Strassberg

Der Quellcode des Autoritären

Wie funktioniert Faschismus? Die Frage muss uns leider wieder beschäftigen. Und wird mit erstaunlichem Eifer verdrängt.

Von Daniel Strassberg, 01.11.2022

Vorgelesen von Dominique Barth
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Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst eines neuen Faschismus. Doch niemand im alten Europa hat sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet, weder der Papst noch die EU, Macron oder Scholz, französische Radikale oder deutsche Sozial­demokraten.

Sie haben es erkannt: Das «Gespenst» ist eine Paraphrase des Anfangs des Kommunistischen Manifests von Karl Marx und Friedrich Engels, erschienen 1848 in London. Marx und Engels wollten der Bourgeoisie Angst einjagen und der Arbeiter­klasse Mut machen, die grausamen Verhältnisse zu verändern, in denen sie lebte. Doch die Vorzeichen haben sich verkehrt: Vor dem neuen Gespenst scheint sich niemand mehr zu fürchten, die Arbeiter­klasse läuft sogar reihenweise zu ihm über. Der Krieg in der Ukraine und die Klima­katastrophe schöpfen das Angst­reservoir offenbar ab.

Die Tatsache, dass in Italien und damit in einem westeuropäischen Land, das zu den Erst­unterzeichnern der Römischen Verträge gehört, eine Partei an die Macht gekommen ist, die sich offen zum Faschismus bekennt, lockt kaum jemanden hinter dem Ofen hervor. Und dass der Senats­präsident Ignazio La Russa, der zweite Mann im Staat – dessen Kinder übrigens mit zweiten Vornamen Geronimo und Apache heissen –, eine Mussolini-Statue in seiner Wohnung aufstellt, im Parlament den Hitlergruss zeigt und einen Schwarzen in seinem Garten erschiessen würde – er benützte das N-Wort –, wird entweder nicht zur Kenntnis genommen oder der Operetten­haftigkeit der italienischen Politik zugerechnet. Die Vorsilben «Post-» oder «Neo-» helfen vielleicht, die Wieder­kehr des Faschismus zu verleugnen, ändern tun sie nichts.

Nicht dass über dieses Phänomen nicht nachgedacht würde, im Gegenteil, es werden gerade unzählige Bücher und Artikel darüber publiziert, mit durchaus interessanten Ansätzen. Aber die Angst scheint im Gegensatz zum Krieg und zum Klima noch nicht recht im kollektiven Bewusstsein angekommen zu sein.

Am 8. Oktober analysierte Daniel Binswanger in seiner Kolumne diese mehr als bedrohliche Entwicklung mithilfe des Buches «Gekränkte Freiheit» von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey aus soziologischer Sicht: «Der starke Individualismus, die flächen­deckende Valorisierung von Eigen­verantwortung und die damit einher­gehende Entwertung von öffentlicher Regulierung und staatlicher Intervention haben die Sehnsucht nach starken Autoritäten neu angestachelt und transformiert.»

Eine ähnliche These vertrat bereits Erich Fromm in seinem Buch «Die Furcht vor der Freiheit» (1941). Sie wurde später von Theodor W. Adorno und anderen in der Studie «The Authoritarian Personality» (1950) empirisch untermauert: Der Kapitalismus, so der Kern dieser These, bringe in seiner Endphase einen Persönlichkeits­typus hervor, der zu autoritären Strukturen neigt. Tatsächlich sind die meisten Faschismus­theorien der letzten hundert Jahre eine Mischung von Marxismus und Psychoanalyse – in unterschiedlichen Mischungs­verhältnissen. Der Faschismus wird im Allgemeinen als ein mehr oder weniger notwendiger Auswuchs des Kapitalismus gedeutet, der nicht nur die ökonomisch-politischen Verhältnisse, sondern auch die Psyche der Menschen regiert. Nicht dass diese Thesen falsch wären, im Gegenteil, aber mir scheint, sie zeigen lediglich die Voraussetzungen auf, unter denen der Faschismus sich immer wieder durchsetzen kann, nicht aber, mithilfe welcher Mechanismen er dies schafft.

