Warten auf den Bundesrat

Seit Monaten redet die Schweiz mit der EU darüber, worüber sie reden will. Nun findet die EU: Genug geredet. Warum die Schweizer Diplomatie Stoff für ein absurdes Theater­stück liefert.

Eine Analyse von Priscilla Imboden, 23.11.2022

Vorgelesen von Jonas Gygax
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Wladimir: Was sollen wir also machen?

Estragon: Gar nichts. Das ist klüger.

Samuel Beckett: «Warten auf Godot».

Ein klitze­kleiner Silber­streifen am Horizont: So ungefähr stellt die Schweizer Staats­sekretärin Livia Leu die aktuelle Lage dar, wenn sie nach den Beziehungen mit der EU gefragt wird. Man habe sich auf «ein gemeinsames Verständnis» geeinigt, sagte sie nach dem letzten Treffen mit Juraj Nociar, dem Kabinetts­chef von EU-Kommissions­vizepräsident Maroš Šefčovič.

Neu wollen die EU und die Schweiz ihre Beziehungen offen­sichtlich in Form eines Pakets regeln – um mit mehr Themen mehr Verhandlungs­masse zu haben. Laut Leu bietet das Paket «mehr Möglichkeiten für Kompromisse und Lösungen». Und Kompromisse (sprich: Ausnahmen) will die Schweiz, vor allem beim Lohn­schutz und bei der Zuwanderung. Die EU hingegen pocht weiterhin darauf, dass eine Lösung gefunden wird in den sogenannten institutionellen Fragen: Wie passt sich die Schweiz an die sich wandelnden europäischen Gesetze an, die den Markt­zugang zur EU regeln? Wer entscheidet im Streitfall? Und welche Rolle hat dann der Europäische Gerichtshof?

Man bleibe in Kontakt, liess das Eidgenössische Aussen­departement derweil verlauten. Ein weiterer Termin stehe aber noch nicht fest. Wie Radio SRF berichtete, sprach Aussen­minister Ignazio Cassis im Bundesrat von Zugeständnissen der EU.

Das will EU-Botschafter Petros Mavromichalis jedoch nicht bestätigen. Fort­schritte seien insofern zu erkennen, «als wir die Schweizer Position nun besser verstehen», sagt er zur Republik. Und: «Die exploratorischen Gespräche sind im Prinzip abgeschlossen. Es sind im Moment keine weiteren Treffen geplant.» Das hat man bisher so nicht gehört. Es ist eine klare Ansage. Und bedeutet: Als Nächstes müssen beide Seiten entscheiden, ob sie offiziell Verhandlungen aufnehmen wollen oder nicht.

Das Aussen­departement beschreibt den Stand der Dinge wie so oft allerdings etwas anders: Es blieben weiterhin offene Fragen bestehen, teilt ein Sprecher mit. «Die Gespräche werden so lange weiter­geführt, bis eine Lösung gefunden ist, die für beide Seiten passt.»

Diese unter­schiedlichen Aussagen sind bezeichnend. Die Schweiz und die EU nähern sich einander nur im Zeitlupen­tempo an. Nach sechs Gesprächs­runden, die sich über sieben Monate erstreckten, ist das Ergebnis ziemlich dürftig.

Zwar erklärte Staats­sekretärin Livia Leu im September, die EU «spiele auf Zeit». Alle Hinweise deuten aber eher darauf hin, dass es nicht die EU ist, die für den schleppenden Fort­schritt der Gespräche verantwortlich ist. Im November 2021 sagte EU-Kommissions­vizepräsident Šefčovič nach einem Treffen mit Cassis, er wolle schnelle Ergebnisse, in einem Jahr könne man viel erreichen. Doch der Schweizer Aussen­minister trat schon damals auf die Bremse, indem er sagte, die Schweiz wolle zuerst mit der EU festlegen, worüber man reden wolle. Genau da stehen Bern und Brüssel heute immer noch – ein Jahr später.

Schon nachdem er dem Rahmen­abkommen im Mai 2021 eine Abfuhr erteilt hatte, liess sich der Bundesrat neun Monate Zeit, bis er einen Plan vorlegte: eben diese Paket­lösung. Sie ist eine Art Bilaterale III, die neben den bisherigen Themen auch neue aufnehmen soll – wie Gesundheit, Strom oder Kultur. Die Probleme bei den institutionellen Fragen bleiben aber die alten. Neue Lösungen sind nicht in Sicht.

Die Gesprächs­bereitschaft in Brüssel blieb über diese ganze Zeit trotzdem bestehen. EU-Kommissions­vizepräsident Šefčovič schlug im Mai sogar vor, in die Schweiz zu reisen, um sich mit dem Bundesrat, den Gewerk­schaften und allen interessierten Kreisen zu treffen. Die EU-Botschaft in der Schweiz stellte diesen Antrag auch offiziell an das Aussen­departement. Die Antwort: Bundesrat Ignazio Cassis habe am genannten Termin keine Zeit für den Besuch aus Brüssel, man schlage ein anderes Datum vor.

Darauf wartet die EU bis heute. Botschafter Mavromichalis sagt: «Vize­präsident Šefčovič ist jederzeit bereit, die Schweiz zu besuchen, sollte er eingeladen werden.» Dass die Einladung ausbleibt, ist ein diplomatischer Affront. Ein Sprecher des Aussen­departements sagt dazu, Bundes­präsident Ignazio Cassis habe in den letzten Monaten die EU-Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen mehrmals am Rande inter­nationaler Gipfel­treffen gesprochen und habe mit ihr auch über bilaterale Themen geredet.

