Wohin mit der Wut

Sylvia Plath ist bis heute ein Mythos. Ihr literarisches Werk fasziniert auch Jahrzehnte nach ihrem frühen Tod. Eine Hommage zum neunzigsten Geburtstag.

Von Elke Schmitter, 28.10.2022

Vorgelesen von Egon Fässler
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Sylvia Plath, undatierte Aufnahme. Granger Historical Picture Archive/Alamy

In den ersten 31 Jahren ihres Lebens interessierten sich für das Werk und das Wohl­ergehen von Sylvia Plath nur wenige und ausgewählte Menschen: ihre Mutter, ihr Bruder, ihr Ehemann und Freunde (allzu viele hatte sie nicht), einige Redakteure, ein Kritiker. Das ändert sich im bitter­kalten Februar 1963: Seither beschäftigt ihr Schicksal die literarische Welt in doppelter Weise: als das einer Dichterin und als das einer Frau. Genauer: einer jungen, begabten, attraktiven US-Amerikanerin mit first-world problems. Denn auch diese können tödlich sein.

Es hat etwas Peinliches; ja, es kommt mir selbst beinahe ungehörig vor, mit dieser Tür ins Haus zu fallen. Aber eine andere Tür hat dieses Haus nun einmal nicht.

Als 1965 die Gedicht­sammlung «Ariel» herauskam, die ihr Werk kanonisch machte, war Sylvia Plaths kurzes Leben bereits ein öffentliches Gut. Ihr sehr autobiografischer Roman «The Bell Jar» («Die Glasglocke») war vier Wochen vor ihrem Tod in den USA heraus­gekommen; davor war sie als Autorin des 1960 erschienenen Lyrik­bands «The Colossus and Other Poems» («Der Koloss») nur Eingeweihten bekannt.

In deutscher Sprache erschien «Ariel» erstmals 1974, übersetzt von Erich Fried; da war Sylvia Plath bereits ein tragisches Phänomen der Literatur­geschichte, und mit diesem Hintergrund­wissen habe auch ich ihre Gedichte zum ersten Mal gelesen. Zumal sechs Jahre zuvor, als erste deutsche Veröffentlichung, «Die Glasglocke» schon den Boden bereitet hatte für eine Rezeption, in der literarisches und persönliches wie zeitgeistiges Interesse zwar voneinander zu trennen sind, aber eben nur theoretisch. Wer Sylvia Plath sagt, hat alles zugleich im Sinn und, natürlich, vor Augen.

Wie bei Anne Sexton, wie bei Ingeborg Bachmann prägen Fotografien von ihr als junger, aparter Frau das Bild, das man sich von ihr macht. Es hat eine besondere Farbe, eine Art Sepia des Sentiments oder, freundlicher, der Anteil­nahme. Künstlerinnen, die sterben, weil sie Hand an sich legen oder weil sie sich zu Tode trinken, weil sie sich offensiv vernachlässigen, weil sie depressiv, süchtig oder einfach nur «schwierig» sind, lösen in der Nachwelt ein gewisses Nachzittern aus.

Hätte sie gerettet werden können? – das ist die eine bange Frage. Könnte es mir auch so gehen? – das ist eine andere.

Die weibliche Literatur­geschichte ist dicht bevölkert mit diesen «Fällen»; Virginia Woolf war nicht die Erste, Sarah Kane wird nicht die Letzte gewesen sein. Ihre Lebens- und Todesgeschichten sind nicht zu trennen von ihrem Geschlecht; Unica Zürn, Hilary Mantel und Siri Hustvedt haben gründlich darüber nachgedacht und anschaulich darüber geschrieben, wie eine Kranke (und erst recht eine gebildete, kreative) von der Medizin behandelt wird, in deren Tradition «Frau» und «Hysterie» potenziell dasselbe bedeuten.

Und auch Sylvia Plath hat darüber nachgedacht. 1955 war sie in Cambridge, mit ihrem späteren Ehemann, dem Lyriker Ted Hughes, am euphorischen Beginn der grossen Liebe: ein Künstlerpaar.

Wie immer beobachtete sie sich selbst, und wie so oft mit Energie und Selbst­ironie.

