
Die Schweizer Armee ist grösser als erlaubt
Das Verteidigungsdepartement klagt immer wieder, das Militär habe nicht genug Soldaten. Doch die Zahlen zum Armeebestand zeigen das Gegenteil. Ab dem neuen Jahr ist dieser Zustand sogar rechtswidrig.
Von Priscilla Imboden (Text) und Felix Michel (Grafiken), 12.12.2022
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«Die Armee wird gegen Ende des Jahrzehnts Schwierigkeiten haben, den Effektivbestand von 140’000 Armeeangehörigen sicherzustellen», teilte der Bundesrat im Frühjahr mit.
«Der Armee laufen die Soldaten weg», titelte 2021 der «Tages-Anzeiger» zu einem Bericht des Bundesrats. Drei Jahre vorher hatte Stefan Holenstein, damals Präsident der Offiziersgesellschaft, eindringlich in einem Gastkommentar in der NZZ gewarnt: «Es ist fünf vor zwölf.» Insbesondere unter den Jungen grassiere «die Vorstellung einer faktischen Wahlfreiheit zwischen Militär- und Zivildienst».
Die Botschaft ist klar und deutlich: Die Schweizer Armee ist gefährdet. Schuld daran sind demnach die faulen Abschleicher und Wehrdienstmuffel, die sich in den Zivildienst verkrümeln.
Bei genauerem Hinschauen zeigt sich aber, dass der Armee die Soldaten gar nicht ausgehen. Langfristig nicht, und kurzfristig schon gar nicht. Ganz im Gegenteil.
Die Zahlen zeigen: Die Armee ist zu gross.
Bald ist die Armee nicht mehr rechtskonform
Aber wie gross darf die Armee überhaupt sein? Das Parlament hat dies in der Verordnung über die Organisation der Armee gleich an erster Stelle festgelegt: «Die Armee verfügt über einen Sollbestand von 100’000 und einen Effektivbestand von höchstens 140’000 Militärdienstpflichtigen.»
Der Sollbestand beschreibt, wie viele Armeeangehörige bei einer Mobilmachung einrücken müssen. Da erfahrungsgemäss nur etwa 70 Prozent der Aufgebotenen tatsächlich erscheinen, braucht es mehr ausgebildete Soldaten und Offizierinnen. Das Verteidigungsdepartement (VBS) rechnet mit einem Faktor 1,4. Deshalb soll der Effektivbestand der Armee 140’000 Personen betragen. Maximal.
Tatsächlich gibt es aktuell aber mehr als 151’000 Armeeangehörige.
Das heisst: Die Schweizer Armee verfügt offiziell über 11’000 Personen zu viel, die zum Wehrdienst aufgeboten werden können.
Kann das rechtmässig sein? Das Verteidigungsdepartement beantwortet die Frage schriftlich: «Die Überschreitung des Effektivbestands ist beabsichtigt, vorübergehend und erforderlich.»
Vorübergehend deshalb, weil der Bundesrat im Rahmen der Weiterentwicklung der Armee entschieden hat, die Dienstzeit von 12 auf 10 Jahre zu verkürzen. «Andernfalls würde der Bestand der Armee unnötig aufgebläht», begründete die Landesregierung diesen Schritt im Jahr 2017. Damit das nicht geschieht, werden in den Jahren 2028 und 2029 jeweils zwei Jahrgänge gleichzeitig aus der Dienstpflicht entlassen. Danach dürfte der Bestand unter den Höchstwert von 140’000 Armeeangehörigen fallen.
Zwar darf der Bundesrat gemäss Artikel 151 im Militärgesetz den maximal zulässigen Armeebestand überschreiten. Diese Möglichkeit ist aber bis Ende 2022 befristet. Das Verteidigungsdepartement bestätigt dies auf Anfrage.
Somit ist die Schweizer Armee ab Anfang 2023 definitiv zu gross. Das sagt auch Andreas Stöckli, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Freiburg: «Sofern der Effektivbestand am 1. Januar 2023 tatsächlich höher als 140’000 Militärdienstpflichtige sein sollte, sind die rechtlichen Vorgaben nicht mehr eingehalten.»
