Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Der Cartoonist hat selber bei Twitter gearbeitet und wurde als einer der Ersten entlassen. Manu Cornet/Twittoons

Twitter darf nicht sterben

Viele wünschen sich das Ende von Twitter herbei. Doch das wäre fatal für die Diplomatie, den globalen Diskurs und den Fakten­konsens.

Ein Essay von Adrienne Fichter, 25.11.2022

Vorgelesen von Jonas Gygax
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Manche Menschen können dem aktuellen medialen Lärm um die Twitter-Übernahme durch Elon Musk nichts abgewinnen. Sie wären sogar froh, wenn der neue Besitzer das Ding endlich an die Wand fahren würde.

Solche und ähnliche Reaktionen sind dieser Tage immer wieder zu hören (jüngst etwa im Republik-Dialog). Die These des Tods von Twitter, aber auch ganz allgemein von öffentlichen sozialen Netz­werken, kursiert seit einigen Tagen in Meinungs­artikeln und Podcasts.

Von aussen betrachtet mag Twitter einem vorkommen wie eine digitale Dumm­schwätzer­bude. Sein von den Medien aufgenommenes und weiter­verbreitetes Getöse wird als Minderheiten­meinung einer «Elite» aus Wissen­schaft, Journalismus und Politik wahrgenommen.

Und so falsch ist das nicht: Journalis­tinnen mögen Twitter, weil sie schnell an Zitate heran­kommen. Politiker mögen Twitter, weil sie ihre Stellung­nahmen ohne Umweg über Journalisten unters Volk bringen können. Wissenschaft­lerinnen mögen Twitter, weil sie nur damit den Diskurs punkt­genau vermessen (kein anderes Netz­werk bietet so viele offene Schnitt­stellen) und vor allem Medien­schaffende direkt erreichen können.

Kein Wunder, wird deshalb die These des «Elite­netzwerks» laut. Die meisten Medien­schaffenden nutzen Twitter etwa als Instrument für das redaktionelle Agenda­setting. Nicht wenige Journalistinnen verwechseln dabei Twitter-Trends mit der «Stimmung im Internet». Dies ist angesichts der User-Zahlen eine groteske, irreführende Verzerrung. Denn: Twitter weist gerade einmal 240 Millionen aktive Userinnen aus, Facebook hingegen 2 Milliarden.

Doch ein baldiges Twitter-Aus hätte nicht absehbare Folgen für die Demokratie und für soziale Bewegungen weltweit. Twitter hat schon längst den tipping point überschritten: den Zeit­punkt, an dem der Kurz­nachrichten­dienst system­relevant geworden ist für die globale Öffentlich­keit.

Die Twitter-DNA: Alle sehen alles, alle sehen dasselbe

Sollte Twitter tatsächlich demnächst hinter einer Pay­wall verschwinden oder wegen Musks Amok­lauf ganz abgeschaltet werden, hätte das verheerende Folgen: Die relevanteste und wichtigste öffentliche globale Platt­form wäre weg, die Diskurse würden noch verschachtelter statt­finden, die Foren­landschaft wäre noch fragmentierter und die Blasen­bildung würde noch weiter voran­schreiten.

Wir hätten keinen zentralen digitalen Ort mehr, wo wir von den Protesten im Iran oder dem Krieg in der Ukraine aus erster Hand erfahren würden. Das liegt unter anderem in der sozio­technischen Struktur des Netz­werks. Die Twitter-DNA bietet nämlich unschlagbare Vorteile. Erstens: Wir – Sender und Empfänger-Kreise – sehen theoretisch alles, was geschrieben wird. Es gibt keine Beschränkungen by Design. Damit verbunden zweitens: Wir sehen – wenn wir danach suchen – alle dasselbe, egal ob wir unter­einander vernetzt sind oder nicht. Die Tweets sind ausserdem dank Suchmaschinen­indexierung durch Google auffindbar und damit «von aussen» sichtbar. Sie sind unveränderbar und fördern damit den welt­weiten Konsens über eine Art von Fakten: nämlich die Information, wer was wann geschrieben hat.

Natürlich ist es nicht so, dass die Beschaffen­heit von Twitter besonders geeignet wäre für sachliche Debatten. Auch hier regieren die Meta­daten und damit auch die Polarisierung. Mit anderen Worten: Was viele Interaktionen und damit viel Aufmerksam­keit erzeugt, erhält maximale Reich­weite. Donald Trumps Tweets wurden verlacht, gehasst und geliebt. Sie erreichten ein Millionen­publikum.