Ich bin unruhig. Brenne. Und bin doch unproduktiv. Draussen: ein blauer, klarer, kalter Tag, er verlockt zu einer Wanderung nach Granchester, über die hölzernen Steigen bei den Weissdorn­hecken und dem Baum mit den Eichhörnchen. Aber ich bin heute zum Einkaufen in die Stadt geradelt.

Es folgt eine Tätigkeits- und Einkaufs­liste. Dann ein erstes Resümee, in dem noch einmal das Literarische und das Häusliche aufeinander­prallen:

Ich bekam schon langsam Angst, dass ich auf eine muntere, banale Art praktisch werden würde: statt zum Beispiel Locke zu lesen oder zu schreiben – back ich einen Apfel­kuchen oder lese Freude am Kochen, lese es, als wäre es ein hervorragender Roman. He-he-, sagte ich mir. Du wirst ins häusliche Leben flüchten & ersticken, weil du kopfüber in eine Schüssel Kuchenteig fällst.

Und schliesslich, direkt im Fortgang der Passage, macht sie selbst schon eine Parallele auf, die später auch die Literatur­historikerinnen umtreibt:

Jetzt nehme ich mir die vielgepriesenen Tagebücher von Virginia Woolf zur Hand, die ich und Ted zusammen mit einer Reihe ihrer Romane am Samstag gekauft haben. Nach den Ablehnungen von Harper’s (sie sogar! – ich kann kaum glauben, dass auch die Grossen abgelehnt werden!) schafft sie sich ihre Depression vom Hals, indem sie die Küche putzt. Und Schellfisch & Würstchen kocht. Hol sie der Teufel. Ich habe das Gefühl, mein Leben ist irgendwie mit ihr verknüpft. Ich liebe sie – seit ich bei Mr. Crockett Mrs. Dalloway las –, und noch immer habe ich Elizabeth Drews Stimme im Ohr, als sie in diesem riesigen Smith-Klassen­zimmer aus To The Lighthouse las, damals liefen mir Schauer über den Rücken. Meinem Gefühl nach habe ich ihren Selbstmord 1953, in diesem finsteren Sommer, zu wiederholen versucht. Nur gelang es mir nicht zu ertrinken. Ich nehme an, ich werde immer überverletzlich sein, leicht paranoid. Aber ich bin auch verdammt gesund & unverwüstlich. Und apfelkuchen­selig. Nur muss ich schreiben.

Dass sie schreiben wollte, war früh selbstverständlich: eine anerkannte feminine Beschäftigung, wie Klavier spielen, wie Sprachen lernen, wie Kuchen backen und zeichnen.

Sylvia Plath kam am 27. Oktober 1932 in Jamaica Plain, Massachusetts, zur Welt. Der Vater, einundzwanzig Jahre älter als seine Frau Aurelia, war ein geachteter Biologe und Linguist, der von seiner Frau erwartete, ihren Beruf als Highschool-Lehrerin für Deutsch und Englisch aufzugeben, um sich ganz dem Haushalt zu widmen. Die Mutter begriff nach der Ehe­schliessung sehr schnell, dass «mehr Unterwürfigkeit, als meiner Natur entsprach» die einzige Sicherung des Hausfriedens bringen würde. Sylvia wurde geliebt und in den Schlaf gesungen und verbrachte ihre Kindheit inmitten einer angestrengten, immer gefährdeten Idylle, mit einem Vater als dunkler, drohender Macht.

Als sie acht Jahre alt war, starb Otto Plath an Eigensinn. Er diagnostizierte seine Beschwerden als Krebs, liess sich nicht behandeln und erfuhr zu spät, dass es sich um Diabetes handelte. Aurelia nahm ihre Arbeit wieder auf und zog von nun an Sylvia und den jüngeren Bruder Warren ohne staatliche Unterstützung gross, als hingebungs­volle Mutter und nach Kräften guten Mutes.

Sylvia bekam ein Stipendium für das begehrte Smith College, eine Institution weiblicher Bildung in den USA, und stürzte sich pflichtgemäss und rückhaltlos in den üblichen Trubel von Kursen, Wettbewerben, Peergroups und Dates. Sie schrieb beinahe täglich nach Hause.

