Wann gilt ein Unternehmen als klimaschädlich, wann als «grün»? Edward Burtynsky/Courtesy Nicholas Metivier Gallery, Toronto

Plötzlich grün

Wer sein Geld grün und nachhaltig investieren will, dem bietet die Finanzbranche massgeschneiderte Produkte an. Doch neuerdings werden auch Konzerne als grün definiert, die bisher als Dreck­schleudern galten. Was läuft da falsch?

Von Beat Schmid, 03.11.2022

Vorgelesen von Egon Fässler
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An Möglichkeiten fehlt es nicht. Die Finanz­branche hat auf den wachsenden Wunsch vieler Menschen nach grünen Investitionen reagiert. Unzählige klima­freundliche Anlage­produkte sollen die Ersparnisse in Aktien von Unter­nehmen lenken, die die Umwelt nicht verschmutzen.

Aber wie finden Privat­anlegerinnen die richtigen Firmen? Und wie können sie sicher sein, dass deren grüne Versprechen stimmen? Eine Herkules­aufgabe selbst für professionelle Investorinnen. Privat­kunden bleibt, den Labels der Anbieter zu vertrauen, die klima­freundliche Geld­anlagen kennzeichnen.

Von einer «Weltneuheit» sprach Reto Ringger, Gründer und Chef der Zürcher Privatbank Globalance, als er im November 2020 seine Vision eines Google Earth für die Finanzwelt vorstellte. Globalance World nannte er das Projekt, das Transparenz schaffen soll «hinsichtlich der klimatischen und ökologischen Auswirkungen von Finanz­anlagen», wie der «Tages-Anzeiger» damals notierte.

In der Datenbank von Globalance World sind Klimadaten von weltweit rund 6000 Firmen gespeichert. Über eine digitale Weltkarte, die an Google Earth erinnert, können Investorinnen auf Erkundungs­reise gehen und nach Firmen suchen, die eine vorteilhafte Klima­bilanz ausweisen und damit in ein nachhaltig ausgerichtetes Aktien­portfolio passen.

So erfährt man beispielsweise, dass Petrobras, der Mineralöl­konzern aus Brasilien, weit ausserhalb der 2015 in Paris vereinbarten Klimaziele liegt. Diese sehen vor, dass die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf deutlich unter 2 Grad Celsius zu begrenzen ist.

Auch die Ems-Chemie im Bündner Rheintal lässt sich mit dem Klima-Google-Earth ansteuern. Beim Start von Globalance World vor zwei Jahren kam der Spezialchemie­konzern auf ein Erwärmungs­potenzial von 8,3 Grad und lag damit weit ausserhalb der Pariser Ziele. Auch im Vergleich zu anderen Schweizer Firmen schnitt das Unternehmen schlecht ab. Zum Beispiel gegenüber V-Zug, das auf ein Erwärmungs­potenzial von 1,3 Grad Celsius kam. Oder gegenüber der Swisscom mit 1,6 Grad.

Plötzlich sauber

Durchgefallen war auch Nestlé mit einem Wert von 5,5 Grad. Der Lebensmittel­konzern reagierte damals auf seinen schlechten Wert mit einer Stellung­nahme. Er verwies darin auf die eigene Verpflichtung, «bis spätestens 2050 Netto-null-Emissionen in der gesamten Wertschöpfungs­kette zu erzielen». Diese eigenen Ziele würden sich nicht in dem von Globalance World entwickelten Bewertungs­instrument widerspiegeln, schrieb Nestlé weiter. Jenes erlaube «keine gänzlich genaue Darstellung der Klima­auswirkungen, die mit unserer Geschäfts­tätigkeit in Verbindung gebracht werden».

Der Vorbehalt des Weltkonzerns vom Genfersee konnte die Begeisterung der Finanzwelt über die neue Weltkarte der Nachhaltigkeit nicht trüben. Inzwischen ist Globalance World auf Expansionskurs.

