Alles hängt mit allem zusammen
Francis Galton hat eines der wichtigsten Instrumente der Statistik entdeckt. Doch im Schatten der Korrelation gedieh auch die Rassenhygiene.
Von Tin Fischer, 07.11.2022
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Wissen Sie, wer die Wetterkarten entwickelt hat, die wir täglich in den Nachrichten sehen?
Francis Galton.
Und wer hat die kriminalistische Methode der Fingerabdrücke erfunden, die zahllose Mordfälle löste?
Francis Galton.
Und von wem stammt das Konzept der Korrelation, eines der wichtigsten Konzepte in der Statistik?
Ebenfalls: Francis Galton.
Warum Sie trotzdem vielleicht noch nie von Francis Galton gehört haben?
Das ist eine schwierige Geschichte.
«Das Fehlen von Galtons Geschichte ist eine Geschichte für sich», sagt Subhadra Das, Autorin und Historikerin aus London. Nach dem Studium arbeitete sie als Kuratorin am Londoner University College für die Galton-Sammlung. Eigentlich eine ehrwürdige Aufgabe. Denn Galtons Ideen und Experimente prägen die Menschheit bis heute. Er ist eine der wichtigsten Figuren in der Geschichte der Statistik.
Im Museum bleibt er aber im Giftschrank. «Wir sprechen nicht über ihn, weil wir nicht gerne über Rassismus sprechen», sagt Das. «Wir sprechen nicht gerne über das Britische Imperium und über den Kolonialismus. Das sind verstörende Themen. Deshalb verschwand Galton aus der Geschichte.»
Denn die Liste von Galtons Errungenschaften wäre nicht komplett ohne diese:
Wer hat die Rassenhygiene erfunden?
Francis Galton.
Wer versuchte statistisch zu belegen, dass Weisse von Natur aus die Welt dominieren?
Sir Francis Galton.
Reiche Genies
Mitte des 19. Jahrhunderts stellte eine neue Theorie die Welt auf den Kopf. Charles Darwin argumentierte, dass der Mensch nicht von Gott geschaffen wurde, sondern vom Affen abstammte, und sich die Arten durch Selektion entwickelten. Darwins Cousin Francis Galton wiederum war in Grossbritannien berühmt für seine Entdeckungsreisen durch Afrika. Aber auch ihn interessierte das Thema – speziell die Vererblichkeit.
Er glaubte, dass geistige Fähigkeiten grösstenteils vererbt sind. «Galton wurde in eine Familie reicher Genies geboren. Und ich glaube, so sah er die Welt. Er glaubte, das sei naturgegeben», sagt Subhadra Das.
Um seine Theorie, dass Genie erblich ist, zu testen, fand Galton eine raffinierte Datenquelle: Nachrufe in der britischen Zeitung «Times». Er benutzte diese Quelle als Massstab dafür, wie bedeutend eine Person war. Über Jahre zurück analysierte er also, wie viele bedeutende Männer (Frauen liess er aus) jeweils gestorben waren und mit wem sie verwandt waren – und ob unter diesen Verwandten weitere bedeutende Männer waren.
So wollte er berechnen, ob der Sohn eines bedeutenden Mannes eine höhere Wahrscheinlichkeit hatte, selbst Bedeutung zu erlangen – und ob dieser Effekt über die Generationen nachlässt. Das Resultat war deutlich.
Die Grafik zeigt die Wahrscheinlichkeit, ein bedeutender Mann zu werden, wenn man bereits in eine bedeutende Familie geboren wurde. Und zwar abhängig davon, in welchem Verhältnis man zum jeweils bedeutendsten Mitglied der eigenen Familie stand. Als Sohn eines bedeutenden Vaters betrug die Wahrscheinlichkeit, selbst einmal von Bedeutung zu sein, demnach 36 Prozent. Beim Enkel hingegen lag sie nur noch bei knapp 10 Prozent. Für Galton ein klarer Beleg dafür, dass Intelligenz erblich ist.
«Galton war wirklich ein Genie. Wie er die Menge an Informationen verarbeitete, ganz ohne Computer, das verdient Respekt», sagt Das. «Aber er war nicht gut darin, seine eigene Position zu hinterfragen.»
Galton kam nicht auf die Idee, dass die Art und Weise, wie er seine Frage stellte und seine Daten auswählte, mehr mit ihm selbst und seiner Stellung in der Welt zu tun hatte als mit der Welt selbst.
Verfolgte Denker
Es war ein Mann aus Genf, der erkannte, dass an Galtons Theorie etwas grundsätzlich nicht stimmte. Alphonse Pyramus de Candolle glaubte, dass Fähigkeiten nicht einfach angeboren und vererbt waren, sondern sich erst durch unsere Umwelt entwickelten: durch die Kultur, das Land, die Familie, in der wir leben.
Wie Galton kam auch de Candolle aus einer hoch angesehenen Familie. Und wie Galton interessierte sich der Genfer Botaniker für Erblichkeit. De Candolle jedoch war Hugenotte. Als Protestanten wurden diese aus Frankreich vertrieben. Die de Candolles flohen in die Schweiz. Und diese Erfahrung veränderte seinen Blick auf die Welt.
