Die Freiheit ist nicht nur in der Ukraine zu verteidigen

In Russland, China und anderswo bedrohen imperialistische Macht­haber und Autokraten die Demokratie. Auch in der Schweiz gerät sie zunehmend unter Druck.

Ein Kommentar von Casper Selg, 09.11.2022

Vorgelesen von Casper Selg
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Russland zerbombt ein Nachbar­land, das es «heim ins Reich» holen möchte. China führt mit Taiwan Ähnliches im Schilde. Beide sind heute aggressiv auftretende imperialistische Mächte. Der russische Präsident Wladimir Putin setzt auf militärische Gewalt – Zehn­tausende Tote, Millionen Geflüchtete spielen keine Rolle. Der chinesische Allein­herrscher Xi Jinping droht mit Gleichem.

Gleich­zeitig geraten auch mehr und mehr bisher demokratisch ausgerichtete Länder unter den Einfluss von Anti­demokraten. In den USA droht eine weitere Amts­zeit von Donald Trump, welcher wenig bis gar nichts hält von der berühmten Verfassung mit ihren demokratisch-freiheitlichen Prinzipien. Praktisch die ganze Republikanische Partei schart sich hinter ihn und wird faktisch zu einer Trump-Sekte: Geglaubt wird, was der Heils­bringer sagt, widersprechende Fakten spielen keine Rolle.

Ähnliches erlebt man in Brasilien. Mit Jair Bolsonaro hat sich ein unverhohlen rassistischer Autokrat vier Jahre lang um Rechts­staatlichkeit und Verfassung foutiert und anerkennt seine Wahl­niederlage jetzt nur indirekt. Die Liste der Beispiele ist lang. Ungarn und Polen schaffen demokratisch-rechts­staatliche Garantien wieder ab, in Italien kommt eine Neofaschistin an die Macht. Auf den Arabischen Frühling folgte ein kalter Herbst. Vieler­orts in Asien, Afrika, Latein­amerika sind demokratische Systeme auf dem Rück­zug.

Zum Autor

Casper Selg ist Mitglied des Club Helvétique und des Schweizer Presserats. Er hat als Journalist 35 Jahre lang für SRF gearbeitet: als Moderator und Leiter von «Echo der Zeit» sowie als Auslands­korrespondent.

Hier­zulande führt niemand einen vergleichbar direkten Angriff auf die Demo­kratie. Gefahr lauert vielmehr in einer Kombination von Faktoren: Auch in der Schweiz verhöhnen Populisten die Regierung, das Parlament und die Gerichte, also die institutionelle Basis der Demokratie, das Fundament von Freiheit und Selbst­bestimmung. Sie bezeichnen Entscheide des Bundes­rates zum Schutz der Bevölkerung – die vorüber­gehende Masken­pflicht – in massloser Über­treibung als «Einführung der Diktatur». Sie bezeichnen das Parlament als «Zeit­verschwendung». Und sie verletzen die Gewalten­teilung, indem sie Richter, die nicht in ihrem Sinne entscheiden, massiv unter Druck setzen.

Auch hier­zulande wird ein wirklicher Diktator und Demokratie­feind wie Wladimir Putin als Tugend­vorbild der «Männlichkeit» dargestellt. Auch hier wird ein rechts­extremer Fanatiker wie Steve Bannon geschätzt, der einst sagte: «Tragt das Etikett ‹Rassist› als Ehren­zeichen!» Er wird von einem führenden Vertreter der stärksten Partei im Land mit offenen Armen empfangen.

Auch hier gibt es bedrohliche Tendenzen im Bereich der Medien­freiheit wie das Verbot, über relevante Recherchen im Zusammen­hang mit dem Bank­geheimnis zu berichten, oder den verweigerten Schutz für Whistle­blower. Es verbreiten sich auch hier­zulande völlig absurde Thesen über Internet­plattformen in Windes­eile, etwa über Bill Gates, der die ganze Mensch­heit mit Computer­chips ausstatten und so unter Kontrolle bringen wolle. Fanatisierte Gläubige unterscheiden nicht zwischen organisierter Hetze und glaubwürdiger Information. Das alles sind bedenkliche Entwicklungen.

Gleich­zeitig gehen demokratische Tugenden verloren: der politische Anstand, der Respekt vor der anderen Meinung, die Suche nach dem Kompromiss, die sachlich ausgetragene Meinungs­verschiedenheit. Letztere existiert zwar noch. Nur wird sie meist als «Konflikt», «Spaltung» oder als «Krise» dargestellt, und damit immer wieder als Bedrohung.

Ganz speziell aber schwindet heute in weiten Kreisen das Bewusst­sein, dass die Freiheit des Einzelnen ihre Grenze immer an der Freiheit des Nächsten finden muss. Diese Erkenntnis fehlt nicht nur dort, wo gegen die Masken­pflicht demonstriert wird.