Diese Briefe und eine Auswahl ihrer Tagebücher sind die Quellen aller Biografien und aller Spekulationen. Denn beides ist nach Plaths Tod von ihren Hinter­bliebenen heraus­gegeben und nach deren Interessen und Gutdünken zurecht­geschnitten, man könnte auch sagen: zensiert worden.

Die Tagebücher gehörten zu ihrem Nachlass, den der britische Dichter Ted Hughes verwaltete: der Mann, von dem sie zum Zeitpunkt ihres Todes bereits getrennt, aber noch nicht geschieden war. Sie erschienen 1982 mit einem kurzen Vorwort, in dem er zur Material­lage schrieb:

Die Tagebücher bestehen aus einer Sammlung von Notiz­büchern und Stapeln von losen Blättern. Das hier Ausgewählte enthält vielleicht ein Drittel der gesamten Masse, die sich jetzt in der Neilson Library im Smith College befindet. Zwei weitere Notiz­bücher überlebten eine Zeitlang, kastanienfarbige Lederbände wie der Band ’57–’59, sie führen die Aufzeichnung von Ende ’59 bis drei Tage vor ihrem Tod fort. Das letzte davon enthielt Eintragungen aus mehreren Monaten, und ich habe es vernichtet, weil ich nicht wollte, dass ihre Kinder das je lesen müssten (damals hielt ich das Vergessen für einen wichtigen Teil des Überlebens). Der Rest ist verschwunden.

Plaths «Letters Home» («Briefe nach Hause») wiederum gab ihre Mutter 1975 heraus, versehen mit einem umfangreichen Vorwort, aus dem ein professioneller wie ein persönlicher Vorsatz spricht: einerseits das Bemühen um philologische Korrektheit, wie sie ihrer Ausbildung, ihrem Respekt vor der Literatur und dem geschriebenen Wort überhaupt gemäss war. Und andererseits das Bedürfnis, das Andenken der Tochter (und so auch der Mutter) zu schützen, indem Sexualität und Zorn, also besonders heikle Gefilde für eine Frau des 20. Jahrhunderts, durch Auslassungen gemildert sind.

«Wohin mit der Wut», fragt Plath in ihrem Tagebuch und gibt gleich die Richtung an:

Eines kann ich sagen: Ja, ich will gelobt werden von der Welt und will Geld und Liebe und bin wütend auf alle, die weiter sind als ich, vor allem, wenn ich sie kenne und wenn sie ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich.

Wütend ist die junge Dichterin auf die Konkurrenz, auf all die jungen oder auch etwas älteren Frauen, die sie trifft oder die Lob erhalten und von denen sie zugeben muss, dass sie begabt sind. Wütend ist sie jedoch genauso intensiv auf ihre Nase, ihre Faulheit, ihre Bedürftigkeit, auf ihre Vergangenheit, ihre Talente, auf ihre Wut.

In diesem Frühsommer 1959 ist Sylvia Plath sechsundzwanzig Jahre alt, verheiratet und Patientin von Dr. Ruth Beuscher, die sie zeitweise heimlich besucht – ohne Wissen von Mutter und Mann, den wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Sie hat eine beachtliche Karriere als hochbegabte Studentin hinter sich, sie hat den Mann geheiratet, den sie haben wollte, sie hat einen Brotberuf am College ausgeschlagen zugunsten einer Künstler­existenz. Sie lebt als freier Mensch und ist gefesselt an ihre Psyche wie ein Tier an seinen Pflock.

Keine vier Jahre später, inzwischen als zweifache Mutter mit den Kindern in London allein, wird sie in ihrer Küche den Gashahn aufdrehen und den Kopf in den Backofen stecken – und nicht gerettet werden. Sie hinterlässt neben Tage­büchern und Briefen, ihrem Roman, Erzählungen und zwei Gedicht­sammlungen auch diesen Zettel, auf dem steht: «Bitte Dr. Horder anrufen», nebst Telefon­nummer.

