Binswanger

Wird die US-Demokratie überleben?

Es sieht nicht sehr gut aus für die Demokraten bei den Midterm-Wahlen. Das ist an sich weder beunruhigend noch überraschend. Dennoch ist dieser Urnengang eine Schicksals­wahl. Für die Amerikanerinnen und für uns.

Von Daniel Binswanger, 05.11.2022

Vorgelesen von Danny Exnar
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Auf dem europäischen Kontinent ist es ein Tag wie jeder andere – aber am kommenden Dienstag könnte der Anfang vom Ende der freien Welt beginnen. Das erscheint Ihnen überspitzt? Hoffen wir, dass Sie recht haben. Dennoch könnten die nächste Woche statt­findenden Zwischen­wahlen für den Kongress das Überleben der amerikanischen Demokratie infrage stellen. Und was würde tiefgreifendere Konsequenzen haben, für die USA, aber auch für den Rest des Globus, als das Abgleiten der westlichen Super­macht in den Autoritarismus?

Sicher, man soll nicht über­dramatisieren. Die US-Institutionen sind von der Trump-Präsident­schaft zwar beschädigt, aber nicht zerstört worden. Warum sollen sie nicht auch in Zukunft resilient bleiben? Leider fehlt es nicht an Gründen.

Ein erster Grund ist die Tatsache, dass das Versagen des amerikanischen Politik­systems mit jedem Tag evidenter wird: Es ist gelungen, Trump aus dem Weissen Haus zu entfernen, aber nicht von den Schalt­hebeln der politischen Macht. Noch immer verehrt ihn ein grosser Teil der Basis der Republikanischen Partei, noch immer ist er die zwar nicht mehr ganz unbestrittene, aber weiterhin stärkste Führer­figur. Trotz des Angriffs seiner Anhänger auf das Kapitol, um die Amts­übergabe zu verhindern. Trotz der nie abreissenden, immer gravierenderen Enthüllungen und Skandale, zuletzt das Tauziehen um die von Trump entwendeten Akten zu militärischen und geheim­dienstlichen Staats­geheimnissen. Trotz des eisernen Festhaltens an der Lüge, er sei der Gewinner der letzten Präsidentschafts­wahlen und Joe Biden sei ein Usurpator.

Bei Trumps Abwahl konnte man glauben, die amerikanische Politik kehre zu einer gewissen Normalität zurück. Statt­dessen verschärft sich die Eskalation. Momentan hat der Ex-Präsident zwar keinen Zugang zu den launch codes der amerikanischen Atom­waffen und keine Entscheidungs­macht über die US-Aussen­politik (die amerikanische Haltung gegenüber dem Russland-Ukraine-Krieg würde sonst wohl anders aussehen).

Aber in gewisser Weise hat die beunruhigendste Phase der Trump-Ära erst mit dem 6. Januar 2021 und nach dem Auszug aus dem Weissen Haus begonnen. Und eine Rückkehr als nächster Präsident erscheint heute plausibler denn je.

Ein zweiter Grund ist der anhaltende Gehorsam, mit dem die republikanische Partei­elite sich Trump weiterhin unterwirft. Eines der ätzendsten Bücher, die dieses Jahr erschienen sind, heisst «Thank You for Your Servitude» und wurde vom amerikanischen Politik­journalisten Mark Leibovich verfasst. Es enthält keine neuen Enthüllungen, sondern entwirft das aktuelle Washingtoner Sitten­bild – eine Art comédie humaine auf Crack.

Erzählt wird die Trump-Präsident­schaft, nicht mit dem Fokus auf den Haupt­akteur, sondern mit dem Blick auf seine willigen Voll­strecker. Noch einmal wird aufgearbeitet, was die Führungs­elite der Republikaner ursprünglich von Trump so gehalten hat – bis sie begriff, dass er die Nominierung gewinnen wird und dass es für die persönliche Karriere viel, viel vorteilhafter ist, die Nase zuzuhalten und sich ihm anzudienen.

