Putins Milliarden in Zug

Vor drei Monaten wurden die Pipelines von Nord Stream gesprengt. Jetzt entscheidet ein Zuger Richter über das Schicksal des russischen Unternehmens. Wie kommt das? Und warum führen die Spuren internationaler Skandale immer wieder in die Zentralschweiz?

Von Lukas Häuptli (Text) und Benjamin Güdel (Illustration), 15.12.2022

Vorgelesen von Danny Exnar
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Bum. Bum. Bum. Bum.

Der Sprengstoff explodierte am 26. September 2022. Mitten in der Ostsee, 70 Meter unter Meer, die Explosionen rissen riesige Löcher in die beiden Pipelines. Durch die Lecks strömten Unmengen von klima­schädlichem Gas zunächst ins Meer und schliesslich in die Atmosphäre.

Es waren Putins Pipelines. Zwar gehört die eine Nord Stream 1, die andere Nord Stream 2. Aber am ersten Unter­nehmen hält Russlands Staats­konzern Gazprom 51 Prozent der Aktien, am zweiten sogar 100 Prozent. Und so floss von 2011 an russisches Gas durch die Ostsee nach Europa.

Doch dann kam der Krieg, dann kamen die Sprengstoff­anschläge, und seither ist alles anders.

Seither fragt man sich, wer für die Anschläge verantwortlich ist. Putin, wie viele im Westen vermuten? Grossbritannien, das von Russland beschuldigt wird? Die USA? Die Ukraine? Jemand anderes?

Deshalb ist das eine Geschichte über Geopolitik, über Europas jahrelange Abhängigkeit von russischem Gas und darüber, wie Putin sich diese Abhängigkeit zunutze machte.

Es ist aber auch eine Geschichte, die während Jahren in der Schweiz spielt, die von reichen Zuger Treuhändern und Anwältinnen handelt und die ihr Ende an der Hinterberg­strasse 38A in Steinhausen ZG findet. Hier – zwischen Lidl und einem «Premium Business Center» – hat die Nord Stream 2 AG mittlerweile ihren Sitz.

Das Energie­problem des Westens

Hier hat Ulrich Lissek sein Büro. An den Wänden stehen schwarze Schränke, daneben hängt ein Flach­bildschirm, auf dem Tisch steht das Modell eines Schiffs, mit dem Pipelines im Meer gebaut werden. Sonst? Leere. Die Nord Stream 2, deren Kommunikations­verantwortlicher Lissek ist, spart.

«Nehmen wir an, es gäbe fünf Thesen», sagt er. «Fünf Thesen, wer für die Anschläge verantwortlich ist. Ich kann Ihnen aber zu jeder dieser Thesen fünfzig Argumente aufzählen, warum genau sie nicht stimmt.»

Es gebe zum Beispiel Personen, die behaupteten, der Sprengstoff sei bereits beim Bau der Pipelines angebracht worden. «Das ist Unsinn. Das ist technisch gar nicht möglich.»

Lissek – gross, Bart, Brille – ist 65 Jahre alt. Er weiss viel, er redet viel, selten sagt er: «Zu dieser Frage kann ich mich nicht äussern.» Oft kann er. Er gibt dann Antworten auf Fragen, die niemand gestellt hat, redet bilderreich und landet auch einmal bei seinem Spanien-Urlaub in den 1980er-Jahren. Mit Pipelines hat der nichts zu tun.

An der Fassade draussen vor dem Büro hängen Schilder, auf denen steht: «Nord Stream 2. Committed. Reliable. Safe». Es ist das Gegenteil vom gegenwärtigen Zustand des Unternehmens.

«Die Pipelines sind kaputt», sagt Lissek. Zwar sei der Druck in einer der Röhren von Nord Stream 2 noch immer stabil. «Das bedeutet aber nicht, dass durch diese Röhre Gas gepumpt werden kann. Womöglich ist auch sie beschädigt.»

Beschädigt. Kaputt. Dabei hatte alles so gut angefangen.