Auf andere angewiesen

Angesichts der wachsenden Zahl von Ländern, die Menschen­rechte missachten, Freiheits­rechte verletzen oder die Umwelt zerstören, ist ein Zusammen­stehen der Demokratinnen unerlässlich. Hier spielt die Europäische Union mit ihren Grund­sätzen auf der globalen Ebene eine zentrale Rolle. Es liegt im Interesse der Schweiz, sich gemeinsam mit der EU für diese Werte zu engagieren.

Einmal mehr zu hoffen, dass andere den Kampf für uns führen, «neutral» wegzuschauen und allenfalls zu profitieren, ist zum heutigen Zeitpunkt verantwortungs­los und riskant. Dabei – wie das jetzt vorgeschlagen wird – auf eine starre Neutralität zu setzen, also Russland und die Ukraine, Täter und Opfer, gleich zu behandeln, würde vor allem eine Abkehr von unseren Grund­sätzen bedeuten. Es würde bedeuten, dass sich die Schweiz, dieses Land des Völker­rechts, nicht mehr ernsthaft für Gerechtigkeit, für Menschen­rechte und für die Freiheit engagieren will.

Wir sind keine Insel. Wir sind eng mit unserer Nachbarschaft verbunden – nur haben wir in dieser Nachbarschaft praktisch nichts zu sagen. Das ist ein Defizit an Demokratie.

Mehr und mehr zentrale Bereiche werden unserer demokratischen Selbst­bestimmung entzogen, solange wir uns nicht auf den Ebenen engagieren, auf denen wichtige Diskussionen geführt und Entscheidungen getroffen werden. Das gilt beispiels­weise für den ausgesprochen freiheits- und demokratie­relevanten Bereich der Regulierung von Big-Tech-Konzernen wie Google, Apple, Meta, Amazon und jetzt insbesondere Twitter. Giganten, die enorme Macht ausüben, jenseits jeder demokratischen Kontrolle. Das zentrale, freiheits­sichernde Primat der Politik tritt hier ausser Kraft.

In diesem Bereich ist die EU faktisch die einzige weltweit wirksame Regulierungs­macht. Im Verhältnis der Schweiz zur EU ist ein Paradigmen­wechsel erforderlich, wenn es darum geht, solch grossen Heraus­forderungen mit der nötigen Kraft entgegen­zutreten. Die Eidgenossenschaft, ihre Demokratie, muss letztlich EU-tauglicher werden, wenn ihre Selbst­bestimmung in zentralen Fragen nicht an der Landes­grenze halt­machen soll. Man kann nicht weiterhin, wie in den letzten dreissig Jahren, diskutieren, ob man sich der EU annähern soll – sondern es muss dringend geklärt werden, wie das geschehen muss.

Es geht um Demokratie – und damit um Freiheit

Der Krieg gegen die Ukraine hat zwar ein neues Gefahren­bewusstsein wach­gerufen. Dieses muss aber mit Inhalten ausgefüllt werden, weit über die militärische Abwehr eines diktatorischen Regimes hinaus. Es geht dort nicht primär um Gelände­gewinne der einen oder anderen Seite, es geht letztlich um Freiheit – für das Land und für die Einzelnen.

So wie im Kalten Krieg die soziale Markt­wirtschaft dazu beitrug, westliche Gesellschaften einiger­massen zusammen­zuhalten, so ist heute eine ökosoziale Markt­wirtschaft vonnöten. Werden in wirtschaftlich härteren Zeiten und mitten im ökologischen Umbau der Wirtschaft die Benachteiligten und zusehends die Mittel­schicht vernachlässigt, dürften viele radikale Positionen übernehmen, zu «Putin-Bewunderern» mutieren.

Je stärker umgekehrt die Inhalte von Freiheit und Demokratie, von Selbst­bestimmung und Menschen­rechten ins Zentrum der Diskussion gerückt werden, desto schwieriger wird die Argumentation für diejenigen, die etwa den russischen Angriffs­krieg rechtfertigen. Oder umgekehrt: Je schwächer das Freiheits­bewusstsein, desto leichter haben es die Demagogen.

Die Rolle der Medien

Hier spielen die Medien eine Schlüssel­rolle. Wie sie informieren und welche Inhalte sie vermitteln, ist von entscheidender Bedeutung, wenn es um den demokratischen Prozess geht. Nur ein kompetenter, rationaler, kritischer Diskurs kann vernünftige demokratische Entscheidungen vorbereiten.