Mit dem Versuch, Faschismus zu definieren, wollen wir uns gar nicht erst aufhalten, er würde unweigerlich scheitern. Weder gibt es eine einheitliche faschistische Ideologie, noch eine historische Situation, in der er zwangsläufig auftaucht. Nicht umsonst macht eine der bis heute überzeugendsten Faschismus­theorien, Umberto Ecos «Urfaschismus», die «Verschwommenheit» seiner Ideologie zum Ausgangs­punkt der Analyse. Für den Moment will ich deshalb nur eine Einschränkung geltend machen: Faschismus soll nicht als Schimpfwort missbraucht werden, mit dem politische Gegner verunglimpft werden. So widerlich Liz Truss sich verhielt, eine Faschistin war sie im Gegensatz zu Giorgia Meloni nie. Vielleicht kostete sie genau dies das Amt.

Die Frage, der wir uns also stellen sollten, ist: Gibt es hinter den unter­schiedlichsten Erscheinungs­formen des Faschismus einen gemeinsamen Quell­code, der den Umschlag (relativ) liberaler politischer Systeme in autoritäre und gewalttätige beschreibt?

Meine These dazu lautet: Der Faschismus ist im Wesentlichen Gegen­revolution. Es gehört zu den diffusen Seiten des heutigen «Postfaschismus», dass er eine gegen­revolutionäre Dynamik auf der rechten Seite in Gang setzt, ohne dass es auf der linken – im Gegensatz zu den 1920er-Jahren – eine revolutionäre Dynamik gäbe.

Tatsächlich ist der Faschismus als Reaktion auf drei revolutionäre Situationen entstanden. Im November 1917 übernahm der bolschewistische, vermeintliche «Mehrheits»-Flügel der sozialistischen Partei die Macht in Russland und übergab sie den Sowjets, von Bauern, Arbeitern und Soldaten gewählten Räten. Doch kaum waren sie an der Macht, wurde die Sowjetunion während vier Jahren, bis 1922, von der sogenannten Weissen Armee, einer heterogenen Koalition von Zaristen, Konservativen und Demokraten, die unterstützt wurde von Grossbritannien, den USA und Frankreich, in einen unerbittlichen, aber kaum bekannten Bürgerkrieg verwickelt.

In Deutschland brach 1919 unter der Führung der Kommunistischen Partei der Spartakus­aufstand aus, der die Regierung in Berlin in arge Bedrängnis brachte. In München gelang es sogar, eine Räte­republik nach sowjetischem Vorbild auszurufen. Da der durch den Krieg geschwächte Staat nicht in der Lage war, den Revolutionären die Stirn zu bieten, rief er die sogenannten Freikorps zu Hilfe. Freikorps waren bewaffnete Banden, bestehend aus entlassenen Soldaten und Offizieren der unterlegenen deutschen Armee.

Italien stand im Ersten Weltkrieg zwar auf der Seite der Sieger, fühlte sich aber dennoch als Verliererin, weil die Alliierten ihr Versprechen nicht hielten, den Italienern die Kontrolle über Dalmatien, Slowenien, Albanien und Teile Griechenlands zu übertragen. Dadurch erwachte auch in Italien ein reaktiver Nationalismus, der den radikal linken Chefredaktor der wichtigsten Zeitung der Sozialistischen Partei Italiens erfasste, Benito Mussolini. Ende 1914 entlassen und aus der Partei ausgeschlossen, gründete er die Fasci italiani di combattimento, deren erklärte Gegner die Sozialistische Partei und deren Internationalismus waren.

Obwohl die Bezeichnung «Faschismus» lediglich für Italien galt, sind alle drei faschistisch zu nennende Bewegungen, die russische, die deutsche und die italienische, als Reaktion auf die Bedrohung durch eine sozialistische Revolution entstanden. Und alle drei benutzen für ihren Aufstieg die Maxime japanischer Kampfsport­arten: Benutze die Kraft des Gegners und wende sie gegen ihn! Nur ein Beispiel: Im ersten faschistischen Manifest von 1919 wurden der Achtstunden­tag, ein Mindestlohn und eine progressive Einkommens­besteuerung gefordert. Alles den Gewerkschaften abgekupfert. Damit soll keineswegs die groteske These des konservativen Historikers Ernst Nolte wiederholt werden, der schon 1963 den Faschismus als Reaktion auf den Bolschewismus deutete: Die Ermordung der Juden geschah laut Nolte aus Furcht vor den Grausamkeiten der Bolschewiken. Nolte bezog seine These also auf die Methoden des Faschismus, hier hingegen soll lediglich die Perversion sozialistischen Gedankenguts durch den Faschismus beschrieben werden.