2005 wurde die Nord Stream 1 gegründet (die offiziell Nord Stream AG heisst und ihren Sitz auch in Zug hat). Europa hatte schon damals ein Energie­problem, seine Gasvorräte gingen zur Neige. Da kamen Russland und seine Ressourcen gerade recht. Die erste Pipeline war nämlich nicht nur ein Projekt der Energie­wirtschaft, sondern auch eines der Geo­politik. Das Mantra im Westen lautete «Wandel durch Handel». Enge wirtschaftliche Beziehungen sollten Russland zu demokratischen Reformen bringen. Auch dank – oder vielmehr trotz Putin.

Ob das Mantra wahrer Überzeugung entsprang oder blosser Vorwand für gute Geschäfte war, ist schwer zu sagen. Jedenfalls wurde 2015 – ein Jahr nach Russlands Besetzung der ukrainischen Krim – die Nord Stream 2 gegründet. Aus einer Pipeline sollten zwei werden.

Es blieb beim Konjunktiv. Wegen der wachsenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen verweigerte Deutschland Ende letzten Jahres die für den Betrieb nötige Zertifizierung der Röhren. Und am 23. Februar 2022 setzten die USA die Nord Stream 2 auf ihre Sanktions­liste. Sie begründeten den Schritt vor allem damit, dass die Pipelines ganz anderen Zwecken dienten als ursprünglich gedacht. Putins Ziel sei es, Europa von russischem Gas abhängig und so erpressbar zu machen. (Die Nord Stream 1 verschonten die Amerikaner nur, weil sie deren Minderheits­aktionäre nicht bestrafen wollten, die vier westeuropäischen Energie­konzerne Wintershall Dea (D), Eon (D), Engie (F) und Gasunie (NL).

Am Tag danach fiel Russland in der Ukraine ein.

Und von da an kämpfte Nord Stream 2, Russlands Unternehmen in der Schweiz, ums Überleben.

«Die Guillotine fiel», sagt Ulrich Lissek. «Wir wurden toxisch.»

Innert weniger Stunden hätten zahlreiche Firmen die Geschäfts­beziehungen zur Nord Stream 2 gekappt, erzählt er, vor allem Banken, Versicherungen und Tele­kommunikations­unternehmen, aber auch viele mittlere und kleine Firmen.

Sie alle wollten schlicht nichts mehr mit Putins Pipeline-Firma zu tun haben – einerseits aus Angst, dass die amerikanischen Sanktionen auch sie treffen könnten. Andererseits, weil sie einen Reputations­schaden befürchteten. Geschäfte mit einem Unternehmen, das faktisch dem russischen Kriegs­treiber gehört? Das dann lieber doch nicht.

Zug – die Hauptstadt der Skandale

Die Geschichte der Nord Stream 2, ihres russischen Besitzers und der Anschläge samt deren Umwelt­schäden ist eine Geschichte, die sich wiederholt:

Draussen in der Welt kommts zum Skandal. Und die Spuren des Skandals führen nach Zug.

Das war 2010 so, als im Golf von Mexiko die Plattform «Deepwater Horizon» Feuer fing. Während Monaten floss Öl ins Meer, rund 800 Millionen Liter. Die Folgen für Meer und Tiere zeigten sich noch Jahre später. Betreiberin der Plattform war das Unternehmen Transocean, das seinen Sitz in Steinhausen ZG hat.

Das war so im Fall von Glencore, als Konzern­verantwortliche während Jahren afrikanische und südamerikanische Regierungen bestachen. Der Rohstoff­konzern mit Sitz in Baar ZG erhielt im Gegenzug Abbau­rechte. Wegen der mutmasslichen Bestechungen zahlte Glencore in den USA, Gross­britannien, Brasilien und Kongo-Kinshasa allein im Jahr 2022 Bussen in der Höhe von mehr als einer Milliarde Dollar.

Das war 2020 so, als in Sibirien rund 21’000 Tonnen Diesel aus einem Tank in den Boden sickerten und Umwelt­schäden anrichteten. Der Tank gehörte dem Bergbau­konzern Nornickel, der seine Geschäfte im Wesentlichen über die Firma Metal Trade Overseas mit Sitz in Zug abwickelt.