De Candolle stellte ebenfalls einen innovativen Datensatz zusammen. Er machte Listen von über 300 Wissenschaftlern, die als Ausländer an renommierten Wissenschaftsakademien aufgenommen worden waren. Die Zahlen reichten zurück bis 1750. Und sie erzählten eine völlig andere Geschichte als die von Galton – hier am Beispiel der Ausländer an der französischen Académie des sciences von Paris:
Manche Staaten erlebten in diesen Ranglisten ein Auf und Ab. Deutschland etwa hatte im 18. Jahrhundert kaum Wissenschaftler von europäischem Rang, im 19. Jahrhundert aber nahm man es sogar mit Grossbritannien und Frankreich auf. Italien ging den genau umgekehrten Weg. Konnte es wirklich sein, dass sich die Natur der Menschen in diesen Ländern so schnell änderte? Oder war es eher der wirtschaftliche Auf- und Abstieg?
Aus der Schweiz wiederum kam nur gerade 1 Prozent der europäischen Bevölkerung, aber 10 Prozent der wichtigsten europäischen Wissenschaftler. Lag es an der Natur der Schweizer? Eher nicht: 35 der 38 Schweizer Wissenschaftler waren keine Schweizer, sondern Ausländer – vor allem Hugenotten. Es musste also die Umgebung sein, die für die Wissenschaft in der Schweiz besonders zuträglich war.
De Candolle spekulierte: das milde Klima, die Grösse des Landes (die eine andere Karriere, etwa in der Armee, weniger interessant machte) und – wenn auch nur zu guter Letzt – der Wohlstand. «Ich kann mir schmeicheln, damit weiter in den Kern der Frage vorgedrungen zu sein», schrieb de Candolle süffisant an Galton.
Chaotische Experimente
Galton war herausgefordert. Er musste vom Grössten ins Kleinste gehen, von den Genies an der Spitze des Britischen Imperiums an die Keimzellen der Natur: die Samen von Platterbsen, einer Blumenart. Galton hielt sie für ideal zur Erforschung von Vererbungsfragen, weil sie sich selbst befruchteten und einfach in der Handhabung waren. Aber er versuchte auch, etwas Menschliches in sie hineinzuinterpretieren, als er sein Experiment vorbereitete. Tausende Samen habe er einzeln gewogen und sie dabei behandelt «wie ein Zensus-Beamter eine grosse Bevölkerung behandeln würde», schrieb er.
Er verteilte die Samen in verschiedene Pakete, je nach Durchmesser: 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21 Hundertstel eines Zolls (circa 0,25 Millimeter). Das Experiment sollte eine einfache Frage beantworten: Hängt die Dicke der Samen der neuen Pflanzen mit derjenigen der Ursprungssamen zusammen? Oder eben: Vererbt man Eigenschaften?
Liest man Galtons Berichte über sein Platterbsen-Experiment, muss es ein komplettes Chaos gewesen sein. Sein erster Versuch im Frühling 1874 ging daneben. Bei einem zweiten verschickte er mehrere Päckchen mit Samen an Freunde und Bekannte in ganz Grossbritannien. Auch Charles Darwin erhielt eine Portion. Doch wucherten Darwins Pflanzen so sehr, dass er seinen Cousin bat, bald vorbeizukommen und eine Nacht zu bleiben: Die Platterbsen seien so gross geworden, dass es schwer werde, sie zu unterscheiden. Zwei der anderen Portionen gingen komplett ein. Von den restlichen habe er «mehr oder weniger komplette Erzeugnisse» erhalten, schrieb Galton.
Der Forscher klagte, er sei für das Experiment durch «immense Mühen» gegangen. Die Resultate aber seien «höchst befriedigend». Und so sah die Beziehung der Samendicken schliesslich aus:
Wir sehen auf der horizontalen Achse die Durchmesser der Ursprungssamen und auf der vertikalen Achse den durchschnittlichen Durchmesser ihrer Ableger. Je dicker die Elternsamen, desto dicker die Samen der Sprösslinge. Nicht immer und nicht eins zu eins. Aber eine Tendenz ist erkennbar. Und genau das ist der Punkt. Karl Pearson, der später Galtons Arbeit formalisieren wird, schreibt: «A ist nicht die einzige Ursache von B, aber es trägt zur Erzeugung von B bei» – und für diesen «Grad der partiellen Verursachung» fand er ein Mass: den Korrelationskoeffizienten.
Würden die Durchmesser der Samen perfekt zusammenhängen, also 16 Hundertstelzoll zu 16 Hundertstelzoll führen, 17 zu 17 und so weiter, würde der Korrelationskoeffizient 1 betragen. Würden sie überhaupt nicht zusammenhängen, wäre er null.
Der Korrelationskoeffizient hat die Statistik für immer verändert. «Hatten Wissenschaftler bis 1889 nur kausal gedacht, sollten sie künftig eine weitere Arbeitskategorie, die der Korrelation, zulassen und damit der quantitativen Analyse weite Felder der medizinischen, psychologischen und soziologischen Forschung erschliessen», so Pearson.
