Jürg Halter cancelt sich selbst

Der Schrift­steller behauptet, er habe wegen einer «konkreten Drohung» Personen­schutz gebraucht. Medien übernehmen die Geschichte einer Cancel-Kampagne von «anonymen Links­extremen». Nur, die «konkrete Drohung» gab es nie.

Von Daniel Ryser und Basil Schöni, 11.11.2022

Vorgelesen von Miriam Japp
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Vergangenen Sonntag publizierte der Berner Schrift­steller Jürg Halter auf Facebook einen Text, der viel Aufmerk­samkeit erhielt und seither für hitzige Diskussionen sorgte.

Jürg Halter erzählt darin «eine persönliche Geschichte», die «leider repräsentativ» sei für «eine gefährliche Entwicklung», die «uns alle» betreffe. Halter habe am 22. Oktober für die Finissage seiner Ausstellung «Fuck Slogans» in einer Zürcher Galerie Personen­schutz engagieren müssen. Er sei im Vorfeld der Veranstaltung von «anonymen, offen­sichtlich Links­extremen» bedroht worden.

Auslöser für die «anonymen Drohungen» ist laut dem Schrift­steller einerseits ein Interview in der «Aargauer Zeitung» gewesen, in dem er «linke, schwarz-weiss-denkende, übersteigerte Identitäts­politik» kritisiert habe. Und andererseits ein Bild in seiner Ausstellung, das die Bezeichnung «LGBTQIA+» thematisiert habe.

Halter schrieb, in den sozialen Netz­werken sei dazu aufgerufen worden, die Finissage zu «besuchen» und zu «stören». Zwei Leute hätten zudem vor der Finissage bei der Galerie vorbei­geschaut und gefragt, ob man hier einfach so rein­komme. Daraufhin habe die Galerie die Polizei kontaktiert, die bestätigt habe, «dass solche Abklärungen vor Ort oft geschehen, wenn in extremistischen Kreisen ein Angriff auf eine Veranstaltung, auf eine Person geplant werde».

An der Veranstaltung selber sei dann aller­dings nichts passiert, schrieb Halter in seinem Post.

Die Medien übernahmen Halters Narrativ: «Der Berner Schrift­steller und Künstler Jürg Halter wird im Netz beschimpft und bedroht. Für seine Ausstellung in Zürich brauchte er Personen­schutz», schrieb die NZZ und druckte eine leicht gekürzte Fassung seines Textes ab.

«Watson» titelte: «Schweizer Künstler Jürg Halter stellt LGBTQ+-Bild aus – und die Linke dreht durch». Halter werde von «links­extremen Trollen» gejagt.

Aber was war wirklich geschehen? Was waren das für Drohungen gegen Halter und seine Ausstellung?

Ein Witz wird zur Drohung

Die Republik hat alle Tweets im fraglichen Zeit­raum gelesen, die einen der Begriffe «Jürg», «Jüsche», «HalterJuerg» (sein Twitter-Username) oder «Jürg Halter» beinhalten, sowie diverse weitere Tweets, die im Zusammen­hang mit Jürg Halter stehen. Wir haben auf Instagram alle Posts mit den Hashtags #JürgHalter #JuergHalter angeschaut. Wir haben die Zürcher Stadt­polizei kontaktiert, ob sie in dem Fall aktiv gewesen sei. Und wir haben den Schrift­steller Jürg Halter direkt gefragt, ob er uns Screen­shots der Drohungen über­mitteln könne.

Dabei fanden wir: fast nichts.

Nur einen Tweet, eine Anspielung auf den Anti­faschistischen Abend­spaziergang in Bern, der am 22. Oktober stattfand, am selben Tag wie Halters Finissage.