Und das war 2022 so, als wegen des Kriegs in der Ukraine Sanktionen gegen russische Unternehmen und Privat­personen verhängt wurden. Zahlreiche haben einen Bezug zu Zug. Unter anderem sind die sanktionierten Firmen Adorabella AG, Chlodwig Enterprises AG und Nord Stream 2 AG im Kanton domiziliert. Aber auch sanktionierte Privat­personen wie der russische Putin-Vertraute Andrei Melnitschenko pflegen enge Beziehungen zur Schweiz. Melnitschenko hat eine Villa in St. Moritz und ist Eigentümer des Düngemittel-Konzerns Eurochem mit Sitz in Zug.

Die NZZ schrieb dazu: «In der Stadt Zug und den umliegenden Gemeinden liegt der nächste Skandal buchstäblich um die Ecke.»

Doch der «Hauptstadt der Skandale» (NZZ) und ihrem Umland ists egal. Seit Jahren wählen die Stimm­berechtigten die immer gleichen bürgerlichen Mehrheiten in Legislative und Exekutive. Letztes Mal war das Anfang Oktober der Fall.

Im Regierungsrat sitzen seit vier Jahren sogar nur noch Vertreter von SVP, FDP und Mitte. Ihr starker Mann: Finanz­direktor Heinz Tännler. Der 62-Jährige arbeitete einst beim Fussball-Weltverband Fifa, wechselte vor zwanzig Jahren von der FDP zur SVP und kandidierte zweimal erfolglos für den Bundesrat, das letzte Mal vor ein paar Wochen für den Sitz des abtretenden Finanz­ministers Ueli Maurer.

«Herr Tännler, können wir uns zum Gespräch treffen?»

Die Anfrage trifft beim Regierungsrat an einem Freitagabend um 18 Uhr ein. Am Freitagabend um 21 Uhr schreibt er zurück: «Das können wir.»

Der starke Mann der SVP

Die Stadt Zug hat einen alten Teil und einen neuen Teil. Sie stehen zueinander in geradezu groteskem Gegensatz. Der alte ist eine pittoreske Idylle aus Altstadt und Seeanlage. Der neue besteht aus Bürobauten, die in ihrer Seelen­losigkeit aus 3-D-Druckern stammen könnten. Das Interessanteste sind die Briefkästen. Auf ihnen sind die Unternehmen aufgeführt, die hier ihr Domizil haben. 215 Firmen sind es allein in einem Gebäude hinter dem Bahnhof.

Im neuen Zuger Teil hat auch Tännler sein Büro. Fünfter Stock, in den Etagen darunter befinden sich Rohstoff­gesellschaften, Finanz­gesellschaften und eine Steuerrechts­kanzlei. Das Büro des Regierungs­rats brachte es im letzten Frühling zu einer gewissen Bekanntheit, nachdem Tännler vor laufender Kamera seinem Steueramts­chef telefoniert und ihn gefragt hatte, ob der Kanton Zug tatsächlich Vermögens­werte sanktionierter Russen erfassen müsse.

Nein, nein, müsse er nicht.

Jetzt spricht der Finanz­direktor allerdings nicht über Sanktionen, sondern über die «Standort­vorteile» von Zug.

Wenn er spricht, streut er gern auch einmal längst vergessene Ausdrücke aus dem Schweizer­deutschen ein und solche aus dem Englischen. Dann sagt er etwa «vo Händsche» und «bei den Citizens». Als wolle er zeigen, dass er nicht nur zur angeblichen Bauern­partei SVP gehört, sondern auch zur Community der zugewanderten Expats, die in Zug für Reichtum sorgen.

Herr Tännler, der Kanton Zug hat vor allem einen Standort­vorteil: seine Tiefsteuer­politik.
Ich nenne das nicht Tiefsteuer­politik. Ich nenne das eine bürgernahe Politik. Wir haben nicht die Absicht, jemanden steuerlich zu umdribbeln.

Aber die tiefen Steuern sind ein Standort­vorteil?
Ja, natürlich zählt die Steuer­situation zu den wichtigsten Standort­vorteilen von Zug.