Dies bringt uns zur Jetztzeit. Für diese Kolumne habe ich mich stundenlang Videos mit Giorgia Meloni und Alexander Dugin ausgesetzt. Dabei bestätigte sich, dass die faschistische Judotechnik von damals weiterhin ihre Anwendung findet. Dugin, ein ausgebildeter Philosoph und Soziologe, der als ideologischer Kopf hinter Putins aggressivem und expansivem Nationalismus gilt, bringt in allen Interviews im Grunde nur ein einziges Argument vor, das er gebetsmühlen­artig wiederholt. Wir haben auch euren Michel Foucault und eure Judith Butler gelesen, und wir haben ihre Lektion gelernt: Die Wahrheit ist lediglich ein gesellschaftliches Konstrukt. Ergo gibt es eure westliche Wahrheit, und es gibt unsere russische Wahrheit. Und die russische Wahrheit lautet, dass Russland wieder zu einem wichtigen «eurasischen» Machtpol in einer multipolaren Welt werden muss, damit seine spezifischen nationalen Werte verteidigt werden können. Zum Beispiel, dass Gott Menschen als Frauen oder als Männer geschaffen hat, und sonst nichts. Notfalls muss dieser Anspruch auch mit Waffen­gewalt durchgesetzt werden. Dugins einzige Kritik an Putin ist, dass er viel zu lange gezögert hat.

Spricht die Tatsache, dass sich Dugin westlicher Theorien für seine faschistische Politik bedient, dafür, dass sie falsch sind? Das wird zwar häufig gegen verschiedene Spielarten des Konstruktivismus ins Feld geführt, aber dann wären auch die sozialistischen Forderungen falsch, die sich der Faschismus zu eigen gemacht hat. Und das kann wohl nicht sein. Vielmehr geht es darum, heraus­zuarbeiten, wie genau Dugin diese Theorien pervertiert, um sie sich einverleiben zu können.

So wie Dugin die Postmoderne pervertiert, so verdreht Meloni den Sozialismus. Tatsächlich könnte man nach flüchtigem Hinhören etwa 70 Prozent ihrer Aussagen unterschreiben. Sie warnt vor der Macht der Datensammel­monster von Silicon Valley, sie wettert gegen das global agierende Finanz­kapital, das die Macht der National­staaten und ihrer Jurisdiktion aushebelt, und sie will entfremdete Arbeit bekämpfen et cetera. Alles ehrenwerte Anliegen. Doch zwischendurch lässt sie kaum auffallend Bemerkungen fallen, die in eine andere Richtung weisen. So setzt sie manchmal an die Stelle des globalen Finanz­kapitals den Eigen­namen Soros, und alle wissen, was gemeint ist: Die Juden sind schuld. Und wenn von Verarmung, entfremdeter Arbeit oder Ausbeutung die Rede ist, folgt darauf sogleich eine Tirade gegen illegale Einwanderer. Die Kritik an der Globalisierung wird immer mit dem Bedauern über den Niedergang unserer christlich-westlichen Werte verknüpft. Sie findet mit anderen Worten für alle von ihr kritisierten Punkte einen Schuldigen und insinuiert, dass alle Probleme verschwinden würden, wenn die Schuldigen eliminiert werden.

Friedrich Nietzsche hat diese Bewegung präzise beschrieben:

Diesen Sprengstoff so zu entladen, dass er nicht die Heerde und nicht den Hirten zersprengt, das ist sein (des Priesters; DS) eigentliches Kunststück, auch seine oberste Nützlichkeit; wollte man den Werth der priesterlichen Existenz in die kürzeste Formel fassen, so wäre geradewegs zu sagen: der Priester ist der Richtungs-Veränderer des Ressentiment. Jeder Leidende nämlich sucht instinktiv zu seinem Leid eine Ursache; genauer noch, einen Thäter, noch bestimmter, einen für Leid empfänglichen schuldigen Thäter, – kurz, irgend etwas Lebendiges, an dem er seine Affekte thätlich oder in effigie auf irgend einen Vorwand hin entladen kann: denn die Affekt-Entladung ist der grösste Erleichterungs- nämlich Betäubungs-Versuch des Leidenden, sein unwillkürlich begehrtes Narcoticum gegen Qual irgend welcher Art.