Die Entwicklung läuft aber in die Gegen­richtung – beeinflusst vor allem von den Big-Tech-Giganten. Aufgrund von deren Geschäfts­modellen steht den Schweizer Medien immer weniger Geld zur Verfügung; diese werden je länger, desto härter konkurrenziert durch Internet­angebote, in welchen Sach­kompetenz selten den Ausschlag gibt, sehr wohl aber die Umsatz­steigerung mittels Emotionalisierung und Polarisierung.

Information primär über Affekte zu verbreiten, schadet aber nicht nur den Inhalten, es schadet dem rationalen Diskurs und fördert über die ständige Emotionalisierung das «Wut­bürgertum». Der Kampf um Klicks erzeugt eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, die dem demokratischen Diskurs schadet, wie dies der Philosoph Jürgen Habermas jüngst ebenso angesprochen hat wie die Notwendig­keit, dass jeder Diskurs zwangs­läufig Regeln benötigt. Die muss jemand setzen, der das vermag.

Auch dass – insbesondere auf Social Media – das Angebot von nicht redigierten Inhalten stetig wächst, ist problematisch. Denn dadurch geht für die Bevölkerung sehr viel Kenntnis aus professionell erarbeiteter Information verloren. 38 Prozent der Erwachsenen in der Schweiz sind heute laut neuesten wissenschaftlichen Unter­suchungen «news­depriviert», das heisst, sie informieren sich kaum und sie haben nur sehr geringe Kenntnis von politischen oder gesellschaftlichen Vorgängen.

Bei jungen Menschen zwischen 16 und 29 Jahren ist das Ergebnis noch wesentlich alarmierender: 52 Prozent, also mehr als die Hälfte dieser jungen Leute, kümmern sich kaum um Informations­inhalte. Junge insgesamt orientieren sich vornehmlich über ihr Handy und lesen im Durchschnitt nur sieben Minuten pro Tag journalistisch bearbeitete Informationen. Uninformierte Stimm­bürgerinnen: Hier wächst eine weitere grosse Gefahr für die Demokratie heran, insbesondere für eine direkte Demokratie mit ihren regelmässigen Sach­abstimmungen.

Der frühere Chef­redaktor der «Washington Post», Ben Bradlee, fasste sich kurz: «Eine besser informierte Welt ist eine bessere Welt.» Aufgabe der Politik ist es, der Verbreitung von Lügen und Hass Einhalt zu gebieten und relevanz­orientierte, sachgerechte, kompetente Bericht­erstattung zu fördern. Etwa mit der Stärkung unabhängiger öffentlicher Medien­häuser, aber auch privater Anbieter, die in aller Vielfalt dem vernunft­geleiteten, sach­gerechten Journalismus treu bleiben. Oder mit der Unter­stützung statt der Verhöhnung des professionellen Journalismus allgemein. Auch hier geht es letztlich um Demokratie und Freiheit.

Beteiligung aller statt Ausschluss vieler

Unsere Demokratie ist auch von anderer Seite in Gefahr: unter anderem dadurch, dass ein Viertel der Wohn­bevölkerung aus sogenannten Ausländerinnen besteht, die genau besehen Inländerinnen sind und deren universelles Recht auf Partizipation nicht gewähr­leistet ist. Weil sie kein landesweites Stimm- und Wahl­recht haben, nimmt die Repräsentativität unserer Demokratie laufend ab. Mangelnde Partizipation und Ausgrenzung sind aber nicht nur ungerecht, sie machen auch empfänglich für anti­demokratische Parolen – eine weitere Gefahren­quelle für die freiheitliche Demokratie.

Hinter jedem dieser Aspekte steckt auch – und vor allem – das Schicksals­thema Ökologie. Mit einer zerstörten Umwelt werden auch Freiheit und Demokratie hinfällig. Die kurzfristig angelegten Entscheidungs­prozesse vieler Demokratien werden dieser Frage nicht gerecht, die das Leben und die Art des Überlebens unserer Nach­fahren bestimmt. Es geschieht nicht, was geschehen muss. Die Demokratie muss Wege finden, langfristige Perspektiven nicht nur stringenter zu entwickeln, sondern vor allem auch durch­zusetzen und durch­zuhalten.

Begnügt sich die Schweizer Politik damit, unsere ruhige Existenz als vermeintliche Insulaner zu gewährleisten, erodiert die Demokratie und mit ihr die Freiheit. Das Beispiel Gross­britannien zeigt, wie schnell heutzutage ein Hort demokratischer Gepflogen­heiten und des kultivierten Diskurses schwersten Schaden nehmen kann. Gleiches gilt für die USA.

Es steht viel auf dem Spiel. In der Ukraine und – in anderer Weise – auch bei uns. Die Politik ist gefordert, Zukunft zu gestalten, statt die Gegenwart verlängern zu wollen. Nur so lässt sich Freiheit sichern.

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