Die Notiz galt vermutlich der Kranken­schwester, die auf Anweisung des Arztes die Grippe­kranke unterstützen und an diesem Morgen ihren Dienst antreten sollte. Es spricht einiges dafür, dass sie nicht sterben wollte, doch ist ihre poetische Aura von diesem gewaltsamen Abbruch des Lebens nicht mehr zu trennen. Er hat die Autorin zu einer Ikone weiblichen Genies und weiblichen Scheiterns gemacht und unmittelbar dafür gesorgt, dass alles, was danach von ihr und über sie erschien, mit dieser Mischung aus Anteil­nahme und Grusel gelesen wird, die dem Gewöhnlichen wie dem Dramatischen ihres Lebens fatal entspricht.

Ihre späte Lyrik ist schroff und gross; frei in der Behandlung von Rhythmus und Reim, aber bedachtsam geschöpft aus klassischer literarischer Bildung.

Viel Fleissarbeit ging dem voraus: Mit zwanzig Jahren war sie eine preisgekrönte Hoffnung, die ihre Kurz­geschichte «Sunday at the Mintons» in der Zeitschrift «Mademoiselle» veröffentlicht sah. Wenig später war sie dort Gast­redakteurin; ein Fulbright-Stipendium in Grossbritannien folgte.

Sie arbeitete unaufhörlich, feilte an ihrer Prosa, entwarf Romane, mühte sich an Gedichten und versuchte, sie – wie damals üblich – einzeln an Zeitschriften zu verkaufen.

Ihre spezifische Begabung zeigte sich sehr früh: eine durchdringende Beschreibung von Atmosphären und Menschen, gepaart mit einem hohen Vermögen, für Wahrnehmung und Empfindung neue, oft spektakuläre Bilder zu finden. Dabei blieb sie eng am Saum ihres Alltags; sie recherchierte nicht, sie tauchte nicht in andere Welten ein, sondern blieb bei ihren Erfahrungen als College-Girl, als Hilfs­sekretärin in der Psychiatrie, als eifersüchtig Liebende, als zornige Tochter, als Gebärende:

Die Hebamme schlug deine Sohlen: dein kahler Schrei
Nahm seinen Platz ein unter den Elementen.

Aus: «Morgenlied» im Band «Ariel» (Übersetzung Erich Fried).

Das im besten Sinne Sonderbare von Plaths lyrischer Sprache (die manchmal das Gesuchte streift) ist Frucht einer Entwicklung, die sich immer zwischen Anpassung und Eigensinn bewegt. Ihr phänomenaler Ehrgeiz treibt sie an und ist ihr zugleich im Weg. Lange Zeit bringt sie nichts zu Papier, ohne zugleich den möglichen Empfänger zum Auftrag­geber, ja Richter zu machen: das Magazin, die Zeitschrift, die Jury.

So ist sie ebenso gehetzt wie gehemmt, schwankt zwischen dem Bewusstsein ihrer Begabung und einer erbarmungs­losen Selbstkritik, die nicht allein auf ihre Leistungen, sondern auf die ganze Persönlichkeit zielt:

Kann ich schreiben? Werde ich schreiben, wenn ich genug übe? Wie viel soll ich für das Schreiben opfern, bevor sich herausstellt, ob ich gut bin? Und vor allem: KANN EINE EGOISTISCHE, EGOZENTRISCHE, EIFERSÜCHTIGE UND PHANTASIELOSE FRAU ÜBERHAUPT ETWAS WERTVOLLES SCHREIBEN?

In «Die Glasglocke» beschreibt sie die Lebens­krise einer talentierten jungen Frau, die mit Elektro­schocks behandelt wird – so, wie es ihr 1953 tatsächlich geschah. (Der Roman war ein in vielen Details so präzises Protokoll tatsächlicher Ereignisse, dass Plath sich zur Schonung aller Beteiligten, auch zur Abwendung juristischer Konflikte, für eine Publikation unter Pseudonym entschied: Victoria Lucas – Glanz, Licht, Sieg.)

Aus einer verfehlten Sommer­planung – bei einem Schreib­seminar abgelehnt, ohne interessanten Ferienjob, bei der Mutter zu Hause gestrandet – war sie in eine Depression gerutscht.