Dass es durchaus hilfreich sein kann, auf diese Weise Firmen nach ihrer Umwelt­verträglichkeit zu durchleuchten, zeigte vor einem Jahr auch ein Daten­briefing der Republik. Basierend auf den Daten von Globalance ist darin der ökologische Fussabdruck der Unternehmen grafisch dargestellt. Dabei wurde unter anderem deutlich, weshalb ein Unternehmen wie Ems-Chemie am Schluss des Rankings lag: Erstens benötigen deren Produkte viel fossile Energie. Und zweitens kann man davon ausgehen, dass dies in Zukunft nicht merklich anders sein wird. Fazit damals: «Ihr Geschäft ist kaum mit den globalen Klima­zielen vereinbar.»

Das war vor einem Jahr. Und heute?

Wer sich bei Globalance World einloggt, stellt fest: Fast alle Firmenwerte haben sich in der Zwischen­zeit zum Besseren verändert. Bei den Unternehmen im Swiss Performance Index (SPI), der praktisch alle börsen­kotierten Schweizer Firmen aufführt, ist kein Stein auf dem anderen geblieben.

Nestlé, zuvor noch weit ausserhalb des 2-Grad-Ziels, steht plötzlich sensationell gut da. Der Konzern verbesserte sich von 5,2 Grad auf 1,7 Grad und liegt damit nun innerhalb des Pariser Zielbandes.

Ems-Chemie zählt laut Globalance World plötzlich nicht mehr zu den umwelt­schädlichsten Unternehmen im SPI, sondern liegt mit einem Erwärmungs­potenzial von neu 3,4 Grad im hinteren Mittelfeld.

Auch andere Schweizer Unternehmen kommen neu auf eine wesentlich bessere Klimabilanz. Der Luxusgüter­riese Richemont, dem Marken wie Cartier, IWC oder Montblanc gehören, verbesserte sich auf 2,6 Grad, von 4,4 Grad vor einem Jahr. Das Erwärmungs­potenzial von Lonza wird neu mit 2,9 Grad angegeben. Vor einem Jahr gehörte der Pharma­zulieferer mit einem Wert von 5,9 Grad zu den grössten Klima­sündern im SPI. Einige Unternehmen schafften es, wie Nestlé, in die 2-Grad-Zone vorzurücken: Dazu gehören die Pharma­riesen Roche (1,7 Grad) und Novartis (1,6 Grad).

Plötzlich grün

Veränderung Erwärmungspotenzial zwischen 2021 und 2022 in Grad Celsius

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Nestlé0 2 5 10 Richemont0 2 5 10 Roche0 2 5 10 Novartis0 2 5 10 Ems-Chemie0 2 5 10 Lonza0 2 5 10 V-Zug0 2 5 10 Swisscom0 2 5 10

Quellen: Globalance, MSCI, Republik.

Nicht nur einzelne Firmen haben sich gemäss Globalance deutlich verbessert. Vor einem Jahr wies der SPI ein Klima­erwärmungs­potenzial von 3,8 Grad auf, der deutsche DAX-Index lag bei 4,3 Grad und der US-Aktienindex S&P 500 bei 3,3 Grad. Die Leitindizes haben sich merklich abgekühlt: Der DAX kommt neu auf 2,5 Grad, der S&P 500 auf 2,9 Grad Celsius. Der SPI ist mit einem Erwärmungs­potenzial von 2 Grad sogar Paris-aligniert.

Saubere Börsenindizes

Veränderung Erwärmungspotenzial zwischen 2021 und 2022 in Grad Celsius

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SPI0 2 5 DAX0 2 5 S&P0 2 5

Quelle: Globalance, MSCI, Republik.

Sind die Firmen in den letzten 12 Monaten weltweit plötzlich «grüner» geworden? Schonen sie jetzt das Klima besser?

Bei einigen Firmen mag das der Fall sein, weil sie beispielsweise umwelt­schädliche Produktions­methoden aufgegeben oder «schmutzige» Tochter­firmen verkauft haben. Doch wie schaffte es Nestlé, auf ein Erwärmungs­potenzial von nur 1,6 Grad zu kommen, wenn es im Jahr 2018 noch 92 Millionen Tonnen Treibhausgase ausstiess? Inklusive der indirekten Emissionen waren es gar 113 Millionen Tonnen, womit der Westschweizer Gross­konzern mehr als doppelt so viel Kohlen­dioxid ausstösst wie die gesamte Schweiz.

Nein, die Unternehmen sind nicht einfach innert Monaten so viel sauberer geworden.