Eine informelle Twitter-Regel lautet: «Retweet does not mean endorsement.» Mit anderen Worten: Wenn ich einen Beitrag einer anderen Person auf meinem Profil wieder­gebe, bedeutet es nicht, dass ich derselben Meinung bin. Kontro­versen, energische Debatten und ein zuweilen toxisches Diskussions­klima waren die Folgen dieser Konfrontation verschiedener Welt­anschauungen.

Doch mit dieser Öffentlich­keit wurde auch accountability – also Rechenschafts­pflicht – geschaffen. Gerade dank Twitter können mächtige Entscheidungs­träger für ihre Aussagen zur Verant­wortung gezogen werden (und auch Lokal­politiker, vielleicht erinnert sich jemand an den Schweizer Fall des Kristallnacht-Twitterers), was von enormem demokratie­politischem Wert ist. Und aktuell erleben wir live mit, wie der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski Forderungen an Regierungs­chefs aus allen Ländern stellt. Twitter Diplomacy ist mittler­weile sogar ein eigener Wikipedia-Eintrag geworden.

Dieses Alleinstellungs­merkmal wurde umso wertvoller, je mehr die Konkurrenz in eine diametral andere Richtung marschierte. 2011 – während des Arabischen Frühlings – hatten Facebook und Twitter als wichtigste Werkzeuge für die Mobilisierung von Gleich­gesinnten gedient: Demonstran­tinnen organisierten darüber Proteste, jeder konnte diesen «Events» beitreten, die Hürden waren niedrig.

Doch dann veränderte sich die Welt im Silicon Valley: Seit circa 2014 – in dem Jahr, als Facebook Whatsapp kaufte – machen Digital­konzerne einen «Messengerisierungs­trend» durch. Es entstanden immer mehr geschlossene digitale Räume: Gruppen und Kanäle.

Gegen die «Messengerisierung»

Damit wollten die Platt­formen einem wachsenden Bedürfnis nach Privat­sphäre und weniger «Lärm» gerecht werden. Denn die publik gemachten Desinformations­kampagnen durch russische Akteure und Datenschutz­skandale wie der von Cambridge Analytica brachten Big-Tech-Firmen in Verruf. Die sozialen Netz­werke wurden immer mehr zum Stress­faktor, das Aufeinander­prallen unterschiedlicher Lebens­welten und Meinungen war für viele nicht mehr aushaltbar. Die Messengerisierung ist damit eine technologische Antwort auf das Fake-News-Phänomen rund um die Brexit-Abstimmung und die US-Wahlen 2016.

Der Konzern Meta führte in der Folge eine Gruppen­funktion für die Platt­form Facebook ein. Viele neuere Kommunikations-Apps der späten 2010er-Jahre wie etwa Tele­gram haben nur noch einen semiöffentlichen Charakter: Es gibt Kanäle, die von allen Nutzerinnen abonniert werden können. Doch die meisten User verbleiben in ihren geschützten Kokons, in ihrer sozialen Bubble.

Die Konsequenz: Relevante und wissens­werte Kommunikation von Bürgerinnen, Firmen, NGOs, Verbänden und politischen Entscheidungs­trägern verschwindet mehr und mehr in private digitale Räume. Und ist damit für Aussenstehende nicht mehr nach­vollziehbar.

Für den eigenen Seelen­frieden ist das verständlich – aus demokratie­politischer Sicht ist es hingegen eine gefährliche Entwicklung. Wie weit Vorbereitungen für Umstürze fernab der Beobachtung in diesen abgeschotteten Kammern gediehen sind, sah man am 6. Januar 2021: beim Sturm auf das Kapitol in Washington. Der Mob organisierte sich dabei auf Discord und Parler, in der Alt-Right-Bewegung beides beliebte Kommunikations­apps.

Die Firma Twitter verweigerte sich diesem Messengerisierungs­trend. Und profitierte damit indirekt: Originäre Inhalte werden auf Instagram, Telegram oder Tiktok publiziert und bei Twitter als Sekundär­medium zweit­verwertet.

Der Status als letzte öffentliche Bastion wurde damit noch wichtiger, weil darin all die Instagram-, Tiktok- und Telegram-Inhalte jenseits der Echo­kammern «vereinigt» und uns zugänglich gemacht wurden. Weil engagierte Nutzerinnen sich die Mühe machten, die ursprünglichen Beiträge rüberzu­kopieren. Das damit erzeugte Material war und ist von grossem Wert.

Rechercheure können so die Kriegs­verbrechen und Massen­morde in Syrien, der Ukraine und Burma aufklären.