Der Tweet erzählte einen Witz: Echte Anti­faschistinnen würden an jenem Abend nicht den Abend­spaziergang besuchen, sondern Jürg Halters Ausstellung. Denn anders als die Teil­nehmer der Antifa-Demo sei der Schrift­steller ja ein echter Anti­faschist. «Wahre Anti­faschist*innen», lautete der Tweet im Original, «sind am 22. Oktober selbst­verständlich an der Finissage von Jürh Steigbügel­halter anzutreffen, wo denn sonst ✊🖤».

Diesen Tweet schickte uns auch Jürg Halter als Beleg für die «anonymen Drohungen». Ein Aufruf, die Finissage zu stören, wie Halter in seinem Facebook-Post behauptete, ist darin aber nicht zu erkennen. Die zitierten Begriffe «besuchen» und «stören» kommen nirgends vor. Zudem verfasste den Tweet zwar jemand unter Pseudonym, hinter dem Account steckt aber eine Person, die Jürg Halter persönlich kennt.

Es war also keine anonyme Drohung, wie Halter behauptete. Und schon gar nicht im Plural.

Auf erneute Nach­frage bestätigt Halter: dass die «konkrete Drohung» einzig aus diesem Tweet bestand und dass es dieser Tweet war, den er als «konkreten Aufruf, die Finissage zu besuchen und zu stören» verstanden hatte. Das heisst aber auch: Die von ihm verbreiteten und von den Medien über­nommenen Zitate, es sei konkret dazu aufgerufen worden, die Finissage zu «besuchen» und zu «stören» – es gibt sie nicht. Halter bestätigt auch, dass er die Person hinter dem Account kennt: «Ich weiss, wer hinter dem Account steht.»

Häme und Spott

«Häme und Spott gehören dazu, wenn man in der Öffent­lichkeit steht», schrieb Halter in seinem Facebook-Post. «Mit Häme und Spott kann ich also umgehen.» Aber die vier weiteren Screen­shots, die er uns als Belege schickte, dass bereits früher in diesem Jahr gegen ihn «gehetzt» worden sei, waren genau das: Häme und Spott. Und eine Kritik an seinem «LGBTQIA+»-Bild.

«denkedr de jüschä hauter überlebt pride month ohni platzi wuetadere an de stirn?», twitterte ein User Ende Mai. Das war einer der Tweets, die Halter uns als Beleg schickte.

Der zweite Tweet machte Halter indirekt gar ein Kompliment: «schweizer linkstwitter regel nr 1 alle paar wochen jürg halter als sau durchs twitterdorf treiben well knowing dass wir seine zetteln 2016 noch alle unironisch in unsere instastories gegeben haben».

Der dritte Tweet lautete: «können wir endlich jürg halter canceln».

Der vierte Screen­shot stammt von einer Instagram-Story vom Oktober. Es ist das Beispiel, das Halter in seinem Facebook- und NZZ-Text als Auslöser für die «anonymen Drohungen» nennt. Diese Story stammt von einem Account mit gerade mal zwei­tausend Followern und kritisierte das «LGBTQIA+»-Bild: «Imagine du bisch eifach nur queer- und transfeindlich… …u wunderisch di när, dass di lüt hate.»

Jürg Halter: «Listen mit diesen Feig­lingen anlegen»

Halter sagt nun auf Anfrage: «Entscheidend dafür, die Bedrohung als unmittel­barer einzustufen und zu handeln, waren die zwei auffälligen Besuche in der Galerie. Daraufhin hat der Galerist die Polizei angerufen, die Situation geschildert und diese riet dann zum Personen­schutz.»

Die Stadt­polizei Zürich sagt auf Anfrage der Republik, man sei in der Sache nicht aktiv geworden. Die Polizei sei vom Galeristen kontaktiert und darüber informiert worden, dass man Bedenken habe, dass es zu einem Vorfall kommen könnte, und dass man deswegen einen Sicherheits­dienst engagiert habe. Diese Mass­nahme habe die Galerie von sich aus getroffen. Die Polizei habe mit­geteilt, dass man sich jeder­zeit an sie wenden solle, wenn es konkrete Hinweise für eine Stör­aktion gebe. Es habe aber keine Sicherheits­beratung oder dergleichen vonseiten der Polizei statt­gefunden. Nach heutigem Kenntnis­stand der Stadt­polizei habe es keine konkreten Drohungen gegen die Veran­staltung gegeben. Es sei bis heute auch keine Anzeige wegen Drohung eingegangen.