Hierin allein ist, meiner Vermuthung nach, die wirkliche physiologische Ursächlichkeit des Ressentiment, der Rache und ihrer Verwandten, zu finden, in einem Verlangen also nach Betäubung von Schmerz durch Affekt: – man sucht dieselbe gemeinhin, sehr irrthümlich, wie mich dünkt, in dem Defensiv-Gegenschlag, einer blossen Schutzmass­regel der Reaktion, einer «Reflex­bewegung» im Falle irgend einer plötzlichen Schädigung und Gefährdung, von der Art, wie sie ein Frosch ohne Kopf noch vollzieht, um eine ätzende Säure loszuwerden. Aber die Verschiedenheit ist fundamental: im Einen Falle will man weiteres Beschädigt­werden hindern, im anderen Falle will man einen quälenden, heimlichen, unerträglich-werdenden Schmerz durch eine heftigere Emotion irgend welcher Art betäuben und für den Augenblick wenigstens aus dem Bewusstsein schaffen, – dazu braucht man einen Affekt, einen möglichst wilden Affekt und, zu dessen Erregung, den ersten besten Vorwand. «Irgend Jemand muss schuld daran sein, dass ich mich schlecht befinde.»

Aus: Friedrich Nietzsche, «Zur Genealogie der Moral», §III.

Der weltweit gefährlichste Sprengstoff ist zweifellos die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Vor etwa vierzig Jahren gab der Neoliberalismus – aufseiten der Politik Ronald Reagan und Margaret Thatcher, aufseiten der Ökonomie Milton Friedman und die Chicago School of Economics – das Versprechen ab, durch Deregulierungen und Steuer­senkungen die Kluft zu schliessen. Wenn die Reichen noch reicher werden, fällt auch etwas für die Armen ab, war die etwas seltsame Logik dahinter. Nun, der erste Teil des Versprechens hat sich erfüllt, die Reichen wurden tatsächlich noch reicher, der zweite Teil blieb aber auf der Strecke: Die Armen wurden noch ärmer.

Die Wut über all die gebrochenen Versprechen wuchs, das Ressentiment benötigte dringend ein Narkotikum, und da war es am einfachsten, auf das altbewährte Mittel des Faschismus zurückzugreifen. Das neoliberale Versprechen stur zu wiederholen, als sei nichts geschehen, hilft nicht mehr, das musste Liz Truss schmerzlich erfahren, der einzige Weg ist, wie Nietzsche zu Recht feststellte, die Wut abzulenken.

Dazu sind fünf Schritte nötig, die aufeinander logisch folgen.

1. Die Theorien und Forderungen der Gegner werden gekapert. Die SVP steht für die Rechte der Frauen ein – gegen den Islam. Meloni für die Rechte der Arbeiter – gegen die Flüchtlinge. Dugin für die Meinungs­freiheit – gegen den Westen. Diese Taktik hat drei Vorteile. Erstens werden die Unzufriedenen abgeholt, zweitens wird der eigentliche Charakter des Faschismus maskiert und drittens wird die Linke tief verunsichert. Wenn die Rechte dieselben Grundsätze vertritt wie wir, müssen wir falschliegen, denken sie insgeheim. Die Rede vom Links­faschismus macht die Runde.

2. Die Politik wird dem Freund-Feind-Schema unterworfen. Der von vielen Linken gehätschelte, faschistische Staats­rechtler Carl Schmitt behauptete im Jahr 1932 (!), dass Politik ausschliesslich auf der Unter­scheidung von Freund und Feind beruhe:

Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. Insofern sie nicht aus anderen Kriterien ableitbar ist, entspricht sie für das Politische den relativ selbständigen Kriterien anderer Gegensätze: Gut und Böse im Moralischen; Schön und Hässlich im Ästhetischen usw. (…)

Feind ist also nicht der Konkurrent oder der Gegner im allgemeinen. Feind ist auch nicht der private Gegner, den man unter Antipathiegefühlen hasst. Feind ist nur eine wenigstens eventuell, d. h. der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht.

Aus: Carl Schmitt, «Der Begriff des Politischen».