Zu den tiefen Steuern kommen die Rulings. Mit diesen Deals kommen Sie Unternehmen zusätzlich entgegen.
Rulings sind keine Deals, Rulings sind Steuer­vorab­bescheide. In diese bringe ich mich nicht ein, sie gehören zum operativen Geschäft der Steuer­verwaltung. Bei steuer­rechtlichen Fragen besteht aber kein grosser Handlungs­spielraum. Neben den Gesetzen geben die Kreis­schreiben der Eidgenössischen Steuer­verwaltung genau vor, was man darf und was man nicht darf.

Nur sind die Steuer­berater der Unternehmen der Steuer­verwaltung des Bundes immer ein paar Schritte voraus.
Es mag sein, dass die Kreis­schreiben der Eidgenössischen Steuer­verwaltung der Realität ein wenig hinterher­hinken. Aber schauen Sie: In der Schweiz herrscht Steuer­wettbewerb. Und ein bisschen Steuer­wettbewerb ist glaub nicht schlecht.

Ins Detail will Tännler nicht gehen. Denn Steuern gleich Steuer­geheimnis. Und das Steuer­geheimnis wird in Zug heute strenger gehütet als das Beicht­geheimnis – der katholischen Tradition des Kantons zum Trotz.

Also erzählt der Finanz­direktor von den anderen Standort­vorteilen.

«Die Nähe der Verwaltung zur Wirtschaft ist ein Marken­zeichen des Kantons Zug. Man kann den Telefon­hörer in die Hand nehmen und man kommt an die Leute ran – auch an die Leute in der Regierung.»

Und: «Wir haben einen intensiven institutionalisierten Austausch mit der Wirtschaft, namentlich mit dem Präsidenten der Wirtschafts­kammer. Da sind dann aber auch der Advokaten­verein, der Treuhänder­verband, der Steuer­experten­verein und die Rohstoff­vereinigung dabei. Bei diesem Austausch kann man beidseitig Erwartungs­haltungen adressieren und auf Optimierungs­potenzial hinweisen.»

Und schliesslich sagt Tännler: «Zug war ein mausarmer Agrar­kanton. Deshalb orientiert man sich nach oben.»

Geld stinkt nicht. Nie

In der Tat lebten im Kanton bis weit ins 19. Jahrhundert hauptsächlich Bauern. Zug war eine der ärmsten Gegenden der Schweiz. Dann kam die Industrialisierung und mit der Industrialisierung der Einzug der Spinnereien, der Lebensmittel- und der Maschinen­industrie. Landis & Gyr und die Verzinkerei Zug wurden wichtige Unternehmen.

Noch wichtiger aber war eine Entwicklung, die in den 1920er-Jahren einsetzte.

Der Kanton senkte die Steuern.

Und senkte die Steuern.

Und senkte die Steuern.

Und wurde zu dem, was 1963 selbst der «New York Times» eine Schlagzeile wert war: zum «Swiss tax haven».

Zug führte Sonderrechte für Gemischte Gesellschaften, Holdings und Domizil­gesellschaften ein. Daneben senkten die Regierung und das Parlament immer wieder die ordentlichen Steuer­sätze für Unternehmen und Privat­personen; allein in den 1970er- und 1980er-Jahren kam es unter dem damaligen FDP-Regierungsrat Georg Stucky zu rund einem Dutzend Steuer­gesetz­revisionen. Heute hat der Kanton Zug die tiefsten Steuern für natürliche Personen in der Schweiz überhaupt; auf der Liste der Kantone mit den tiefsten Unternehmens­steuern liegt er auf Rang 2 (hinter Nidwalden).

Deshalb sammeln sich hier Reichtum und Reiche. Sie haben die Bauern längst verdrängt, unten rund um Zug, Baar und Cham, aber auch oben an den Hängen von Unter- und Oberägeri, von wo der Blick aus den Villen über den Ägerisee bis in die Alpen reicht.

Und deshalb schloss der Kanton seine letzte Rechnung mit einem Überschuss von fast 300 Millionen Franken ab. Auf seiner Website schreibt er: «Heute ist Zug der finanzstärkste Kanton der Schweiz mit einer vorbildlichen Steuer­politik für natürliche und juristische Personen.»