Die Konsequenzen seiner Experimente und Analysen hielt Galton für enorm. Ein Genie zeuge zwar nicht einfach ein weiteres Genie. Aber ein gewisses (messbares) Mass an Genie stecke in seinen Nachkommen. Auf die Menschheit übertragen, würde das heissen, dass diese besser oder schlechter werde, je nachdem, wer sich vermehre, so Galtons Überlegung.
«Die Möglichkeit, die Rasse einer Nation zu verbessern, hängt von ihrer Macht ab, die Produktivität ihrer besten Brut zu steigern», folgerte er. Dies sei vor allem für Grossbritannien wichtig, denn «für keine Nation ist höhere Zucht notwendiger als für unsere, denn wir pflanzen unseren Bestand auf der ganzen Welt und legen den Grundstein für die Anlagen und Fähigkeiten zukünftiger Millionen Menschen». Er entwickelte daraus eine ganze Wissenschaft: Eugenik, die Lehre der Erbgesundheit. Mit dem Ziel, sein Volk zu verbessern.
Galton streute damit die Saat für die Rassentheorie, die später von den Nationalsozialisten vollends pervertiert werden sollte.
Verengte Blicke
Heute wissen wir: Vieles ist erblich. Manches stark (Blutgruppe, Augenfarbe, Körpergrösse), anderes mittelstark (Alkoholismus, Depression), manches nur schwach (Brustkrebs).
Intelligenz liegt ebenfalls im Mittelfeld. Die Ausprägung der vererbten Eigenschaften ist umso höher, je zuträglicher die Umstände sind, unter denen man aufwächst. «In sozial höheren Schichten bekommen die meisten Kinder das, was sie zur optimalen Intelligenzentwicklung brauchen», sagt die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern von der ETH Zürich. Hier ist der Einfluss der Umwelt klein. «In sozial schwachen Familien bekommen manche, aber nicht alle Kinder die Unterstützung, die sie zur Ausbildung ihrer in den Genen vorgesehenen Intelligenz benötigen.» Der Einfluss der Gene verschwindet fast ganz, wie eine Studie unter ärmeren Familien in den USA zeigte.
Es ist wie bei einer Saat: Gedeiht sie auf guter Erde, sind die Unterschiede zwischen den Pflanzen grösstenteils genetisch erklärbar. Ist die Erde schlecht, überwiegt der Umwelteinfluss. Ironischerweise zeigte genau das Galtons chaotisches Experiment. Samen wurden von Vögeln gefressen. Manche Pflanzen wucherten, andere gingen ein. Galton aber pickte sich nur die aus seiner Sicht gelungenen Versuche heraus. So entwickelte er eines der wichtigsten Werkzeuge der Statistik – und begrub darunter die Realität.
Warum war Galton blind dafür? Warum sah er in den Daten genau das, was seine Weltsicht bestätigte?
Die Erklärung liegt wohl weniger bei Galton selbst, sondern bei seinem Schweizer Sparringspartner de Candolle. Als Hugenotte erkannte dieser zwar, dass wir wesentlich von unserer Umwelt geprägt sind. In der Konsequenz hätte er aber erkennen müssen, dass dies dann erklärt, warum so wenige berühmte Wissenschaftler aus Afrika oder Asien kamen. Just diesen Gedankenschritt wollte auch de Candolle nicht vollziehen. Stattdessen verfiel er in die gleichen rassistischen Stereotype wie Galton. Schwarze seien zwar physisch stark, aber nicht intelligent genug, Afrika zu verlassen, spekulierte de Candolle über die Zukunft der Welt; Asiaten seien zwar intelligent (und gierig), aber mutlos und ohne guten Glauben.
«Weisse Überlegenheit schuf das Gerüst, wie race wissenschaftlich verstanden wurde. Sie schuf unter europäischen Wissenschaftlern einen engstirnigen Blick für das, wozu Nicht-Weisse in der Lage waren. Sie sahen sie als Tiere», sagt die Historikerin Subhadra Das.
In ihren Daten hingegen sahen beide, Galton und de Candolle, vor allem sich selbst und ihre eigene Genialität.
Anmerkung der Redaktion: Diese Ausgabe des Datenbriefings ist für den Moment die letzte. Wir schicken das Format in Winterpause, um auf Projekte wie das Journal, interaktiven Journalismus und datengetriebene Magazin-Geschichten zu fokussieren. Und melden uns im Frühjahr 2023 zu seiner Rückkehr.
Wir haben in einer ersten Version des Beitrags im Kapitel «Verengte Blicke» missverständlich formuliert zum «Grad an Erblichkeit». Der entsprechende Absatz ist präzisiert, wir danken für den Hinweis aus der Verlegerschaft.
Tin Fischer hat Geschichte studiert und arbeitet als freier Journalist unter anderem für die «Zeit». Im April 2022 ist sein Buch «Linke Daten, rechte Daten» erschienen, in dem Fischer zeigt, wie unterschiedlich und abhängig von der politischen Couleur sich Daten interpretieren lassen.