Und die breite Öffentlichkeit erfährt von vielen Welt­ereignissen – Bomben­anschlägen, Putsch­versuchen, Protest­bewegungen, Invasionen – zuerst dank Twitter.

Natürlich blieb diese Offen­heit in den letzten Jahren für das Unternehmen nicht folgenlos: Das Ausmass der Desinformation war somit viel sichtbarer als etwa auf Face­book, das für Forscherinnen eine Blackbox bleibt. Auch war Twitter lange ein quasi rechts­freier Raum: Troll-Kampagnen und Hass­reden schüchterten Gruppierungen wie Black Lives Matter oder Bewegungen für die Rechte von Frauen, queeren und trans Menschen ein. Der Mitgründer und lang­jährige CEO Jack Dorsey war mehr darum bemüht, den Aktien­kurs an der Börse hoch und die Investoren bei Laune zu halten, als für ein gutes Diskussions­klima zu sorgen.

Exemplarisch zeigte sich das nochmals beim ehemaligen US-Präsidenten: Für Dorsey war Donald Trump Fluch und Segen. Trotz Tweets weit jenseits von Anstand und Amts­eid war der Ex-Präsident ein Publikums­magnet und damit auch ein Garant für lange Verweil­dauer – was wiederum attraktiv für Werbe­kundinnen ist. Ihnen versuchten Dorsey und sein Vorgänger als CEO, Dick Costolo, Twitter als Daten­goldgrube schmackhaft zu machen und damit das Unternehmen in den Profit zu führen – jedoch mit mässigem Erfolg.

Gleichzeitig wuchs dank Medien­enthüllungen auch der politische Druck auf Twitter. Der 2021 frisch gekürte CEO Parag Agrawal erledigte in der Hinsicht seine Haus­aufgaben, Content-Moderatorinnen wurden angestellt, die Ethik-Teams ausgebaut. Und nach dem Sturm auf das Kapitol wendeten sämtliche Big-Tech-Konzerne die Richt­linie «gewalt­verherrlichende Aussagen werden nicht toleriert» an und löschten hetzerische Benutzer­konten der Alt-Right wie jenes des Schulmassaker-Leugners Alex Jones.

Diese Schritte machten Twitter in den letzten Monaten zu einem einiger­massen einladenden Ort. Regeln existierten nicht nur auf dem Papier, sie wurden auch durch­gesetzt. Der Diskurs fühlte sich zivilisierter an als auch schon.

Bis vor einem Monat.

Musk wird zugetrollt

Heute sind wir Zeit­zeuginnen einer absurden Shit­show eines Milliardärs, der sich ein neues Lieblings­spielzeug zugelegt hat. Und die eine Hälfte des Personals über Nacht entlässt, die andere zu Über­stunden zwingt.

Es stellt sich die Frage: Warum?

Because he can.

Dabei ist es geradezu schockierend, mitanzusehen, wie absolut konzeptlos Musk seine 44-Milliarden-Dollar-Akquise zu retten versucht. Die täglich wechselnden strategischen Manöver des erratischen Milliardärs bieten zuweilen grosse tragi­komische Unterhaltung: Es wird ersichtlich, dass er die Vorzüge von Twitter nicht mal ansatz­weise verstanden hat und nun Opfer seiner eigenen Waffen geworden ist.

Das zeigt sich an folgendem Beispiel: Musk erklärte als Erstes, dass das blaue Profil­häkchen, mit dem Accounts bisher verifiziert wurden, neu käuflich sein werde. Damit wollte Musk das vermeintlich hierarchische Fürsten-und-Bauern-System, wie er es nennt, abschaffen. Also den Umstand, dass Nutzer ohne Häkchen auf der Platt­form weniger Prestige haben.

Bisher wurden diese Häkchen vom Twitter-Personal händisch überprüft, um damit impersonation – also jemand gibt sich für eine andere Person aus – zu verhindern. Vergeben wurden diese Echtheits­gütesiegel an öffentliche Personen gewisser Berufs­gattungen (Schau­spieler, Journalistinnen, Politiker, CEOs) sowie an Unternehmen.

Musk wollte den neuen Blue Badge von 8 Dollar monatlich als demokratische Mass­nahme gegen das «Establishment» verstehen, mit der er nebenbei seinen Kurz­nachrichten­dienst monetarisieren will. Jeder darf verifiziert werden, vorausgesetzt, er zahlt dafür. Es war auch eine persönliche Kriegs­erklärung an Journalistinnen und an seine Kritiker, die ihn schlecht­schrieben.