Ihre Mutter erinnerte sich:

Sie machte Sonnen­bäder und hatte immer ein Buch zur Hand, aber sie las nie. Tage vergingen so, dann fing sie an, mit mir zu reden, in einem endlosen Strom von Selbst­entwertung und Selbst­anklagen. Sie habe kein Ziel. Sie könne nicht einmal mehr mit Verstand lesen, erst recht nicht schreiben, was also sollte sie mit ihrem Leben anfangen?

Vorwort von Aurelia Plath, in: «Letters Home» (Übersetzung hier: Elke Schmitter).

Die schwer besorgte Mutter machte für Sylvia einen Termin bei einem Psychiater.

Später wird es in «Die Glasglocke», mit der Stimme von Plaths Alter Ego, dazu heissen:

Ich hatte mir einen freundlichen, hässlichen, fantasievollen Mann vorgestellt, der aufsah und auf ermutigende Weise «Ah!» sagte, als könne er etwas sehen, was ich nicht sah, und dann würden mir Worte einfallen, mit dem ich ihm sagen konnte, wie grosse Angst ich hatte, so als ob ich immer weiter in einen schwarzen, luftlosen Sack ohne Ausweg hineingestopft würde. Dann würde er sich im Stuhl zurücklehnen und die Finger­spitzen zu einer kleinen Turm­spitze zusammenlegen und mir sagen, warum ich nicht schlafen konnte, warum ich nicht lesen konnte und warum ich nicht essen konnte, und warum alles, was die Leute taten, so töricht schien, weil sie am Ende schliesslich doch starben.

Und dann dachte ich, er würde mir Schritt für Schritt helfen, wieder ich selbst zu sein.

Aber Doktor Gordon war nichts dergleichen. Er war jung und sah gut aus, und ich sah sofort, dass er eingebildet war.

Wie diese Roman­szene zeigt, hatte Plaths Ich-Erzählerin ihre Hoffnung auf einen gütigen Patriarchen gesetzt. Einen souveränen, älteren Herrn, der, anders als Plaths misogyner Vater, möglicher­weise zu beiden Dimensionen ihres Unglücks Zugang haben würde: dem individuellen Temperament, das mit grossen Schwankungen des Gefühls zu kämpfen hat. Aber auch der Frustration einer weiblichen Adoleszenten.

Schon als Achtzehn­jährige hatte sie im Tagebuch notiert:

Das grösste Problem, das sich für mich aus meiner tiefsitzenden und egoistischen Selbst­liebe ergibt, ist Eifersucht. Ich bin eifersüchtig auf Männer – ein gefährlicher und unterschwelliger Neid, der, wie ich mir vorstelle, jede Beziehung zerstören kann. Dieser Neid entstammt dem Wunsch, aktiv zu sein und etwas zu tun, nicht nur passiv zu sein und zuzuhören. Ich beneide den Mann, körperlich ist er frei, er kann ein Doppelleben führen – seine Karriere und sein erotisches und sein Familien­leben. Ich kann so tun, als vergässe ich meinen Neid, doch das nützt nichts, er ist da, böse, heimtückisch, verborgen.

Der medizinische Profi, wie er in Plaths autobiografischem Roman beschrieben wird, ist allerdings weit davon entfernt, eine depressive Verstimmung als weibliche Wut zu verstehen, die sich gegen sich selber richtet. Silbern gerahmt, steht eine Fotografie auf dem Behandlungs­tisch, die eine perfekte Familie zeigt (eine schöne Frau, zwei wohlgeratene Kinder); für ihn ist das Leben genau so, wie es seinem Geschlecht und seinen Fähigkeiten zukommt. «Also», sagt er, Mans­plaining avant la lettre, «jetzt versuchen Sie mir mal zu erzählen, was Ihrer Meinung nach nicht in Ordnung ist.»

Als ich «Die Glasglocke» zum ersten Mal las, war ich ohne spezifische Ausbildung als sogenannte Hilfs­schwester in einer psychiatrischen Frauen­klinik beschäftigt; Ende der Siebziger­jahre waren die Bestimmungen in der Bundes­republik für diese Art Tätigkeit noch nicht so skrupulös – oder seriös – definiert wie gegenwärtig.