Um sie auf einen Schlag grüner zu machen, reichte eine kleine Anpassung der Methode, die hinter den Klimadaten von Globalance World steht. Diese Methode wurde in der Schweiz entwickelt. Um sie zu verstehen, müssen wir sieben Jahre zurück­blenden zu den eigentlichen Wurzeln, der Pariser Klima­konferenz.

Lukrative Klimadaten

Im April 2016, wenige Monate nach dem Klimagipfel, unterzeichneten 175 Staaten das Abkommen mit dem Ziel, die Netto­treibhausgas­emissionen zwischen 2045 und 2060 auf null zurück­zufahren. Damit begann auch für die Finanz­industrie eine neue Zeitrechnung. Denn Unter­nehmen und Regierungen begriffen von nun an die Erderwärmung als systemisches Risiko für den Finanzsektor.

Noch im selben Jahr gründete der Computer­wissenschaftler Oliver Marchand mit Partnern in Zürich die Firma Carbon Delta. Das Spezial­gebiet des ETH-Spin-off: die Erhebung und Modellierung von Klima­daten, mit denen sich die Auswirkungen des Klima­wandels auf Investment­portfolios messen lassen. Die sogenannte climate analytics bildete ein neues, lukratives Geschäfts­feld. Die Firma wuchs schnell, und schon bald wurden globale Player auf das Zürcher Start-up aufmerksam.

Im Herbst 2019 schlug ein Gigant aus den USA zu: Der Finanzdienst­leister MSCI kaufte Carbon Delta für eine unbekannte Summe. MSCI sammelt Unternehmens­daten und verarbeitet daraus Börsen­informationen für Investorinnen. Sein bekanntestes Produkt ist der Börsen­index MSCI World, einer der wichtigsten Aktienindizes der Welt. Er bildet die Kurse von 1500 Aktien aus 23 Ländern ab. MSCI, gegründet 1969 in New York, ist heute ein mächtiger Player an der Wallstreet.

In der Medienmitteilung zur Übernahme von Carbon Delta machte Konzern­leitungs­mitglied Remy Briand deutlich, welches Potenzial MSCI im Zürcher Start-up sieht: «Wir glauben, dass der Klima­wandel langfristig zu einem der wichtigsten Investitions­faktoren werden wird.» Anleger sollten die Möglichkeit haben, ihre Portfolios entsprechend auszurichten.

Carbon-Delta-Mitgründer Oliver Marchand blieb nach dem Verkauf in den Diensten von MSCI und übernahm eine globale Führungs­rolle im Bereich Nachhaltigkeits­forschung und Daten­modellierung. Die Zürcher Nieder­lassung fungiert innerhalb von MSCI als «Anlauf­punkt für die Entwicklung von Analysen und Instrumenten zum Klimawandel­risiko».

Die wichtigsten Klimadaten, die die Bank Globalance für ihr Google Earth für die Finanzwelt verwendet, stammen von MSCI. Auch grosse Finanz­akteure wie AXA, UBS und Blackrock verwenden sie.

Ich will es genauer wissen: Mit welchen Klima­daten arbeitet die Finanz­branche?

Carbon Footprint: Hier geht es darum, den Ausstoss von Klimagasen möglichst exakt zu messen. Die Internationale Organisation für Normung (ISO) hat dazu bereits einen Werkzeug­kasten definiert, um Treibhausgas­emissionen zu quantifizieren, zu überwachen, zu berichten und zu validieren. Eine wichtige Rolle zur Messung des Istzustands wird auch dem GHG Protocol (Greenhouse Gas Protocol) beigemessen. Die Entwicklung des GHG Protocol wird koordiniert vom Thinktank World Resources Institute und vom World Business Council for Sustainable Development, einer von Unternehmens­leitungen geführten Organisation. Es setzt unter anderem auf sogenannte Scopes (Bereiche).

