Auf lange Sicht

Alles hängt mit allem zusammen

Francis Galton hat eines der wichtigsten Instrumente der Statistik entdeckt. Doch im Schatten der Korrelation gedieh auch die Rassen­hygiene.

Von Tin Fischer, 07.11.2022

Vorgelesen von Patrick Venetz
0:00 / 13:29

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Wissen Sie, wer die Wetter­karten entwickelt hat, die wir täglich in den Nachrichten sehen?

Francis Galton.

Und wer hat die kriminalistische Methode der Finger­abdrücke erfunden, die zahllose Mord­fälle löste?

Francis Galton.

Und von wem stammt das Konzept der Korrelation, eines der wichtigsten Konzepte in der Statistik?

Ebenfalls: Francis Galton.

Warum Sie trotzdem vielleicht noch nie von Francis Galton gehört haben?

Das ist eine schwierige Geschichte.

«Das Fehlen von Galtons Geschichte ist eine Geschichte für sich», sagt Subhadra Das, Autorin und Historikerin aus London. Nach dem Studium arbeitete sie als Kuratorin am Londoner University College für die Galton-Sammlung. Eigentlich eine ehrwürdige Aufgabe. Denn Galtons Ideen und Experimente prägen die Menschheit bis heute. Er ist eine der wichtigsten Figuren in der Geschichte der Statistik.

Im Museum bleibt er aber im Gift­schrank. «Wir sprechen nicht über ihn, weil wir nicht gerne über Rassismus sprechen», sagt Das. «Wir sprechen nicht gerne über das Britische Imperium und über den Kolonialismus. Das sind verstörende Themen. Deshalb verschwand Galton aus der Geschichte.»

Denn die Liste von Galtons Errungenschaften wäre nicht komplett ohne diese:

Wer hat die Rassen­hygiene erfunden?

Francis Galton.

Wer versuchte statistisch zu belegen, dass Weisse von Natur aus die Welt dominieren?

Sir Francis Galton.

Reiche Genies

Mitte des 19. Jahrhunderts stellte eine neue Theorie die Welt auf den Kopf. Charles Darwin argumentierte, dass der Mensch nicht von Gott geschaffen wurde, sondern vom Affen abstammte, und sich die Arten durch Selektion entwickelten. Darwins Cousin Francis Galton wiederum war in Gross­britannien berühmt für seine Entdeckungs­reisen durch Afrika. Aber auch ihn interessierte das Thema – speziell die Vererblichkeit.

Er glaubte, dass geistige Fähigkeiten grössten­teils vererbt sind. «Galton wurde in eine Familie reicher Genies geboren. Und ich glaube, so sah er die Welt. Er glaubte, das sei natur­gegeben», sagt Subhadra Das.

Um seine Theorie, dass Genie erblich ist, zu testen, fand Galton eine raffinierte Datenquelle: Nachrufe in der britischen Zeitung «Times». Er benutzte diese Quelle als Mass­stab dafür, wie bedeutend eine Person war. Über Jahre zurück analysierte er also, wie viele bedeutende Männer (Frauen liess er aus) jeweils gestorben waren und mit wem sie verwandt waren – und ob unter diesen Verwandten weitere bedeutende Männer waren.

So wollte er berechnen, ob der Sohn eines bedeutenden Mannes eine höhere Wahrscheinlichkeit hatte, selbst Bedeutung zu erlangen – und ob dieser Effekt über die Generationen nachlässt. Das Resultat war deutlich.

Wie der Vater, so der Sohn?

Wahrscheinlichkeit, ein bedeutender Mann zu werden, abhängig vom Verwandtschafts­grad

1. GradBrüder023 % Väter026 % Söhne036 % 2. GradOnkel05 % Neffen05 % Grossväter08 % Enkel010 % 3. GradUrgrossväter01 % Grossonkel01 % Urenkel02 % Cousins02 % Grossneffen02 %

Quelle: Francis Galton.

