Binswanger

Steuern für homogame Paare

Die ewige Debatte um die «Heirats­strafe» geht in die nächste Runde. Niemand will sie. Aber ihre Abschaffung ist problematischer, als es scheinen könnte.

Von Daniel Binswanger, 29.10.2022

Vorgelesen von Danny Exnar
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Max Weber, die Gründer­figur der heutigen Sozial­wissenschaften, definierte den modernen Staat bekanntlich als «Steuer­staat». Eine Grund­eigenschaft entwickelter Staats­wesen liegt in der Fähigkeit, sich Zugriff auf einen Teil des Volks­einkommens zu verschaffen, zur Finanzierung stehender Heere, einer funktionierenden Verwaltung und all jener hoheitlichen Aufgaben, welche den Zusammen­halt politischer Gemein­wesen gewährleisten: Infra­struktur, Bildung, Gesundheit, Justiz, minimale soziale Sicherheit. In ihrem Kern ist Politik immer Steuer­politik.

Das gilt auch und gerade, wenn mit der Auseinander­setzung um die legitime Zuweisung der Steuer­lasten nicht «nur» Verteilungs­fragen verhandelt werden, sondern auch die fundamentalen Werte­fragen einer Gesellschaft. Die Schweiz tut dies momentan intensiv mit den verschiedenen politischen Vorstössen zur Besteuerung von Ehepaaren. An der Notwendigkeit einer Reform kann wenig Zweifel bestehen, in der Hinsicht herrscht breiter Konsens. Dennoch zeigen ausgerechnet die Debatten um die «Heirats­strafe», wie schwierig und wider­sprüchlich der vermeintliche gesellschaftliche Fortschritt sich häufig darstellt.

Nicht weniger als drei Reform­ansätze sind heute auf der Agenda. Erstens wurde der Bundesrat vom Parlament in der Legislatur­planung 2019 bis 2023 dazu verpflichtet, einen Gesetzes­vorschlag zur Individual­besteuerung zu verabschieden. Die Eckwerte eines solchen Vorschlags wurden im Mai kommuniziert und sind nun in der Vernehmlassung.

Zweitens hat das hauptsächlich von FDP-Politikerinnen, aber auch von GLP- und selbst ein paar SP-Vertretern unterstützte Komitee für eine «Volks­initiative zur Einführung der Individual­besteuerung» die Unterschriften­sammlung diesen September erfolgreich abgeschlossen. Falls das Parlament sich nicht schon 2023 auf die gesetzliche Einführung der Individual­besteuerung einigen kann, dürfte der Initiativtext 2024 zur Abstimmung kommen.

Drittens hat die Mitte-Partei letzte Woche eine Unterschriften­sammlung für eine Ehegatten-Besteuerungs-Vorlage lanciert. Die Initiative «Ja zu fairen Bundes­steuern auch für Ehepaare» will sich absetzen von der Individual­besteuerung und im Grundsatz die eheliche «Wirtschafts­gemeinschaft» nicht antasten. Da Verheiratete gegenüber Konkubinats­paaren jedoch nicht benachteiligt werden sollen, würden gemäss dem Umsetzungs­vorschlag der Mitte Ehepaare vom Fiskus einer zweiten Einschätzung unterzogen, so als wären sie nicht verheiratet und versteuerten ihre Einkommen beide unabhängig. Zur Anwendung kommen würde dann jeweils die für die Eheleute günstigere Steuer­rechnung.

Die Vorlagen häufen und überlappen sich aus einem einfachen Grund: Obwohl ein Grund­konsens herrscht, dass die steuerliche Diskriminierung von Ehepaaren gegenüber Konkubinats­paaren nicht aufrecht­erhalten werden sollte, und obwohl seit den Achtziger­jahren (!) ein Bundesgerichts­entscheid vorliegt, der diese Diskriminierung als nicht verfassungs­konform beurteilt, führen die Reform­vorschläge sofort zu Ziel­konflikten. Diese sind fundamentaler und schwieriger zu lösen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.

Was würde die Individual­besteuerung leisten? Die Ehepartner würden je einzeln besteuert (wie bei einem Konkubinats­paar), das heisst, ihre beiden Einkommen würden zur Berechnung des Haushalts­einkommens nicht mehr zusammen­gezählt. Bei Doppel­verdiener-Haushalten mit zwei guten Einkommen führt die Steuer­progression heute dazu, dass der gemeinsame Verdienst deutlich höher besteuert wird, als dies der Fall wäre bei einer getrennten Veranlagung. Wenn zum Beispiel beide Eheleute je 120’000 Franken Jahreslohn versteuern müssen, ist es deutlich günstiger, wenn sie dies separat tun können, als wenn sie dem Fiskus gegenüber das gemeinsame Haushalts­einkommen von 240’000 Franken abzugelten haben.