Politik ist also nicht mehr der Versuch eine bestimmte Gesellschafts­form zu verwirklichen, sondern nur noch Kampf um des Kampfes willen. Faschistische Politik hat kein Ziel, kein Gesellschafts­modell, das es zu verwirklichen gilt, es geht um den reinen Kampf. Entsprechend zeichnet sich der Gegner nicht durch bestimmte Eigenschaften oder Absichten aus, sondern nur dadurch, dass er bekämpft werden muss. Besonders gut eignet sich der innere Feind zur Mobilisierung der Masse, weil er überall lauert und vom Freund nicht zu unterscheiden ist. Jede Partei, die sich die Bekämpfung eines nicht näher benannten inneren Feindes auf die Fahne schreibt, sollte genauestens auf Faschismus hin geprüft werden. Auch die SVP, seit sie die Auns in Pro Schweiz umwandelte, um den inneren Feind zu bekämpfen.

3. Wenn die Politik keinen Inhalt mehr hat, bleibt die reine «Affekt-Entladung». Der Faschismus bietet, und das macht ihn so unwiderstehlich, intensives Erleben – und zwar subito. Das unterscheidet ihn noch nicht fundamental von anderen Bewegungen, auch der Kommunismus und besonders der Anarchismus bewirtschafteten die intensiven Gefühle. Doch im Unterschied zu ihnen ist der Faschismus eine Mischung von heftiger Bewegung und absolutem Stillstand: gleichsam ein rasender Stillstand. Der Krieg in der Ukraine wurde notwendig, weil sich in Russland seit 2012 Politik auf die Macht­erhaltung Putins reduziert hat. An den realen Verhältnissen hat sich nichts verändert.

Walter Benjamin schreibt am Ende seines Aufsatzes über das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit:

Der Faschismus [ist] die Vollendung des l’art pour l’art. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss ersten Ranges erleben lässt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.

Aus: Walter Benjamin, «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit».

4. Wenn zwischen Freund und (innerem) Feind im Grunde kein wesentlicher Unterschied besteht, muss er nachträglich hergestellt werden, und zwar durch einen opuskanie. Opuskanie bezeichnet im Jargon der russischen Gefängnisse die Praxis der Gruppen­vergewaltigung. Wer den Kodex verletzt, sinkt durch dieses Ritual auf die Stufe des Unberührbaren hinab. Er darf fortan sexuell missbraucht werden, muss neben der Latrine schlafen und darf nur mit anderen Unberührbaren sprechen. Für die russische Autorin Maria Stepanova ist der Ukraine­krieg ein derartiges Bestrafungs- und Erniedrigungs­ritual. Jeder Faschismus kennt opuskanie, Erniedrigungen, die die Grenze zwischen Freund und Feind rituell markieren. Es gibt keinen Faschismus ohne Gewalt und Grausamkeit. Wohl nur wenn sie vorher auf dem Abraum der Geschichte landet – was in Italien allerdings wahrscheinlich ist –, wird die Regierung Meloni nicht in Gewalt münden.

5. Gewalt muss legitimiert werden, auch faschistische Gewalt. Daraus folgt der fünfte und letzte Schritt der faschistischen Mechanik: Der Faschismus muss sich seine Geschichte neu erfinden. Sie folgt immer demselben Schema: Früher waren wir gross und mächtig, doch unsere Feinde haben sich gegen uns verschworen und uns erniedrigt. Jahr­hunderte lang waren wir die Opfer. Jetzt aber zeigt sich die einmalige Gelegenheit, zu alter Grösse zurück­zufinden und zugleich Rache für die uns angetane Schmach zu nehmen. Faschistische Gewalt sieht sich also lediglich als eine Reaktion auf viel schlimmere Gewalt.

Weder sollten hier die psychologischen oder ökonomischen Voraussetzungen des Faschismus aufgezeigt noch sein «Wesen» beschrieben werden. Es geht mir lediglich darum, darzustellen, unter welchen Voraus­setzungen welche Schritte nötig sind, damit ein faschistisches Regime sich entfalten kann. Damit soll nicht einem historischen Determinismus das Wort geredet werden, wonach der Faschismus notwendig das letzte Stadium des schon verfaulten Kapitalismus darstellt. Es wird im Gegenteil dafür plädiert, den Faschismus an den entscheidenden Punkten politisch und nicht mit fadenscheinigen Aufklärungs- und Erziehungs­kampagnen zu bekämpfen.

Am besten dadurch, dass die Kluft zwischen Arm und Reich geschlossen wird.

Illustration: Alex Solman

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