Kritischer sieht es Luzian Franzini. Er sitzt für die «Alternative – die Grünen» im Kantonsrat, ist Co-Präsident der Partei und gilt in Zug trotz seiner erst 26 Jahre als eine der wichtigsten Stimmen der Opposition. «Die bürgerliche Mehrheit im Kanton Zug hat während Jahren vor allem die Steuern gesenkt», sagt er. «Sie sorgte dafür, dass sich hier Unternehmen aus der ganzen Welt ansiedelten – auch äusserst problematische Unternehmen.» Man könne es auch anders sagen: «Die Regierung und die Verwaltung machen alles für die Wirtschaft. Sie machen reine Willfährigkeits­politik.»

Oder nochmals anders: Zug ist überzeugt, dass Geld nicht stinkt. Nie.

Wegen der tiefen Steuern ist im Kanton Zug in den letzten Jahrzehnten fast alles gewachsen, vor allem aber die Zahl der Arbeits­plätze (von rund 80’000 im Jahr 2010 auf 120’000) und die Zahl der Einwohner (von rund 110’000 auf 130’000). Auch aus diesem Grund herrscht akute Wohnungsnot. Es ist kein Zufall, dass ein Zuger Immobilien­makler für die Vermittlung einer Liegenschaft 5000 Franken Prämie verspricht. Und auch kein Zufall, dass das aargauische Sins heute einen «Zuger Hügel» hat. Hier wohnen Familien, die wegen der horrenden Mieten aus Zug wegziehen mussten.

Trotzdem sagt Heinz Tännler: «Der Kanton Zug ist sehr sozial unterwegs.»

Little Russia

Seit letztem Frühling setzen die Skandale rund um den russischen Krieg Zug zu, die Skandale um Putin, Putins Entourage und ihre Unternehmen.

Warum aber haben so viele dieser Unternehmen ihren Sitz gerade hier? Was ist – neben den tiefen Steuern – der Grund dafür?

Wer das wissen will, muss ins Zuger Staatsarchiv und ins Archiv des kantonalen Handels­register­amtes steigen.

Und er muss Jo Lang treffen. Lang stand am Anfang der Partei «Alternative – die Grünen». Zwölf Jahre war er Zuger Gemeinderat, zehn Jahre Zuger Kantonsrat, acht Jahre Zuger Nationalrat. Deshalb gilt er, der promovierte Historiker, als Lexikon der Zeit­geschichte von Stadt und Kanton.

Heute lebt der 68-Jährige in Bern. In seinem Arbeits­zimmer hat er säuberlich alte Artikel, alte Fotos und alte Reden bereitgelegt. Dann erzählt er, und seine Erzählung über die russischen Unter­nehmen in Zug geht so:

Grundlage von allem war die Schweizer Neutralität. Sie machte das Land während des Kalten Krieges attraktiv für allerlei Geschäfte – auch für Geschäfte zur Umgehung der amerikanischen Sanktionen gegen die DDR.

Die Geschäfte wurden über verschiedene Tarnfirmen in Zug, die sogenannte Beschaffungs­linie 4, abgewickelt. So gelangten Hochtechnologie-Geräte trotz US-Sanktionen aus dem kapitalistischen Westen in den kommunistischen Osten.

Schaut man sich im Staats­archiv die Akten dieser Firmen an, staunt man, wie viele Zuger Bürgerliche mit ihnen verbunden waren, sei es als Berater, Anwälte oder Verwaltungsräte. Einer von ihnen ist der ehemalige CVP-Gemeinderat Urs Hausheer. Er sitzt heute im Verwaltungsrat der Nord Stream AG.

Ein anderer Strippen­zieher war Matthias Warnig, ein Putin-Vertrauter und ehemaliger Mitarbeiter des Ministeriums für Staats­sicherheit (Stasi) der DDR. Heute ist er CEO der Nord Stream 2 AG.

(Alle Beteiligten bestreiten übrigens, etwas mit den damaligen Umgehungs­geschäften zu tun gehabt zu haben.)

«Für das Verhältnis zwischen Zug und Russland ist das symptomatisch», sagt Jo Lang. «Das Verhältnis begann im Kalten Krieg, dauert aber bis heute an – mit den zum Teil gleichen Personen. Es gibt eine Stasi-Putin-Kontinuität.»