In unserer Vorstellung setzen sich autoritäre Führer­figuren durch mit einem grossen Knall, mit Strassen­schlachten, Gewalt und Terror, wie etwa zu Zeiten des historischen Faschismus. Der sogenannte Post­faschismus jedoch scheint auszukommen mit der blossen Rückgrat­losigkeit und Mediokrität, dem Zynismus der vermeintlichen politischen Elite. Und inzwischen – auch daran lässt Leibovich keinen Zweifel – ist das sehr reale Gewalt­potenzial der Trump-Bewegungen und ihrer schwer bewaffneten Milizen tatsächlich zu einem entscheidenden Einschüchterungs- und Macht­faktor geworden. Wer sich dem Maga-Führer entgegen­stellt, der Anschlag auf den Gatten von Nancy Pelosi hat es gerade wieder gezeigt, bringt sich und seine Familie in ernste Gefahr.

Wo die USA inzwischen stehen, wird in besonders grelles Licht getaucht, wenn man zurück­blendet in die Zeit, als die Republikanische Partei noch nicht die persönliche Kampf­truppe des Ex-Präsidenten war.

Marco Rubio nannte Trump damals bekanntlich einen «Betrüger» und mokierte sich über seine «kleinen Hände». Heute jedoch verteidigt er ihn mit Händen und Füssen gegen die Parlaments­kommission, die den Kapitol-Sturm untersucht. Nikki Haley sagte 2016: «Donald Trump ist all das, was wir unseren Kindern beibringen, im Kindergarten nicht zu tun.» Danach jedoch liess sie sich von Trump zur Uno-Botschafterin der USA machen. Senator Lindsey Graham schrieb 2016: «Wenn wir Trump zum Kandidaten machen, werden wir zerstört werden … und verdienen es auch nicht besser.» Statt­dessen wurde Graham zu einem von Trumps loyalsten Gehilfen, ein aktiver Unterstützer der Wahlbetrugs­theorie.

Eine ganze Generation von republikanischen Politikerinnen kennt keinerlei Skrupel mehr, die Grund­lagen der amerikanischen Demokratie zu beschädigen – solange es ihrer Karriere zugute­kommt. Kann ein liberaler Verfassungs­staat mit solchem Polit­personal auf Dauer überhaupt überleben? Das Experiment ist offen.

Immer wieder keimte im Lauf der letzten sechs Jahre zwar die Hoffnung auf, irgendwann sei das Mass voll. Irgendwann sei Trumps Korruptheit zu gross und werde die Partei sich von ihm distanzieren. Doch Trump hat bis heute weitgehende Kontrolle über die Basis, ist bis heute imstande, die Karriere von Republikanerinnen, die sich gegen ihn auflehnen, sehr unsanft zu beenden. Der Fall von Liz Cheney belegt es eindrücklich: Republikanische Politiker, die offen Widerstand leisten, sind eine verschwindend kleine und sehr bedrohte Minderheit.

Drittens nehmen die Vorbereitungen zur systematischen Sabotage der nächsten Präsidentschafts­wahlen bereits konkrete Züge an. Joe Biden hat vollkommen berechtigt in seiner Rede vom letzten Mittwoch über die mid­terms gesagt: «Es geht hier um die Demokratie als solche … wir müssen uns an der Urne für oder gegen die Demokratie entscheiden.»

Am meisten ins Gewicht fällt dabei das Aufrecht­erhalten und propagandistische Bewirtschaften der Wahlbetrugs­lüge. Sie legt den Boden für die in Umfragen immer spürbarere Skepsis gegenüber den Institutionen und der Fairness von Wahlen. Sie treibt die Polarisierung auf die Spitze. Wer glaubt, dass Biden ein Usurpator ist, dass die USA nur eine Schein­demokratie sind und dass Wahlen in einem abgekarteten und korrupten Spiel manipuliert werden, der wird verständlicher­weise auch keine Skrupel haben, den «wahren Wahl­sieger» mit Gewalt an die Macht zu tragen.