Die Grafik zeigt die Wahrscheinlichkeit, ein bedeutender Mann zu werden, wenn man bereits in eine bedeutende Familie geboren wurde. Und zwar abhängig davon, in welchem Verhältnis man zum jeweils bedeutendsten Mitglied der eigenen Familie stand. Als Sohn eines bedeutenden Vaters betrug die Wahrscheinlichkeit, selbst einmal von Bedeutung zu sein, demnach 36 Prozent. Beim Enkel hingegen lag sie nur noch bei knapp 10 Prozent. Für Galton ein klarer Beleg dafür, dass Intelligenz erblich ist.

«Galton war wirklich ein Genie. Wie er die Menge an Informationen verarbeitete, ganz ohne Computer, das verdient Respekt», sagt Das. «Aber er war nicht gut darin, seine eigene Position zu hinterfragen.»

Galton kam nicht auf die Idee, dass die Art und Weise, wie er seine Frage stellte und seine Daten auswählte, mehr mit ihm selbst und seiner Stellung in der Welt zu tun hatte als mit der Welt selbst.

Verfolgte Denker

Es war ein Mann aus Genf, der erkannte, dass an Galtons Theorie etwas grund­sätzlich nicht stimmte. Alphonse Pyramus de Candolle glaubte, dass Fähigkeiten nicht einfach angeboren und vererbt waren, sondern sich erst durch unsere Umwelt entwickelten: durch die Kultur, das Land, die Familie, in der wir leben.

Wie Galton kam auch de Candolle aus einer hoch angesehenen Familie. Und wie Galton interessierte sich der Genfer Botaniker für Erblichkeit. De Candolle jedoch war Hugenotte. Als Protestanten wurden diese aus Frankreich vertrieben. Die de Candolles flohen in die Schweiz. Und diese Erfahrung veränderte seinen Blick auf die Welt.

De Candolle stellte ebenfalls einen innovativen Datensatz zusammen. Er machte Listen von über 300 Wissenschaftlern, die als Ausländer an renommierten Wissenschafts­akademien aufgenommen worden waren. Die Zahlen reichten zurück bis 1750. Und sie erzählten eine völlig andere Geschichte als die von Galton – hier am Beispiel der Ausländer an der französischen Académie des sciences von Paris:

Zu Ruhm im Ausland

Anteil ausländische Wissenschaftler an der Académie des sciences von Paris

Italien
Schweiz
England
Schweden, Norwegen, Dänemark
Deutschland
andere Länder
1750178918291869050100 %

Quelle: Alphonse de Candolle.

Manche Staaten erlebten in diesen Ranglisten ein Auf und Ab. Deutschland etwa hatte im 18. Jahrhundert kaum Wissenschaftler von europäischem Rang, im 19. Jahrhundert aber nahm man es sogar mit Gross­britannien und Frankreich auf. Italien ging den genau umgekehrten Weg. Konnte es wirklich sein, dass sich die Natur der Menschen in diesen Ländern so schnell änderte? Oder war es eher der wirtschaftliche Auf- und Abstieg?

Aus der Schweiz wiederum kam nur gerade 1 Prozent der europäischen Bevölkerung, aber 10 Prozent der wichtigsten europäischen Wissenschaftler. Lag es an der Natur der Schweizer? Eher nicht: 35 der 38 Schweizer Wissenschaftler waren keine Schweizer, sondern Ausländer – vor allem Hugenotten. Es musste also die Umgebung sein, die für die Wissenschaft in der Schweiz besonders zuträglich war.

De Candolle spekulierte: das milde Klima, die Grösse des Landes (die eine andere Karriere, etwa in der Armee, weniger interessant machte) und – wenn auch nur zu guter Letzt – der Wohlstand. «Ich kann mir schmeicheln, damit weiter in den Kern der Frage vorgedrungen zu sein», schrieb de Candolle süffisant an Galton.

Chaotische Experimente

Galton war herausgefordert. Er musste vom Grössten ins Kleinste gehen, von den Genies an der Spitze des Britischen Imperiums an die Keimzellen der Natur: die Samen von Platt­erbsen, einer Blumenart. Galton hielt sie für ideal zur Erforschung von Vererbungs­fragen, weil sie sich selbst befruchteten und einfach in der Hand­habung waren. Aber er versuchte auch, etwas Menschliches in sie hineinzu­interpretieren, als er sein Experiment vorbereitete. Tausende Samen habe er einzeln gewogen und sie dabei behandelt «wie ein Zensus-Beamter eine grosse Bevölkerung behandeln würde», schrieb er.