Dazu gesellte sich im Verlauf der Jahre allerlei Polit- und Wirtschafts­prominenz. Der Bekannteste ist Deutschlands Ex-Kanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder. Er ist heute Verwaltungsrats­präsident der Nord Stream 2 AG.

Das Geld für den Schweizer Meister im Eishockey

Das alles schien während Jahren kaum jemanden zu stören. Die Putin-nahen russischen Unternehmen waren integrierter Bestandteil der Zuger Wirtschaft und Gesellschaft.

Nord Stream etwa machte regelmässig Betriebs­führungen für die Bevölkerung, zahlte Beiträge an die Fachstelle Migration der kantonalen Volkswirtschafts­direktion und wurde Hauptsponsor des EV Zug. Auch dank der gut gefüllten Klubkasse holte der Eishockey­klub in den letzten zwei Jahren zweimal den Schweizer Meistertitel. (Als Russland im Februar in die Ukraine einmarschierte, distanzierte sich der EV Zug allerdings von seinem umstrittenen Geldgeber.)

Wie Akten aus dem Handels­register­amt zeigen, verdienten an den russischen Firmen auch zahlreiche Zuger Anwälte, Treu­händerinnen und Berater während Jahren gutes Geld. Sehr, sehr gutes Geld.

Die Nord-Stream-Verantwortlichen ihrerseits erhielten einen direkten Draht zur Zuger Regierung. Diese schrieb im letzten September in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage zu den beiden russischen Unternehmen: «Im Rahmen der Wirtschafts­pflege (…) wurden auch die genannten Firmen besucht»; zudem sei es «an den vielen Wirtschafts­veranstaltungen» zu «spontanen Kontakten» mit ihnen gekommen.

SVP-Regierungsrat Heinz Tännler will sich zu diesen Kontakten nicht äussern. Er sagt: «Die russischen Firmen in Zug sind weniger wichtig, als man meinen könnte. Sie zahlen auf Bundes-, Kantons- und Gemeinde­ebene rund 50 Millionen Franken Steuern. Das ist ein Bruchteil aller Steuer­einnahmen.»

Die Umgehung der Sanktionen

Für Zug galt jahrelang: Russische Unternehmen sind Unternehmen wie alle anderen auch. Problemlos. Solange sie Steuern zahlen.

Das Bild änderte sich erst nach der Besetzung der Krim durch Putin. Zögerlich zwar: Der Bundesrat zum Beispiel weigerte sich 2014, die EU-Sanktionen gegen Russland zu übernehmen. Und Deutschland setzte weiter auf russisches Gas. Aber immerhin: Das Bild änderte sich.

So verhängten die USA 2019 Sanktionen gegen diejenigen Firmen, welche die Pipeline der Nord Stream 2 fertig bauen sollten. Damals fehlten nur noch ein paar Kilometer Röhren, und zwar vor der Küste Ostdeutschlands.

Aus diesem Grund entstand – zur Umgehung der Sanktionen und zur Fertig­stellung der Pipeline – ein Tarn­konstrukt: die Stiftung Klima- und Umweltschutz. Sie wurde vom deutschen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern gegründet, stand aber weitgehend unter russischem Einfluss. So flossen rund 20 Millionen Euro von Nord Stream 2 sowie rund 200 Millionen Euro der Nord-Stream-Aktionärin Gazprom in die Stiftung.

Als das Tarn­konstrukt im letzten Frühling aufflog, kam es in Mecklenburg-Vorpommern zu einem politischen Erdbeben. Heute geht ein parlamentarischer Untersuchungs­ausschuss der Frage nach, welche Verantwortung die Regierung des Bundes­landes für die Stiftung hatte.

«Von Anfang an wurde verheimlicht, getäuscht und getrickst. Die Regierung von Mecklenburg-Vorpommern hat sich zur willfährigen Handlangerin des Kreml gemacht», sagt Hannes Damm, Mitglied des Untersuchungs­ausschusses und Abgeordneter der Grünen.

Wegen der Umgehung der ersten Sanktionen verhängten die USA am 23. Februar 2022 zweite Sanktionen. Weiter gehende. Dieses Mal traf es die Nord Stream 2 AG selbst.