Der Vorteil der Individual­besteuerung ist erstens, dass die Ungleich­behandlung von Konkubinats­paaren und Ehepaaren aufgehoben wird. Und dass es zweitens für Zweit­verdienerinnen (das sind in den meisten Fällen die Frauen) attraktiver wird, einen Teil zum Haushalts­einkommen beizutragen. Das heutige System belastet die Zweit­einkommen mit überproportional hohen Steuer­abgaben – und setzt deshalb für die Zweit­verdienerinnen einen Anreiz, nur wenig oder gar nicht zu arbeiten. Dieser negative Anreiz steht offensichtlich in krassem Gegensatz zum Ziel der möglichst guten Arbeitsmarkt­integration beider Ehepartner. Da es häufig die Frauen sind, die das Zweit­einkommen verdienen, ist es vor allem ein Gebot der Gleich­stellungs­politik, dieser fiskalischen Diskriminierung entgegen­zutreten.

Allerdings führt die Individual­besteuerung zu einer neuen Form der Ungleich­behandlung: Ein Ehepaar, bei dem beide Partner gleich viel verdienen (120’000 und 120’000, um beim Beispiel zu bleiben), würde stark profitieren vom neuen System. Ein Ehepaar jedoch, bei dem der eine Partner 200’000, der andere aber nur 40’000 verdient, würde weniger profitieren, weil der Lohn von 200’000 bereits einer stärkeren Steuer­progression unterliegt. Die beiden Paare hätten zwar dasselbe Haushalts­einkommen, würden steuerlich aber nicht gleich behandelt.

Auch das wäre nicht unproblematisch: Bei gleichem Einkommen – gleicher wirtschaftlicher Leistungs­fähigkeit – sollte gemäss Bundes­verfassung im Grundsatz die Steuer­last identisch sein. In der Vernehmlassungs­vorlage des Bundes soll diese Diskriminierung teilweise korrigiert werden durch erhöhte Kinder- und Einzelverdiener­abzüge. Mit solchen Spezial­abzügen könnte ein gewisser Ausgleich geschaffen werden, sie haben aber den Nachteil, dass sie zu noch höheren Steuer­ausfällen führen.

Noch problematischer ist jedoch eine andere Verzerrung: Besonders vorteilhaft wäre die Individual­besteuerung für Paare, bei denen beide hohe Löhne verdienen, das heisst für die gut ausgebildete obere Mittel­schicht. Wenn die Partnerinnen jedoch beide einen tiefen Verdienst haben, schlägt die Steuer­progression beim gemeinsamen Haushalts­einkommen ohnehin nicht stark zu Buche. Der Gleichstellung wäre mit der Individual­besteuerung gedient. Dem sozialen Ausgleich jedoch nicht.

Mit einer etwas anderen Philosophie will die Mitte-Partei der Heirats­strafe entgegen­treten. Dass die Partei, die bis vor kurzem noch das «C» im Namen führte, die Ehe möglichst fördern und nicht bestrafen möchte, kann nicht verwundern. Es geht ihr denn auch nicht um eine Gleich­behandlung von unverheirateten und verheirateten Paaren, sondern um eine Besser­stellung der Letzteren. Statt einer Heirats­strafe will die Mitte eine Heirats­belohnung.

Es stellt sich allerdings die Frage, ob im Jahr 2022 die Politik tatsächlich die Aufgabe übernehmen soll, in dieser Weise auf die Lebens­führung der Menschen Einfluss zu nehmen – umso mehr, als die Präferenz für die Ehe den Verhältnissen in diesem Land ganz einfach nicht mehr entspricht. 2021 entstammten in der Schweiz über ein Viertel der geborenen Kinder einer nicht-ehelichen Beziehung. Das Konkubinat ist zu einem völlig normalen, weitverbreiteten Modell des Zusammen­lebens geworden – auch für Haushalte mit Kindern. Für die Eheschliessung steuerliche Anreize setzen zu wollen, widerspiegelt nicht die gesellschaftliche Entwicklung.

Das eigentliche Grund­problem, das sich in den Debatten um die Ehegatten­besteuerung abbildet, haben wir aber noch gar nicht berührt. Es ist die stärker werdende Tendenz zur sogenannten Homogamie – und die gesellschaftlichen Folgen, die diese mit sich bringt.