Dass Jürg Halter «Personen­schutz brauchte», wie es bei «20 Minuten», «Watson» und in der NZZ hiess, lässt sich also nicht erhärten. Viel­mehr scheint es, dass er diesen Personen­schutz offenbar wollte. Ausschlag­gebend sei für ihn die «Gesamt­situation» gewesen, wie er der Republik schreibt.

Die «Gesamt­situation» ergibt sich jedoch nicht aus Drohungen, sondern vor allem daraus, dass es offen­bar auf Social Media seit einigen Monaten eine Art Sport ist, sich über die Äusserungen von Halter lustig zu machen und ihn dafür zu kritisieren. Vereinzelt fallen auch Beleidigungen.

«Hat sich Jürg Halter schon zum Rocker­krieg geäussert?», fragt ein User. Auch finden sich Wortspiel­bilder über Halter – etwa sein Gesicht, auf einen Licht­schalter montiert, und dazu der Text: «Jürg Schalter». Oder Jürg Halter, der einen Hund in der Hand hält («Jürg Hundehalter»).

Neben viel Spott finden sich auch Tweets, in denen mit harten Bandagen gestritten wird. So hatte Halter selbst im Mai 2022 gefordert, «man solle Listen mit diesen Feig­lingen anlegen», den «toxischen Würstchen». Worauf jemand antwortete: «Du Hund bist schon lange auf meiner Bier über den Kopf leeren Liste». Ausdruck von typischen, völlig entgleisten Twitter-Diskussionen. Mitten­drin: Schrift­steller Halter.

Der gecancelte Mann

Jürg Halter ist auf Twitter einer wie viele: Er teilt schnell und heftig aus. Aber Kritik und Spott erträgt er ganz offensichtlich nicht so gut. Und so kam es, dass Halter in seiner «persönlichen Geschichte», die er auf Facebook und in der NZZ teilte, dann auch einen offensichtlichen Witz eines WOZ-Redaktors zu einem Aufruf hoch­stilisierte, seine Ausstellung «anzugreifen». Dies, obwohl der WOZ-Redaktor den Tweet erst vier Tage nach der Finissage abgesetzt hatte. Doch Halter schrieb: «Hier wurde eine weitere Grenze überschritten.» Und in der NZZ: «Ich frage mich, was ist das Ziel solcher Hass­kampagnen? Mich einzuschüchtern? Mich fertig­zumachen? Täter zu ermutigen?»

Aus einem Witz-Tweet über «wahre Antifaschist*innen» konstruiert sich Jürg Halter eine «konkrete Drohung» oder «anonyme Drohungen», verbindet sie in der NZZ assoziierend mit anonymen Mord­drohungen, die er vor einem Jahr von rechts­extremen Verschwörungs­theoretikern erhalten habe, die aber nichts mit der aktuellen Situation zu tun haben, springt zu einem Angriff von Neonazis auf eine queere Veranstaltung in Zürich kürzlich, weiter zum Umstand, dass SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga Personen­schutz benötige …

Die «konkrete Drohung» von «anonymen Links­extremen» gibt es nicht. Doch die Erzählung vom gecancelten Mann ist zu schön, um nicht wahr zu sein. Das Narrativ setzt sich durch – den Fakten zum Trotz. Und am Ende, kurz bevor im Netz langsam Zweifel und Kritik an Halters Kampagne aufkommen, bleiben vom Berner Schrift­steller, der eine kurze, aber heftige Kampagne anzettelte, nur noch ein paar dürre Worte: «Ich möchte eigentlich, dass nun wieder Ruhe einkehrt. Das Ganze setzt zu.»

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