«Ich verwahre mich gegen den Vorwurf, dass die Nord Stream 2 AG die Stiftung Klima- und Umwelt­schutz zur Umgehung der US-Sanktionen missbraucht hat», sagt Ulrich Lissek, Kommunikations­verantwortlicher des Unternehmens. Er selbst sei im Übrigen nie in die Stiftung involviert gewesen.

Lissek arbeitet seit 2009 für Nord Stream. Während Jahren hatte er sein Büro in der Zuger Innenstadt. Jetzt, seit letztem September, ist es draussen im Industrie- und Büroviertel von Steinhausen. Bahnstation Rigiblick, Hinterbergstrasse 38A, nicht weit ists bis zu «Herbis Tüpfli Grill». Man fragt sich, was die Architekten, die die Gebäude hier bauten, studiert haben. Architektur eher nicht.

Lissek arbeitet noch bis Ende dieses Jahres. Dann wird er pensioniert.

Ende dieses Jahres entscheidet sich auch das Schicksal der Nord Stream 2 AG.

Putins Milliarden

Nachdem die USA im letzten Februar ihre Sanktionen verhängt hatten, konnte das russische Unternehmen seinen Konkurs nur noch knapp abwenden. Im Mai genehmigte das Zuger Kantons­gericht einen Antrag auf Nachlass­stundung. Das geschieht, wenn die Sanierung einer Firma zumindest noch im Bereich des Möglichen liegt. Im September dann verlängerte das Gericht die Stundung. Deshalb muss die Nord Stream 2 AG seit ein paar Monaten vor allem eines: sparen. Die Zahl der Mitarbeiter ist laut Lissek mittlerweile von vormals 220 auf 40 geschrumpft.

Verantwortlich für die beiden Nachlass-Entscheide war – wie in solchen Fällen üblich – ein Einzelrichter des Zuger Kantons­gerichts. Er heisst Pascal Stüdli, ist 50 Jahre alt und Mitglied der Mitte-Partei. Zum Fall will er sich nicht äussern.

Die vorläufige Bilanz des Falls:

Die Forderungen der Gläubiger von Nord Stream 2 AG belaufen sich auf «mehrere Milliarden Euro», wie Ulrich Lissek sagt. Ein grosser Teil davon sind ausstehende Darlehen, die fünf westliche Energie­konzerne der Nord Stream 2 für den Bau der beiden Pipelines gewährt hatten. Bei den Konzernen handelt es sich um Wintershall Dea (D), Uniper (D), Shell (GB), Engie (F) und OMV (Ö). Zusammen mit den Darlehens­zinsen dürften sich ihre Forderungen auf mindestens fünf Milliarden Euro belaufen.

Auf der anderen Seite verfügt die Nord Stream 2 AG noch immer über beträchtliche Vermögens­werte. Ulrich Lissek sagt es so: «Es gibt werthaltige Aktiven.» Dazu zählt auch das Aktien­kapital des Unternehmens, das von Gazprom stammt. Akten aus dem Archiv des Zuger Handels­register­amts zeigen, dass der russische Konzern allein im Rahmen der letzten Aktien­kapital­erhöhung 710 Millionen Euro in die Nord Stream 2 steckte. Das Geld stehe dieser «zur freien Verfügung», steht in einem Schreiben der Nord-Stream-Bank Credit Suisse. Alles in allem flossen von Gazprom vermutlich mehrere Milliarden Euro in das Unternehmen und dessen Pipeline-Projekt. Es war gewisser­massen Putins Geld.

Und schliesslich ist da ja auch noch eine gesprengte Pipeline.

Das ist, soweit bekannt, die Ausgangslage für Richter Stüdli. Am 23. Dezember 2022 ist am Kantonsgericht Zug die nächste Verhandlung angesetzt. Dann entscheidet Stüdli über das Schicksal des Putin-nahen Unternehmens. Entweder verlängert er die Nachlass­stundung ein weiteres Mal.

Oder er eröffnet den Konkurs gegen die Nord Stream 2 AG. Es wäre das Ende eines Unternehmens, mit dem Putin Europa erpressen wollte.

Bum.

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