Offenbar waren diese Kontakte aber aus Sicht der EU inhaltlich zu wenig relevant, um ihren Vertreter in der Schweiz darüber zu informieren. Auf die Frage, ob Ignazio Cassis und Ursula von der Leyen bilaterale Fragen thematisiert hätten, sagt Botschafter Petros Mavromichalis, er könne dazu nichts sagen, da er nicht dabei gewesen sei.

Während der Bundesrat Eile mit Weile spielt mit der EU, verliert der Schweizer Forschungs- und Universitäts­platz den Anschluss an die wichtigen EU-Forschungs­programme. Vertreterinnen des Forschungs­platzes Schweiz schauen zunehmend fassungslos zu. Andrea Schenker-Wicki, Rektorin der Universität Basel, sagt: «Die Schweiz ist in der Quanten­technologie eine der führenden Nationen. Quanten­technologie ist die Technologie des 21. Jahrhunderts. Doch nun dürfen wir am Flaggschiff­programm der EU nicht mehr teilnehmen, und zusätzlich haben unsere Konkurrenten riesige nationale Initiativen gestartet, was bei uns noch nicht der Fall ist. Dadurch droht die Schweiz ihren Vorsprung zu verlieren.»

Vor allem grenznahe Regionen leiden unter dem Stillstand, wie der Erosions­monitor der Wirtschafts­denkfabrik Avenir Suisse zu den bilateralen Beziehungen aufzeigt. Beat Jans, Regierungs­präsident des Kantons Basel-Stadt, bezeichnet die Situation als «dramatisch»: «Schleichend werden Grenzen zur EU hoch­gezogen. Das ist sehr belastend für die ganze Grenz­region, auch für das Elsass und für Baden-Württemberg.» Die Argumente für Forscher und Start-up-Unter­nehmerinnen, in die Schweiz zu kommen, würden schwinden, sagt er: «Die besten Leute gehen dorthin, wo sie Zugang haben zu grossen Förder­töpfen und wo sie grosse Forschungs­projekte leiten können. Das wird sich je länger, desto mehr auswirken.»

In Bundesbern hingegen scheut man die innen­politische Auseinander­setzung mit der Europa­politik. Und man will der SVP im kommenden Jahr keine Gelegenheit geben, mit ihrem Lieblings­thema in den Wahlkampf zu steigen: der EU. Dabei kommt der Bundesrat den Europa­gegnern so weit entgegen, dass ihnen gar keine europa­politischen Forderungen mehr einfallen. So ist es bezeichnend, dass der Verein Pro Schweiz, Nachfolger der europa­feindlichen Kampf­organisation Auns, mangels europa­politischer Angriffs­fläche nun auf die Neutralitäts­initiative ausweicht.

Das Aussen­departement macht also das, was die Politik stets macht, wenn sie nicht weiss, was sie tun soll: Es schindet Zeit.

So beauftragte die Landes­regierung den pensionierten Staats­sekretär Mario Gattiker damit, nach europa­politischen Lösungen zu suchen. Ferner gründete der Bundesrat ein neues Gremium mit dem wichtig klingenden Namen «Sounding Board». Er verschleppte den Europa­bericht, die erste Standort­bestimmung nach dem Abbruch der Verhandlungen vor anderthalb Jahren. Und er lässt das Parlament aussen vor, was namentlich in der Aussen­politischen Kommission zu anhaltender Ungeduld führt.

Um fair zu sein: Die Aufgabe ist keines­wegs einfach. Der partei­politische Wind hat gedreht, was die Europa­politik angeht, die öffentliche Meinung ist euro­skeptischer geworden als früher. So ist es heute unvorstellbar, dass der Bundesrat sich für EU-Beitritts­verhandlungen ausspricht wie noch in den Neunziger­jahren. Die frühere europa­politische Koalition, bestehend aus SP, FDP und Mitte­partei, ist zerbröckelt, wie auch in einem neuen Sammelband zu den Beziehungen zwischen der Schweiz und Europa dargelegt wird. Die Bundesrats­parteien tragen eben­falls Verantwortung für die verfahrene Situation: Ausser der SVP sind sie sich auch nicht mehr sicher, welchen Weg sie mit der EU gehen wollen.

Offensichtlich ist, dass der Bundesrat wenig Anstalten macht, die innen­politische Blockade zu lösen. Schon vor vier Jahren nicht, als er keine Stellung bezog zum Rahmen­abkommen, dem Resultat sieben­jähriger Verhandlungen zwischen Bern und Brüssel. Und zusah, wie es von praktisch allen Seiten zerredet wurde. Der Bundesrat schaut auch weiter ratlos zu. Andrea Schenker-Wicki, die Rektorin der Uni Basel, ist enttäuscht: «Niemand im Bundesrat über­nimmt Verantwortung und sagt: Wir wagen diese Auseinander­setzung in unserem Land, wir müssen unsere Beziehungen mit der EU dringend regeln.»

Es ist fast wie bei den wartenden Protagonisten im berühmten Theater­stück von Samuel Beckett.

Estragon: Komm, wir gehen!

Wladimir: Wir können nicht.

Estragon: Warum nicht?

Wladimir: Wir warten auf Godot.

Estragon: Ach ja.

Samuel Beckett: «Warten auf Godot».

Worauf sie warten, erfährt das Publikum nie.

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