Scopes: Sie sind wichtig bei der Messung und Darstellung des ökologischen Fussabdrucks eines Unter­nehmens. Es handelt sich um Bereiche, in die der Ausstoss von Treibhaus­gasen eines Unter­nehmens aufgeteilt wird. Auf Ebene 1 werden Emissionen erhoben, die direkt vom Unternehmen in der Produktion oder durchs Heizen ausgestossen werden. In Scope 2 werden indirekte Emissionen zusammen­gefasst, die durch den Kauf von Energie entstehen, etwa Strom. Scope 3 schliesslich umfasst vor- und nachgelagerte Emissionen. Darunter fällt der CO₂-Fussabdruck von Produkten oder Dienst­leistungen, die ein Unternehmen irgendwo auf der Welt einkauft.

Erwärmungspotenzial: Während die Summe der Scopes den effektiven CO₂-Fussabdruck eines Unternehmens in einem Geschäftsjahr ergibt, versucht das Konzept des Erwärmungs­potenzials nach vorne zu blicken. Bei der Berechnung fliessen sowohl die aktuellen Emissionen als auch die Reduktions­ziele eines Unternehmens ein. Bei der Methode, die vor zwei Jahren bei der Einführung von Globalance World verwendet wurde, schaute man bis ins Jahr 2030. Mit eingerechnet wurde zudem eine Komponente, die als Kühlungs­potenzial bezeichnet wird.

Das grundsätzliche Problem mit diesen Klimadaten: Sie lassen sich auf kreative Art verarbeiten und interpretieren. Je nach Ansatz, Klima­sünderinnen zu identifizieren, spuckten die Modelle völlig unterschiedliche Resultate aus. Die US-Investment­bank Goldman Sachs entwickelte eine Methode, die dafür sorgte, dass ganze zwei Drittel der im MSCI-World-Index geführten Aktien ein Erwärmungs­potenzial von lediglich 1,5 Grad hatten.

Alte Hasen ziehen die Fäden

Unternehmen wie Investorinnen war bald klar, dass so kein glaubwürdiges System entstehen würde. Der Markt brauchte einheitliche Definitionen. Das rief zwei einflussreiche Männer in der globalen Finanz­wirtschaft auf den Plan:

  • Michael Bloomberg, Gründer der gleichnamigen Nachrichten­agentur und ehemaliger Bürger­meister von New York;

  • Mark Carney, ehemaliger Notenbank­chef von Kanada und später von Grossbritannien sowie Uno-Sonder­beauftragter für Climate Action und Finance.

Bloomberg und Carney führen heute zwei Gremien, die für die Definition von grünen Anlagen eine Schlüssel­rolle spielen.

In dieser chilenischen Mine wird Lithium gewonnen, ein wichtiger Rohstoff für Batterien. Passt das in ein nachhaltiges Aktien­portfolio? Edward Burtynsky/Courtesy Nicholas Metivier Gallery, Toronto

Das wichtigste Gremium, das bestimmt, wie die Klima­veränderung in der Finanz­industrie dargestellt werden darf, ist eine Experten­gruppe mit dem Kürzel TCFD. Sie wurde kurz nach dem Pariser Gipfel ins Leben gerufen. Im Board, das von Michael Bloomberg präsidiert wird, sitzen wichtige Vertreter von Notenbanken und von G-20-Staaten. Angeschlossen sind vor allem Unternehmen der Finanz­branche – von Versicherungen über Banken bis zu institutionellen Investorinnen und Daten­anbietern. Darunter auch: MSCI.

Die TCFD arbeitet eng mit einer Allianz von Banken, Versicherungen, Pensions­kassen, Daten­anbietern und Beratungs­unternehmen zusammen, die sich Glasgow Financial Alliance for Net Zero, kurz GFANZ, nennt. Sie vertritt Vermögens­werte in der Höhe von 130 Billionen Dollar.

Den GFANZ-Vorsitz teilen sich Bloomberg und Mark Carney. Carney gründete die Allianz im Vorfeld der Klima­konferenz von 2021 in Schottland. Nach dem Paris-Gipfel hatte er sich Gedanken darüber gemacht, wie man die unterschiedlichen Ansätze zur Berechnung der Klima­schädlichkeit vereinheitlichen könnte. Ein Team definierte daraufhin im Rahmen der Allianz Minimal­kriterien und gab schliesslich 23 Empfehlungen heraus.

Die Methode, die vor rund einem Jahr verabschiedet wurde und seither allmählich in die Praxis einfliesst, erhielt die Bezeichnung Implied Temperature Rise (ITR), übersetzt: angenommener Temperatur­anstieg.