Mit Homogamie ist die Angleichung der Partnerinnen in Durchschnitts­ehen gemeint. Zunehmend haben innerhalb einer ehelichen Lebens­gemeinschaft beide Parteien ein ähnliches Bildungs­niveau, ein ähnliches Einkommen, ähnliche Vermögens­verhältnisse. Früher war es absolut nicht ungewöhnlich, dass ein Mann eine Frau heiratete, die ein deutlich niedrigeres Einkommen hatte: der Chef die Sekretärin, der Arzt die Pflegerin. Die Häufigkeit dieser Asymmetrie war natürlich Ausdruck patriarchalischer Lebens­verhältnisse, mehrheitlich war der besser gestellte Teil der Partnerschaft der Mann. Insofern ist die verstärkte Homogamie ein klarer gesellschaftlicher Fortschritt, der stark dadurch voran­getrieben wird, dass zwischen dem durch­schnittlichen Bildungs­niveau von Männern und Frauen kein Gefälle mehr besteht. Diese positiven Entwicklungen haben aber auch einen Preis: Sie führen zu mehr Ungleichheit.

Besonders massiv ist dieser Effekt in den USA, wie der Ungleichheits­forscher Branko Milanović in seinem Buch darlegt. Studien belegen, dass sich die Muster der Partner­wahl heirats­williger Amerikaner und Amerikanerinnen stark verändert haben. Seit den Siebziger­jahren wird die Partner­wahl immer «assortierter». Wer gut verdient, wählt eine gut verdienende Partnerin. Wer auf einer Elite­universität war, wird jemanden heiraten, der auf derselben Universität einen Abschluss gemacht hat – und dies mit einer Wahrscheinlichkeit, die viel, viel höher ist als noch vor zwei Generationen. Theoretisch ist die heutige Gesellschaft individualistischer denn je. Dennoch sind soziokulturelle Milieu­normierungen inzwischen ungleich mächtiger als früher.

Die Folge davon ist, dass ein geschätztes Drittel der Zunahme der Ungleichheit zwischen den späten Sechziger- und den späten Nuller­jahren in den USA nicht auf die Veränderung der Einkommens­verteilung oder der Sozial­politik, sondern einzig und allein auf die veränderten Präferenzen bei der Partnerinnen­wahl zurück­zuführen ist. Die deutlich verbesserte Gleich­stellung innerhalb der Partnerschaften ist eine der zentralen Errungenschaften der gesellschaftlichen Entwicklung in den letzten Jahr­zehnten. Aber sie hat weitreichende, negative Folgen: die Verstärkung der Ungleichheit, eine Verschärfung der sozialen Segregation.

Wie ist die Entwicklung in der Schweiz? Zunächst kann man Entwarnung geben: sehr viel weniger dramatisch. Eine Studie aus dem Jahr 2017 kommt zum Ergebnis, dass zwar auch die Schweiz eine sehr ausgeprägte Homogamie mit Bezug auf den Bildungs­grad der Ehepartnerinnen vorweist, dass sich diese Bildungs-Homogamie aber nur mässig auswirkt auf die Veränderung der Einkommens­verteilung. Damit ist die Schweiz ein Sonderfall: In fast allen OECD-Ländern lässt sich ein Einfluss der zunehmenden Homogamie auf die Einkommens­verteilung feststellen.

Die Schweizer Eigenheit dürfte unter anderem an einer Besonderheit der hiesigen Erwerbs­beteiligung liegen: der Tatsache, dass hierzulande ausnehmend viele verheiratete Frauen in einem relativ kleinen Teilzeit­pensum arbeiten und deshalb trotz guter Ausbildung nur relativ mässige Einkommen erzielen. Diese Schweizer Besonderheit ist ja auch, wogegen die Individual­besteuerung antreten will: Niedrigere Steuern für Zweit­einkommen sollen einen Anreiz schaffen für höhere Pensen.

Gleichstellungs­politisch ist dieses Anliegen absolut einleuchtend. Sozial­politisch dürfte es jedoch zu verstärkter Ungleichheit führen. Der assortierte Bildungs­stand verheirateter Paare würde auch in der Schweiz einen stärkeren Einkommens­effekt bekommen. Die steuerliche Förderung der Doppelverdienerinnen-Familie bleibt deshalb eine ambivalente Angelegenheit. Die Individual­besteuerung ist das Steuer­system für die Homogamie. Und dafür, dass die «assortierten» Paare ihre wirtschaftliche Potenz noch besser ausspielen können.

Wäre es da nicht sinnvoller, die Berufs­tätigkeit von Frauen prioritär durch andere Massnahmen zu fördern, zum Beispiel durch ein günstiges, qualitativ hochstehendes und gut organisiertes Früh- und Fremdbetreuungs­angebot? Muss Gleichstellung wirklich auf Kosten von sozialem Ausgleich gehen? Das ist eine der absoluten Grund­fragen der heutigen Politik, und sie stellt sich nicht nur im Bereich der Ehegatten- und Familien­besteuerung. Aber hier besonders akut.

Illustration: Alex Solman

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