Dazu kommt, dass dieser rechtswidrige Zustand nicht nur ein kurzfristiger Ausrutscher sein wird. Er dürfte voraussichtlich bis Ende des Jahrzehnts anhalten.
Verhindert werden könnte dies noch, wenn das Parlament eine neue Übergangsbestimmung erliesse. Doch wie das Sekretariat der Sicherheitskommissionen bestätigt, ist zurzeit nichts dergleichen geplant.
Die Tatsache, dass die Armee ab Anfang des kommenden Jahres nicht mehr rechtskonform sein wird, erwischt Werner Salzmann auf dem falschen Fuss. Der Präsident der ständerätlichen Sicherheitskommission zeigt sich am Telefon überrascht und verspricht, das abzuklären. Ein paar Tage später teilt der SVP-Ständerat schriftlich mit, das Verteidigungsdepartement habe zwar in verschiedenen Berichten transparent aufgezeigt, dass der Effektivbestand bis Ende des Jahrzehnts die zulässige Grenze von 140’000 Armeeangehörigen überschreiten werde, nicht aber über «die fehlende Rechtsgrundlage ab 2023» informiert. Das VBS habe «deshalb für die kommende Sitzung im Januar Varianten aufzuzeigen, um beim Effektivbestand der Armee ab 2023 rasch einen gesetzeskonformen Zustand zu erreichen».
Mit anderen Worten: Das Verteidigungsdepartement hat seine Hausaufgaben nicht gemacht.
Und: Die Erzählung über den baldigen Kollaps der Armee mangels Soldaten ist ein Märchen.
Nicht nachvollziehbare Prognosen
Das hindert das Verteidigungsdepartement aber nicht daran, diese Erzählung im aktuellen Armeeauszählungs-Bericht weiterzuführen. Dort heisst es wiederum, der Effektivbestand werde «ab 2030 nicht mehr erreicht», wenn nicht weitere Massnahmen ergriffen würden, um die vorzeitigen Abgänge zu senken. Geprüft wurde zum Beispiel, ob man Zivildienst und Zivilschutz zusammenlegen oder die Dienstpflicht auf Frauen ausweiten könnte.
Armeebestand: Prognosen
Quelle: VBS
Bei genauem Hinschauen erweisen sich die Prognosen des Verteidigungsdepartements als schwer nachvollziehbar. So rechnet das VBS mit einer äusserst konservativen Zunahme der Armeebestände. Diese wuchsen in den vergangenen vier Jahren im Schnitt um 4000 Personen pro Jahr an. Nun geht das Militärdepartement aber davon aus, dass sich dieses Wachstum in den nächsten zwei Jahren verlangsamen wird und dass der Armeebestand ohne weitere Massnahmen bis Ende Jahrzehnt stagnieren würde.
Worauf diese Annahmen fussen, ist unklar. Das VBS teilt mit, es simuliere die Entwicklung der Armeegrösse bis zum Jahr 2035 «mittels Modellrechnungen, die auf Erfahrungswerten der vergangenen Jahre basieren». Mehr Informationen gibt es nicht: Einblick in die Modellrechnungen will das Militärdepartement nicht gewähren.
So ist nicht nachvollziehbar, weshalb der Armeebestand in den kommenden Jahren stagnieren soll. Denn gewachsen ist die Armee in den letzten Jahren, weil die Zahl der 18-jährigen Männer mit dem Bevölkerungswachstum zunimmt. Gemäss den Prognosen des Bundesamts für Statistik wird sich das auch in den nächsten Jahren nicht ändern. Und da diese zukünftigen Soldaten bereits geboren sind, dürfte diese Prognose ziemlich verlässlich sein.
Interessant ist auch, dass das Militär den Anteil der Frauen in der Armee von heute 1,4 Prozent bis Ende Jahrzehnt auf 10 Prozent erhöhen will. Damit würde die Armee nochmals um rund 12’000 bis 13’000 Personen wachsen.
Bleibt die Frage, ob es in der Zukunft mehr Abgänge aus der Armee geben könnte – in die Untauglichkeit, ins Ausland oder in den Zivildienst? Das VBS schreibt dazu: «Die letzten Zahlen lassen auf relativ konstante Werte schliessen.»