Als Gründungsmitglied der GFANZ übernahm auch MSCI die Temperatur­anstiegs­methode. Und überarbeitete damit ihr altes Modell, das bei Globalance World zu Beginn im Einsatz war. Ein wichtiger Unterschied war, dass die alte Methode die bis 2030 erwartbaren Emissionen als Haupt­gradmesser betrachtete. Die von Mark Carney und der GFANZ empfohlene Wärme­potenzial­methode hingegen berücksichtigt die Entwicklung bis ins Jahr 2070.

Vor allem die Banken profitieren

Die Frage ist: Welche Interessen stehen hinter diesem Wandel? Haben mächtige Finanz­akteure Druck ausgeübt? Solche, die ein Interesse daran haben, dass möglichst viele Aktien innerhalb der Pariser Klima­vorgaben liegen?

Die Republik hat mit mehreren Branchen­vertretern gesprochen. Einer, der nicht mit Namen genannt werden will, sagt: «Ja klar, in den Gremien versucht jeder, die Entwicklung in seinem Sinn zu beeinflussen.»

Wenn es mehr Aktien mit einem Wärme­potenzial von maximal 2 Grad gibt, bietet dies ganz konkrete Vorteile. Finanz­unternehmen können breiter diversifizierte Finanz­produkte bauen, das heisst, sie können für klima­freundliche Finanz­produkte aus einer grösseren Zahl von Firmen auswählen.

Es gibt ihnen auch die Möglichkeit, sogenannte Transitions­fonds zu bauen. Also Produkte mit Unter­nehmen aus CO-intensiven Sektoren zu konstruieren, die aktuell sehr hohe Emissionen ausstossen, aber versprochen haben, diese in den nächsten Jahren zu senken.

Auf dem Markt gibt es inzwischen eine kaum zu überblickende Vielfalt von Finanz­produkten, die mit einem solchen Label versehen sind. Der Vorteil ist auch, dass für «grüne» Produkte aus Vermarktungs­gründen höhere Gebühren verlangt werden können.

Bemerkenswert ist, dass die Modell­umstellungen im Stillen erfolgten. Niemand ist hingestanden und hat gesagt, dass jetzt anders gerechnet werde und man auf Grundlage der neuen Kalkulationen ohne schlechtes Gewissen Nestlé-Aktien kaufen könne.

Gerade für Kleinanleger sind plötzliche Veränderungen wie bei Ems-Chemie oder Nestlé nicht nachvollziehbar. Wer eine eindeutige Zahl kommuniziere wie beim Erwärmungs­potenzial, müsse davon ausgehen, dass private Anlegerinnen diese für bare Münze nehmen, sagt eine Kaderfrau eines kleinen Schweizer Vermögens­verwalters. Sehe diese Zahl plötzlich ganz anders aus, gehe Vertrauen verloren.

Das sieht auch Oliver Marchand ein, der nun als Angestellter von MSCI die Änderungen an der Berechnungs­methode erklären muss: «Ich kann verstehen, wenn man sich fragt, was der Wert einer Metrik ist, die nach zwei Jahren neue Zahlen zeigt», sagt er zur Republik. Er glaube aber, dass die Erwärmungs­potenzial­daten von verschiedenen Anbietern sich künftig immer stärker angleichen würden. Das sehe er in der Zusammen­arbeit mit verschiedensten Interessen­gruppen: «Gemeinsam achten wir darauf, dass die Grundlagen robuster werden, als sie es in den letzten vier Jahren waren.»

Sie haben schlicht keine andere Wahl: Verlieren die Erwärmungs­potenzial­daten bei den Anlegern ihre Glaubwürdigkeit, werden Finanz­produkte mit Ökolabel zu Ladenhütern.

Es bleibt ungenau

Die nächste Anpassung der Berechnungs­methode steht schon vor der Tür: «Die Folgen sind, dass der MSCI World tendenziell eher wieder wärmer wird», sagt Marchand. Der Grund: Die aktuelle Methode übernimmt die Klimaziele der Unternehmen eins zu eins. Wenn eine Firma künftig behauptet, sie werde das Netto-null-Ziel bis 2050 erreichen, dann wird diese Projektion nicht mehr ungeprüft übernommen.