Hinzu kommt, dass nun eine grosse Zahl von Republikanerinnen für Gouverneurs­posten oder Abgeordneten­mandate kandidieren, die sich offen zu ihrem Willen bekennen, bei den Präsidentschafts­wahlen in zwei Jahren nur Trump als Sieger zu akzeptieren – und im Fall einer Niederlage das Ergebnis nicht anzuerkennen oder ganz einfach den republikanischen Kandidaten zum Sieger zu erklären.

Steve Bannon hat dieses Vorgehen ganz explizit zur Strategie der Macht­rück­eroberung erklärt: Es geht darum, die Wahl­infrastruktur des amerikanischen Staates zu übernehmen und innerhalb des Systems die Schlüssel­stellen zu besetzen. Dann ist es jederzeit möglich, Resultate als ungültig zu deklarieren – und stattdessen das «richtige» Ergebnis zum Wahl­ausgang zu erklären.

Man könnte es auch so sagen: Es wird ganz konkret, ganz offiziell und in allen Details über einen kalten Staats­streich nachgedacht. Man mag sich damit trösten, dass diese Pläne nicht funktionieren würden, dass solche Manöver von der amerikanischen Bevölkerung letztlich nicht akzeptiert würden. Ob dem wirklich so ist?

Der Wahl­ausgang der mid­terms jedenfalls ist offen. Höchst­wahrscheinlich werden die Demokraten die Mehrheit im Repräsentanten­haus verlieren, ob sie ihre hauch­dünne Mehrheit im Senat halten können, ist ungewiss – und scheint zunehmend unwahrscheinlich. Dass die amtierende Regierung in der aktuellen wirtschaftlichen Krisen­situation abgestraft wird, wäre eigentlich nur business as usual. Dennoch verläuft der Wahl­kampf dieses Mal sehr ungewöhnlich.

Die Demokraten stellen berechtigter­weise das Abtreibungs­thema ins Zentrum, die Tatsache nämlich, dass der Supreme Court kürzlich das Recht auf Abtreibung annulliert hat und dass die konservativen Kräfte nun ein generelles Verbot oder jedenfalls eine weitgehende Einschränkung des Abtreibungs­rechts vorantreiben (Republik-Autorin Solmaz Khorsand wird am Montag darüber berichten, was das Supreme-Court-Urteil für Amerikanerinnen konkret bedeutet und wie sie sich zur Wehr setzen).

Die Republikaner hingegen machen die bedrohliche Wirtschafts­lage zum Haupt­thema, insbesondere die rekordhohe Inflation.

Es ist nicht so, dass die Republikaner den Amerikanerinnen am unteren Ende der Einkommens­verteilung, die durch die explodierenden Lebens­kosten nun in eine schwere Notlage geraten, irgend­etwas zu bieten hätten, das ihre ökonomischen Aussichten verbessert. Dennoch appellieren sie an die wirtschaftlichen Interessen der kleinen Leute, während die Demokraten mit den gesellschafts­politischen Kulturkampf­themen ins Feld ziehen. Es ist eine völlige Umkehrung der klassischen Positionierungs­strategien. Ein neuer Höhe­punkt der Konfusion.

Entscheidend bleibt aber ohnehin etwas anderes: Können in zwei Jahren in den Vereinigten Staaten noch reguläre Präsidentschafts­wahlen durchgeführt werden? Wird Donald Trump, sollte er antreten und verlieren, das Resultat anerkennen? Wird er, sollte er gewählt werden, den Versuch machen, das amerikanische Wahl­system definitiv zu sabotieren und die Demokratische Partei zu entmachten? Das sind die Fragen, die über den weiteren Lauf der Geschichte entscheiden werden – in den USA und rund um den Globus.

Die Antworten sind nicht mehr selbst­verständlich. Und sie könnten übel sein.

Illustration: Alex Solman

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