rotterdam. Der niederländische Ober­befehlshaber glaubte zwar noch, die Hafenstadt durch Kapitulation retten zu können. Doch trotz der überall sichtbaren weissen Flaggen bombardierte die deutsche Luftwaffe die Stadt in einem Blitzkrieg, von dem Palmstierna-Weiss in ihrem Buch so erzählt:

Sie flogen tief über der Stadt, streiften fast die Schornsteine, als sie die Bomben abwarfen, gewöhnliche Bomben, falls es so etwas gibt, und Brand­bomben. Überall im Hafen brannte es, sogar die Pfähle im Wasser brannten, weshalb das Gerücht die Runde machte, man hätte auch reines Phosphor eingesetzt. Die Bombardierung von Rotterdam war als grosses Warnsignal für Brüssel und Paris gedacht: Wenn ihr nicht kapituliert, werdet ihr ebenso ausgelöscht wie Rotterdam.

Gunilla Palmstierna-Weiss: «Eine europäische Frau».

Die Jüdin Palmstierna-Weiss entging nicht zuletzt aufgrund der schwedischen Staats­bürgerschaft ihres Vaters der Deportation ins Konzentrations- oder Vernichtungs­lager, dramatische und entsetzliche Szenen hat sie dennoch erlebt. Gegen Kriegsende schwor sie sich, nie wieder Deutsch zu sprechen.

Stockholmer Nächte

Filmreif ist, wie Palmstierna-Weiss 1952 ihren späteren Mann Peter Weiss kennenlernte, mit dem sie dreissig Jahre bis zu dessen Tod zusammen­lebte und zusammen­arbeitete. Bei ihrer ersten Begegnung provozierte er, der sich damals als Maler gerade so über Wasser halten konnte. Aufgrund ihres in Schweden bekannten Namens vermutete er: «Wohl auf einem Landsitz geboren und dort hast du nichts vom Weltkrieg mitbekommen?» Energisch erzählte die zwölf Jahre jüngere Gunilla ihre ungleich aufregendere Lebensgeschichte. Dann zeigte sie ihm den von ihr (unter dem Namen ihres damaligen Mannes) gestalteten Buch­umschlag von André Bretons «Nadja». Weiss nannte es sein Lieblings­buch, aber so ein hässliches Bild darauf – so sagte er zumindest – habe er noch nie gesehen. Schon am Ende dieses Gesprächs meinte Peter Weiss: «Wenn wir einmal eine Tochter bekommen, soll sie Nadja heissen.» Erstaunlicherweise kam es dann genau so, aber erst nach zwei Jahrzehnten des Zusammen­lebens.

In der ersten gemeinsamen Zeit versuchten sich Palmstierna und Weiss ohne Erfolg als Filme­macherinnen, lebten in der damals noch glanzlosen Altstadt von Stockholm, trafen sich mehrmals in der Woche mit Gleich­gesinnten, diskutierten nächtelang über Kunst und Politik. Sie verdiente am Theater bald mehr als ihr Mann, der nach der Macht­übernahme der Nazis nie dauerhaft aus dem Exil in Schweden nach Deutschland zurückkehren sollte.

Finanzielle Sicherheit gab es für das Paar erst, als der neue Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld ab 1960 Peter Weiss unter Vertrag nahm. Die berühmte Gruppe 47 lud Peter Weiss zwei Jahre später ein, und er bedauerte, dass Gunilla wegen fehlender Deutsch­kenntnisse nicht mitkommen konnte. Nun erst gestand sie ihm, dass sie die deutsche Sprache zwar beherrschte, aber sich entschlossen hatte, sie nie mehr zu sprechen. Nach einem heftigen Streit fuhren die beiden schliesslich gemeinsam nach Berlin.

Auch Sieger können Narben tragen

Ich traf Gunilla Palmstierna-Weiss im Uwe-Johnson-Salon des Berliner Literaturhotels. Im Kontrast zu seinem norddeutsch-kargen Namensgeber ist es ein üppiger Raum mit Biedermeier-Möbeln und orientalischen Teppichen, mit funkelnden Kronleuchtern und geschichts­trächtigen Fotos und Grafiken, mit golden verzierten Spiegeln und üppig gefüllten Fruchtschalen.

Den Berliner Stadtteil Friedenau, in dem das Literaturhotel liegt, kannte Palmstierna-Weiss noch aus den 1960er- und 1970er-Jahren als Zentrum der deutsch­sprachigen Literatur. Hier lebten und arbeiteten nicht nur Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger und Uwe Johnson. Auch Max Frisch nahm hier ab 1972 seinen Haupt­wohnsitz und blieb der Gegend verbunden bis zur Scheidung von seiner zweiten Ehefrau Marianne, die immer noch dort lebt.