Nun wäre Twitter nicht Twitter, wenn sich ein solch massiver Eingriff in von den Userinnen lieb gewonnene Traditionen nicht rächen würde. Gleich nach Einführung haben sich einige den Badge gekauft und sich in Elon Musk umbenannt. Ein Account mit blauem Abzeichen gab sich sogar als Tesla-Konzern aus (dessen CEO ebenfalls Musk ist) und machte die Aussage: Soeben sei ein Tesla in das World Trade Center gefahren. Das ist gewiss: Das Twitter-Publikum wird derzeit mit köstlicher Realsatire bespasst.

Doch der brüskierte Musk reagierte umgehend und löschte alle Konten, die ihn parodierten. Und sabotierte damit ironischer­weise seinen eigenen Plan, wieder viel mehr Meinungs­freiheit einzuführen. (O-Ton: «Comedy ist jetzt legal auf Twitter.»)

Die Folge des aktuellen Chaos: Werbe­kunden wie Volkswagen oder Pfizer springen reihen­weise ab. Unmoderierte Platt­formen schrecken nach der Ära Trump mittler­weile auch sonst betont unpolitische Gross­konzerne ab. Zu gross ist das Risiko für Image­schäden, wenn etwa ihre Werbe­anzeigen gleich unterhalb von Hass­predigern angezeigt würden.

Libertarismus als Geschäfts­modell funktioniert selbst in den USA nicht mehr.

Versagen der Digital­wirtschaft

Dass eine derart wichtige Kommunikations­infrastruktur in die Hände einer einzigen Person geraten konnte und eine solche Macht­konzentration überhaupt möglich wurde, ist das grösste Armuts­zeugnis unserer deregulierten globalen Digital­wirtschaft. Kein Regel­werk, keine Regulierungs­behörde wie die amerikanische FTC konnte diese Übernahme verhindern.

Der Grund: Twitter krankte schon immer an einem fragilen Funda­ment. Es war stets eine profit­orientierte Firma, die Geld mit den Daten und der Aufmerksam­keit ihrer Userinnen verdienen musste. Der ideelle Wert war enorm, das Daten­kapital aber eher mager.

Lange haben wir also mit einer Lüge gelebt. Das Netz­werk – berühmt für seine 280 Zeichen – funktionierte wie ein zuverlässiger digitaler Service public, an den wir uns gewöhnt haben und welcher damit zum kollektiven digitalen Zitate­archiv geworden ist. Twitter erbrachte fast schon quasi-staatliche Dienst­leistungen (das räumte auch Co-Gründer Dorsey ein), wurde aber von einer privaten Firma unter Verwertung unserer Daten betrieben. Diese Diskrepanz existierte schon lange, sie tat niemandem wirklich weh, und so haben wir sie bis zur Übernahme durch Musk einfach erfolgreich verdrängt.

Ob Musks Geschäfts­gebaren nun völlig ausartet und Twitter demnächst offline sein wird, ist ungewiss. Die Architektur des Netz­werks erweist sich als enorm resilient, die meisten Grund­funktionen funktionieren trotz halb so viel Personal noch – zumindest in der westlichen Hemi­sphäre. Die Frage ist: wie lange noch?

Ein wenig Hoffnung auf Besserung gibt die regulatorische Super­power Brüssel. Musk könnte nämlich schon bald wegen der EU in Teufels Küche kommen. Denn er entliess auch den unternehmens­eigenen Datenschutz­beauftragten, was ein Verstoss gegen die europäische Datenschutz­grund­verordnung ist. Und er wird die Vorgaben zur neuen europäischen Regulierung von Hass­rede (dem «Digital Services Act») mit dem abgemagerten Personal­bestand – vor allem ohne Moderations­teams – nicht erfüllen können.

Vielleicht entsteht nach Twitter effektiv etwas Neues – die Notwendig­keit von ungefilterten öffentlichen Netz­werken ist immer noch da, das Bedürfnis ist gross. Valable, sympathische Alternativen gibt es – zum Beispiel Masto­don, das als dezentrales Open-Source-System an die Anfänge des Internets erinnert. Doch ob sich die kritische Masse von 240 Millionen aktiven Usern nach Jahr­zehnten auf zentralisierten Platt­formen neu auf Mastodon zurecht­findet? Das ist ungewiss.

Eines ist sicher: Ein allfälliger Tod des Netz­werks Twitter wird enorme Auswirkungen haben – für die politische Diplomatie, den globalen Diskurs und den Fakten­konsens.

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