Das heisst: Selbst wenn der Armeebestand 2030 unter der maximal zulässigen Grenze läge, würde er danach bald wieder überschritten, sofern sich das Wachstum der letzten Jahre fortsetzt. Konkret wäre es bereits fünf Jahre später wieder so weit. Ohne dass irgendetwas dafür getan würde.
Es ist also unerklärlich, weshalb das VBS die Entwicklung des Armeebestands so pessimistisch berechnet.
Zusätzlich leistet sich das Verteidigungsdepartement den Luxus, Durchdiener mit erfüllter Ausbildungspflicht nicht in den Bestand einzuberechnen, obwohl sie im Ernstfall aufgeboten werden können – wie es auch während der Corona-Pandemie geschah. Rechnet man sie hinzu, umfasst die Schweizer Armee aktuell sogar die stolze Zahl von 175’000 Personen, die einberufen werden können.
Aktueller Armeebestand mit Durchdienern
Quelle: VBS
Wenn man bedenkt, dass die Schweizer Armee einen Soldatenmangel beklagt, ist unverständlich, warum nicht sämtliche Reserven in ihre Berechnung einbezogen sind.
Aktivismus im Parlament
Trotzdem herrscht Alarmstimmung. Parlament und Bundesrat überbieten sich mit Vorschlägen, wie das angebliche Problem der fehlenden Soldaten gelöst werden könnte. So verabschiedete der Bundesrat vor eineinhalb Jahren einen Bericht des VBS, in dem von einem «akuten Problem» die Rede war. Im gleichen Bericht räumte das Verteidigungsdepartement allerdings ein, dass «keine verlässlichen Prognosen zu den Beständen» möglich seien, weil die Rekruten die RS bis zum 25. Lebensjahr verschieben können. Erst für die Zeit ab 2023 stellte der Bundesrat klarere Aussagen in Aussicht.
Trotz allem hat der Bundesrat im März beschlossen, bis Ende 2024 zwei neue Dienstmodelle prüfen zu lassen, um den Armeebestand zu «retten».
Noch eiliger hat es das Parlament: Die SVP-Fraktion schiebt den Krieg in der Ukraine vor, um Massnahmen einzuführen, die den Zivildienst schwächen und die Armee stärken sollen. Dass genau diese Massnahmen bei der angestrebten Zivildienstreform vor nur zwei Jahren vom Parlament verworfen wurden, scheint dabei keine Rolle zu spielen.
In der Ratsdebatte machte SVP-Nationalrat Thomas Hurter kein Geheimnis aus seinen wahren Beweggründen: «Hier geht es darum», sagte er, «dass wir die Problematik bezüglich der Abwanderer aus der Armee in den Zivildienst endlich einmal lösen.» Er beschrieb, wie sich die Zahl der Zivildienstler nach der Abschaffung der Gewissensprüfung vervielfacht habe. «Jetzt haben wir plötzlich ein Problem bei der Armee, mit den Armeebeständen», sagte er. Der Nationalrat hat die Motion im Herbst überwiesen. Zudem will Hurter für Rekruten, die in den Zivildienst wechseln möchten, die Gewissensprüfung wieder einführen.
Die Sicherheitskommission des Nationalrats schlug eine ähnliche Richtung ein, als sie Anfang November eine Motion überwies, die die sofortige Zusammenlegung des Zivildiensts mit dem Zivilschutz verlangt.
Konsterniert ist hingegen die SP-Sicherheitspolitikerin Priska Seiler Graf. Sie hat in den letzten Jahren immer wieder Vorstösse eingereicht zur Berechnung der Armeebestände. Doch diese blieben ohne Resultat. «Sie weichen aus. Es gibt keine nachvollziehbaren Antworten», sagt Seiler Graf, die auch Co-Präsidentin des Zivildienstverbands Civiva ist. «Aber die Armeebestände sind nicht gefährdet. Es ist ein vorgeschobenes Argument, um den Zivildienst zu schwächen.»
Das ist erstaunlich: Denn die Abgänge aus Rekrutenschule und Armee in den Zivildienst waren in den letzten Jahren stabil.
Der Armee laufen die Leute nicht davon.
Die Abgänge in den Zivildienst sind stabil
In Prozent des Einrück- respektive des Effektivbestands
Quelle: VBS