In Berlin nahm auch die Karriere von Peter Weiss Fahrt auf, an der Gunilla Palmstierna-Weiss entscheidend beteiligt war. Für den ersten Welterfolg, das 1964 im Berliner Schiller­theater uraufgeführte Stück «Marat/Sade», das später zum Klassiker avancierte, recherchierte sie die entscheidenden französischen Dokumente, entwarf das Bühnenbild und die Kostüme. Auch an der New Yorker Aufführung des Stücks durch den Regisseur Peter Brook, der den Stoff später verfilmte, arbeitete sie massgeblich mit. Der Erfolg war so gross, dass sogar die Beatles anklopften, um gemeinsam ein Stück zu planen, aber Peter Weiss wies sie ab.

Gunilla Palmstierna-Weiss und ihr Ehemann Peter Weiss (1965). Harry Croner/ullstein bild/Getty Images

Engagement und Formwille zeichnen alle ihre Arbeiten aus. Vielleicht kann man, frei nach Kant, diese Arbeiten so charakterisieren: Politische Revolutionen ohne neue Ästhetik sind blind, ästhetische Revolutionen ohne Politik leer.

Spuren des Krieges erlebte das Paar im durch die Mauer geteilten Berlin nicht nur in Form von Freiflächen und Einschuss­löchern an Gebäude­fassaden. Die Klubs und Bars waren voller versehrter ehemaliger Kriegs­teilnehmer: Palmstierna-Weiss erinnert sich im Gespräch mit mir sowie in ihrem Buch an den Theater­kritiker Henning Rischbieter, der seinen linken Arm verloren hatte; oder an einen Kabarettisten, der mit nur drei Fingern fünf Bier bestellte. Und auch an den griechischen Komponisten und vormaligen Widerstands­kämpfer Iannis Xenakis mit seiner von Narben entstellten Gesichts­hälfte: Auch Sieger tragen Narben davon, das erfuhr Palmstierna-Weiss damals.

Von Machtmenschen

Zu dieser Zeit änderte sich ihr Bild von den Deutschen, die sie unmittelbar nach Kriegsende nur als Feinde gesehen hatte, die ihre gerechte Strafe bekamen. In Berlin traf sie Gleich­gesinnte, die gerade mit ihren beschädigten Leben und Körpern die Gesellschaft ändern wollten und die ebenfalls Versehrte waren, wie sie.

Kern des Buchs von Palmstierna-Weiss sind die Erzählungen aus ihrem Arbeitsleben, die sich beinahe wie eine exemplarische Geschichte des Kampfes um Gleich­berechtigung lesen. Dazu schreibt sie in berührenden Passagen über ihre Mutter Vera, die es den Kindern oft nicht leicht machte. Mit 45 Jahren beging Vera Selbstmord,

zermürbt von den Skandalen in ihrer Familie, zermürbt von den missglückten Ehen, zermürbt von Krieg und Isolation in Holland, zermürbt von einer verurteilenden patriarchalischen Gesellschaft.

Die Tochter dagegen erkämpfte sich die Achtung, die der Mutter, solange sie lebte, verwehrt blieb. Zuletzt sagte Palmstierna-Weiss, die mehr als doppelt so alt wurde wie ihre Mutter, sie empfinde «grosse Traurigkeit, Zärtlichkeit und Mitgefühl für ein vergeudetes Frauenleben», wenn sie an die Mutter denke.

Niemals trennte Palmstierna-Weiss den Feminismus aus der Gesellschaft heraus. Deshalb steht auf der letzten Seite des Buches:

Sowohl Frauen als auch Männer können Macht­menschen sein. Das hängt von der Gesellschafts­struktur ab.

Bis zum Tod von Peter Weiss 1982 bereiste das Paar neben Europa auch die USA, Mexiko, Kuba oder Vietnam. Parallel und jahrzehntelang arbeitete Palmstierna-Weiss mit Grössen des Theaters und der Oper wie Fritz Kortner oder – nicht weniger als 19-mal – mit Ingmar Bergman zusammen. Im Buch findet man Erinnerungen und Dokumente dazu, die trotz aller Auseinander­setzungen auf ein gutes Verhältnis schliessen lassen – auch als Bergman zum fast unantastbaren Regiegott aufstieg.

«Ingmar hat nicht alles gemacht», nahm sie den Regisseur im Gespräch mit mir in Schutz, «was man heute des Öfteren lesen kann. Ich kann es zwar nicht für den Film beurteilen. Aber für das Theater kann ich sagen, dass ich mich um die Bühne kümmerte und wir anschliessend diskutierten. Es war eine sehr angenehme und freie Arbeit. Was ich erst nach einigen Produktionen bemerkte, war, dass er sich manchmal eine Person herauspickte, auf der er seine Aggressionen ablud.»