Nur: Wie lassen sich die Klimaziele von Unternehmen überprüfen?

Laut Marchand empfiehlt GFANZ, eine Art Kontroll­system zu entwickeln, das die von den Unternehmen gesteckten Ziele mit den bisher erreichten Reduktionen abgleicht und die kommunizierten Ziele somit bewertet. Wenn eine Firma nicht zeigen könne, dass sie ihre zuvor gesetzten Ziele erreicht habe, so Marchand, werde das Erwärmungs­potenzial entsprechend angepasst.

Aber wie seriös ist das? Wie lässt sich heute mit Sicherheit sagen, dass ein Unternehmen in 30 Jahren kein CO mehr ausstossen wird?

Dafür haben verschiedene Organisationen, darunter der WWF, die Science Based Targets Initiative (SBTi) ins Leben gerufen. Bis jetzt haben sich 1200 Unternehmen dazu verpflichtet, ihre Emissionen auf Basis der SBTi-Empfehlungen zu reduzieren. Aber auch hier bleiben zahlreiche Unsicherheiten: Das Management kann wechseln, die wirtschaftliche Situation kann sich plötzlich ändern. Zudem sind auch die Modelle bei weitem noch nicht ausgereift.

Deshalb ist man auch beim WWF noch zurück­haltend beim Thema Erwärmungs­potenzial. Stephan Kellen­berger, Experte für nachhaltige Finanz­wirtschaft beim WWF Schweiz, sagt: Seine Organisation habe noch keine definitive Position zu den Indikatoren beim Erwärmungs­potenzial, die «recht technisch und komplex» seien. Die verschiedenen Methoden­anbieter, darunter MSCI, kämen mit ihren Tools auf zum Teil recht unterschiedliche Ergebnisse. Das spreche zwar nicht gegen deren Einsatz, doch es werde bei der Interpretation doch eine gesunde Portion Vorsicht und Menschen­verstand erfordert, sagt Kellenberger.

Das Thema hat inzwischen auch die Schweizer Politik erreicht. Der Bundesrat hat im Sommer mit den Swiss Climate Scores ein eigenes Gütesiegel für nachhaltiges Investieren lanciert, das er allen Schweizer Finanzmarkt­akteuren zur Anwendung empfiehlt. Die Schweiz ist das erste Land, das ein solches Label herausgibt.

Wenn ein Finanz­unternehmen ein Anlage­produkt oder ein Kunden­portfolio mit dem staatlichen Label versehen will, muss eine Reihe von Kriterien erfüllt sein. Firmen müssen Auskunft geben über den Istzustand der Emissionen und wie sie die Transition Richtung netto null erreichen wollen.

Ein Faktor scheint bei den Indikatoren für das Swiss-Climate-Scores-Label zu fehlen: das Erwärmungs­potenzial. Warum?

Die Antwort des feder­führenden Staats­sekretariats für internationale Finanz­fragen: «Der Indikator ‹Globales Erwärmungs­potenzial› ist im Markt am neusten und daher noch mit den grössten Methoden­unsicherheiten verbunden.» So steht es in einem Papier mit den wichtigsten Fragen und Antworten zu den Swiss Climate Scores. Die Behörde spricht darin von einer «hohen Schätzungs­unsicherheit».

Für Anleger bedeutet das: Sie müssen sich im Klaren darüber sein, dass Hunderte erfahrene Experten aus der Finanz­industrie gemeinsam mit Klima­wissenschaftlerinnen versucht haben, zu berechnen, wie stark Unternehmen mit ihrem Verhalten das Klima erwärmen – mit dem Resultat: «hohe Schätzungs­unsicherheit».

Ein Vertreter der Globalance Bank sagt zur Republik, man wolle künftig klarer darauf hinweisen, dass die Temperatur­angaben nicht in Stein gemeisselt sind. Man kann das auch so formulieren: Grüne Investments sind Glückssache.

Zum Autor

Beat Schmid ist Finanz­journalist und Gründer des Wirtschafts-Onlinemediums «Tippinpoint». Er war während 17 Jahren bei Tamedia, Ringier und CH Media angestellt, wo er sich hauptsächlich mit dem Schweizer Finanz­platz beschäftigte.

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