Er verteilte die Samen in verschiedene Pakete, je nach Durchmesser: 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21 Hundertstel eines Zolls (circa 0,25 Millimeter). Das Experiment sollte eine einfache Frage beantworten: Hängt die Dicke der Samen der neuen Pflanzen mit derjenigen der Ursprungs­samen zusammen? Oder eben: Vererbt man Eigenschaften?

Liest man Galtons Berichte über sein Platterbsen-Experiment, muss es ein komplettes Chaos gewesen sein. Sein erster Versuch im Frühling 1874 ging daneben. Bei einem zweiten verschickte er mehrere Päckchen mit Samen an Freunde und Bekannte in ganz Gross­britannien. Auch Charles Darwin erhielt eine Portion. Doch wucherten Darwins Pflanzen so sehr, dass er seinen Cousin bat, bald vorbei­zukommen und eine Nacht zu bleiben: Die Platterbsen seien so gross geworden, dass es schwer werde, sie zu unterscheiden. Zwei der anderen Portionen gingen komplett ein. Von den restlichen habe er «mehr oder weniger komplette Erzeugnisse» erhalten, schrieb Galton.

Der Forscher klagte, er sei für das Experiment durch «immense Mühen» gegangen. Die Resultate aber seien «höchst befriedigend». Und so sah die Beziehung der Samen­dicken schliesslich aus:

Die Entdeckung der Korrelation

Durchmesser von Platterbsen-Ablegern in Abhängigkeit zu den Ursprungs­samen

161718 Durchschnittlicher Durchmesser der Ableger141822 Durchmesser Ursprungssamen

Um die genauen Werte zu sehen, fahren Sie über die einzelnen Punkte. Quelle: Francis Galton.

Wir sehen auf der horizontalen Achse die Durch­messer der Ursprungs­samen und auf der vertikalen Achse den durch­schnittlichen Durchmesser ihrer Ableger. Je dicker die Elternsamen, desto dicker die Samen der Sprösslinge. Nicht immer und nicht eins zu eins. Aber eine Tendenz ist erkennbar. Und genau das ist der Punkt. Karl Pearson, der später Galtons Arbeit formalisieren wird, schreibt: «A ist nicht die einzige Ursache von B, aber es trägt zur Erzeugung von B bei» – und für diesen «Grad der partiellen Verursachung» fand er ein Mass: den Korrelations­koeffizienten.

Würden die Durchmesser der Samen perfekt zusammen­hängen, also 16 Hundertstelzoll zu 16 Hundertstelzoll führen, 17 zu 17 und so weiter, würde der Korrelations­koeffizient 1 betragen. Würden sie überhaupt nicht zusammen­hängen, wäre er null.

Der Korrelations­koeffizient hat die Statistik für immer verändert. «Hatten Wissenschaftler bis 1889 nur kausal gedacht, sollten sie künftig eine weitere Arbeits­kategorie, die der Korrelation, zulassen und damit der quantitativen Analyse weite Felder der medizinischen, psychologischen und soziologischen Forschung erschliessen», so Pearson.

Die Konsequenzen seiner Experimente und Analysen hielt Galton für enorm. Ein Genie zeuge zwar nicht einfach ein weiteres Genie. Aber ein gewisses (messbares) Mass an Genie stecke in seinen Nachkommen. Auf die Menschheit übertragen, würde das heissen, dass diese besser oder schlechter werde, je nachdem, wer sich vermehre, so Galtons Überlegung.

«Die Möglichkeit, die Rasse einer Nation zu verbessern, hängt von ihrer Macht ab, die Produktivität ihrer besten Brut zu steigern», folgerte er. Dies sei vor allem für Gross­britannien wichtig, denn «für keine Nation ist höhere Zucht notwendiger als für unsere, denn wir pflanzen unseren Bestand auf der ganzen Welt und legen den Grund­stein für die Anlagen und Fähigkeiten zukünftiger Millionen Menschen». Er entwickelte daraus eine ganze Wissenschaft: Eugenik, die Lehre der Erbgesundheit. Mit dem Ziel, sein Volk zu verbessern.