Palmstierna-Weiss lernte darüber hinaus eine Fülle von bekannten Künstlern kennen, von Samuel Beckett bis Jean-Luc Godard, von Andrei Tarkowski bis Heiner Müller. In ihrem Buch zeigt sie ihre Weggefährten als Kämpfende auf der Bühne des Lebens, nicht starr wie in Bernstein eingeschlossene Insekten. Ihre Anekdoten haben oft die Qualität szenischer Charakterisierungen.

Zurückweisungen und Vorwürfe

Immer wieder hat Palmstierna-Weiss Zurück­weisungen ihrer Arbeit als Frau und als radikal linke Künstlerin erlebt. Besonders schmerzhaft waren für sie Herabsetzungen durch Gleichgesinnte oder Weggefährten. So schildert sie eine Begegnung mit Siegfried Unseld, der einmal zu ihr gesagt habe: «Gunilla, jetzt, wo Peter seinen grossen Durchbruch bekommen hat, hängst du doch wohl deinen Beruf an den Nagel und kümmerst dich nur um ihn?» Als das Paar dies als absurd bezeichnete, habe der Suhrkamp-Verleger geantwortet: «Solche Frauen wie du machen einen Mann impotent.»

Das Paar arbeitete in getrennten Ateliers. «Peter schrieb und ich entwarf Bühnenbilder oder Kostüme», erzählt Gunilla Palmstierna-Weiss bei unserem Treffen. «Gegen 17 Uhr las er mir vor, was er geschaffen hatte, und wir redeten darüber. Und dann schaute er meine Sachen an und wir diskutierten, wobei es auch mal heftig werden konnte. Das gehörte bis zuletzt dazu. Unsere Tochter Nadja fragte manchmal: ‹Ist das jetzt ein privater Streit oder ein Arbeits­streit?› Bei Letzterem wusste sie, alles ist in Ordnung.»

In der langen Arbeits-, Emanzipations-, Lebens- und Liebes­geschichte, die in «Eine europäische Frau» beschrieben wird, treten aber auch immer wieder private Abgründe zutage, auf die die Autorin nicht im gleichen Masse eingeht wie auf gesellschaftliche Widersprüche.

Gemeinsam recherchierte das Paar für das Oratorium «Die Ermittlung», das auf Dokumenten des von ihnen vor Ort verfolgten ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses beruht. Die beiden besuchten dafür Orte des Grauens, zusammen mit Anna Seghers fuhren sie nach Buchenwald und reisten weiter nach Auschwitz. Als das Stück zu einem internationalen Erfolg avancierte, gab es oftmals anonyme Drohungen und Vorwürfe wie: «Ein Jude, der am Leid der Juden Geld verdient, typisch jüdisch.» Bis heute kommen die Einkünfte des immer noch häufig aufgeführten «Oratoriums in 11 Gesängen», wie der Untertitel lautet, Opfern gewalttätiger Regimes zu.

Nach dem Tod von Peter Weiss kümmerte sich seine Frau um den Nachlass und setzte ihre eigene Arbeit auf der ganzen Welt fort. Im Buch beschreibt Palmstierna-Weiss eingehend ihre geschichts­trächtigen Arbeitsorte. Das Opernhaus im ukrainischen Odessa gleiche äusserlich dem in Wien. Als sie 2004 dort arbeitete, wurde ständig saniert, da der sumpfige Boden mit Gängen aus dem Zweiten Weltkrieg unterkellert war, die abzusacken drohten. Ihre Orts­beschreibungen wirken mit ihrer charakterisierenden Metaphorik wie Bühnenbilder.

Palmstierna-Weiss hat sowohl in der Ukraine als auch in Russland gearbeitet. Als ich sie während unserer Unterhaltung auf den Russland-Ukraine-Krieg ansprach, sagte sie: «Was Russland jetzt macht, ist für mich ein so ungeheurer Schrecken, der meine Erinnerungen wieder wachruft an die Bombardierung Rotterdams, die Besatzung Hollands, wo selbst Radios verboten waren, an das zerstörte Berlin. Alle diese Erinnerungen bedrängen mich – bis in meine Träume.»

Zum Autor

Achim Engelberg schreibt Beiträge und kuratiert Veranstaltungen zu Migration, Flucht und Erinnerungen; zuletzt erschien das erzählende Sachbuch «An den Rändern Europas» (DVA, Penguin Random House).

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