Galton streute damit die Saat für die Rassen­theorie, die später von den National­sozialisten vollends pervertiert werden sollte.

Verengte Blicke

Heute wissen wir: Vieles ist erblich. Manches stark (Blutgruppe, Augenfarbe, Körpergrösse), anderes mittelstark (Alkoholismus, Depression), manches nur schwach (Brustkrebs).

Intelligenz liegt ebenfalls im Mittelfeld. Die Ausprägung der vererbten Eigenschaften ist umso höher, je zuträglicher die Umstände sind, unter denen man aufwächst. «In sozial höheren Schichten bekommen die meisten Kinder das, was sie zur optimalen Intelligenz­entwicklung brauchen», sagt die Intelligenz­forscherin Elsbeth Stern von der ETH Zürich. Hier ist der Einfluss der Umwelt klein. «In sozial schwachen Familien bekommen manche, aber nicht alle Kinder die Unter­stützung, die sie zur Ausbildung ihrer in den Genen vorgesehenen Intelligenz benötigen.» Der Einfluss der Gene verschwindet fast ganz, wie eine Studie unter ärmeren Familien in den USA zeigte.

Es ist wie bei einer Saat: Gedeiht sie auf guter Erde, sind die Unter­schiede zwischen den Pflanzen grösstenteils genetisch erklärbar. Ist die Erde schlecht, überwiegt der Umwelt­einfluss. Ironischer­weise zeigte genau das Galtons chaotisches Experiment. Samen wurden von Vögeln gefressen. Manche Pflanzen wucherten, andere gingen ein. Galton aber pickte sich nur die aus seiner Sicht gelungenen Versuche heraus. So entwickelte er eines der wichtigsten Werkzeuge der Statistik – und begrub darunter die Realität.

Warum war Galton blind dafür? Warum sah er in den Daten genau das, was seine Weltsicht bestätigte?

Die Erklärung liegt wohl weniger bei Galton selbst, sondern bei seinem Schweizer Sparrings­partner de Candolle. Als Hugenotte erkannte dieser zwar, dass wir wesentlich von unserer Umwelt geprägt sind. In der Konsequenz hätte er aber erkennen müssen, dass dies dann erklärt, warum so wenige berühmte Wissenschaftler aus Afrika oder Asien kamen. Just diesen Gedanken­schritt wollte auch de Candolle nicht vollziehen. Stattdessen verfiel er in die gleichen rassistischen Stereotype wie Galton. Schwarze seien zwar physisch stark, aber nicht intelligent genug, Afrika zu verlassen, spekulierte de Candolle über die Zukunft der Welt; Asiaten seien zwar intelligent (und gierig), aber mutlos und ohne guten Glauben.

«Weisse Überlegenheit schuf das Gerüst, wie race wissenschaftlich verstanden wurde. Sie schuf unter europäischen Wissenschaftlern einen engstirnigen Blick für das, wozu Nicht-Weisse in der Lage waren. Sie sahen sie als Tiere», sagt die Historikerin Subhadra Das.

In ihren Daten hingegen sahen beide, Galton und de Candolle, vor allem sich selbst und ihre eigene Genialität.

Anmerkung der Redaktion: Diese Ausgabe des Daten­briefings ist für den Moment die letzte. Wir schicken das Format in Winter­pause, um auf Projekte wie das Journal, interaktiven Journalismus und datengetriebene Magazin-Geschichten zu fokussieren. Und melden uns im Frühjahr 2023 zu seiner Rückkehr.

Wir haben in einer ersten Version des Beitrags im Kapitel «Verengte Blicke» missverständlich formuliert zum «Grad an Erblichkeit». Der entsprechende Absatz ist präzisiert, wir danken für den Hinweis aus der Verlegerschaft.

Zum Autor

Tin Fischer hat Geschichte studiert und arbeitet als freier Journalist unter anderem für die «Zeit». Im April 2022 ist sein Buch «Linke Daten, rechte Daten» erschienen, in dem Fischer zeigt, wie unter­schiedlich und abhängig von der politischen Couleur sich Daten inter­pretieren lassen.

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