Jeden Morgen zog ich mir einen weissen Kittel an, in dem ich von einer ausgebildeten Kranken­schwester kaum zu unterscheiden war, und brachte den Patientinnen Frühstück und Medizin; auch bei den Visiten war ich dabei. Ein Pulk von ausschliesslich männlichen Psychiatern und Neurologen ging im Gruppen­schlafsaal herum; fast alle Frauen lagen in Nacht­hemden im Bett, obwohl ihnen körperlich nichts fehlte. Die Gespräche waren kurz und in gönnerhaftem Ton gehalten; nicht selten machte der jeweils Rang­höchste noch in Hörweite der Patientin einen Witz mit sexueller Konnotation.

Die meisten Frauen waren in mittleren Jahren, verheiratet und hatten Kinder; die übliche Diagnose lautete «Depression», die übliche Behandlung bestand in Medikamenten und Beschäftigungs­therapie. An der Langsamkeit des Schlurfens und an der Apathie von Sprechen und Mimik konnte man die Dosis der Beruhigungs­mittel ablesen, mit denen die Patientinnen «ruhiggestellt» waren; fast alle waren regelmässig wiederkehrende Gäste dieses frauen­feindlichen Gesundheits­wesens. Wurden Elektro­schocks verabreicht? Es muss jedenfalls davon die Rede gewesen sein, denn als ich Plaths Beschreibung dieser Massnahme las, war ich nicht überrascht.

Dann bog sich etwas herunter und griff mich und schüttelte mich, wie das Ende der Welt. Wiiiiiii schrillte es durch berstende Luft in blauem Licht, und mit jedem Blitz fuhr ein riesiger Schlag auf mich nieder, dass ich glaubte, meine Knochen würden brechen und der Saft würde aus mir herausjagen wie aus einer aufgeschlitzten Pflanze. Was hatte ich denn nur Furchtbares getan.

Dieser Moment des Selbst­mitgefühls währt im Roman nur kurz. In der Folge erwägt die Heldin Todes­arten, nüchtern und mit abschliessendem Charakter.

Ich hatte zwar die Rasier­klingen, aber kein warmes Bad.

Sie fragt einen Bekannten:

«Wenn Sie sich umbringen wollen, wie würden Sie das machen?» Cal schien das zu gefallen. «Ich habe oft daran gedacht. Ich würde mir mit einem Gewehr das Lebenslicht ausblasen.» Ich war enttäuscht. Typisch Mann, es mit einem Gewehr zu machen. Was hatte ich schon für Gelegenheit, ein Gewehr in die Hand zu bekommen.

Schliesslich nimmt Plaths Protagonistin Tabletten, so wie 1953 die Autorin selbst. Im Roman wird die Heldin erst nach Tagen im Keller entdeckt; sie hatte (wie Plath es dann 1963 tat) in der Wohnung einen Zettel hinterlassen – allerdings mit der irreführenden Botschaft, sie habe sich «auf einen langen Spaziergang» begeben.

Für Plath wie ihre Protagonistin folgte nach der Rettung ein Klinik­aufenthalt von einigen Monaten. Das Verhältnis zur Mutter und zum früh verstorbenen Vater stand im Mittel­punkt der Gespräche, eine sogenannte Insulin­therapie und Elektro­schocks – wenn auch milderer Art – gab es ausserdem. Das Problem, der «Fall», war individualistisch geframed, wie man heute sagen würde: Die Kranke hat ein Problem mit ihrer Familien­geschichte, mit ihrem Selbstwert­gefühl, mit ihren Ambitionen. Und sie wird mit Ratschlägen und Techniken entlassen, wie man sich selbst beruhigt und wieder funktions­fähig hält. Eine narzisstische Gratifikation als «interessanter Fall» samt Lizenz zur lebenslangen Selbst­beobachtung ist hier inklusive; Hauptsache, könnte man meinen, der Blick richtet sich nicht auf die Gesellschaft.

Plaths Suizid­versuch wird als eine Störung abgebucht, nach der man umso energischer das alte Programm wieder aufnehmen muss, das da heisst: Leistung auf allen Gebieten. Die Beste sein in Literatur und Philosophie, eine beliebte Kommilitonin, eine begehrte Kandidatin für ein Date, eine erfolgreiche und fleissige Autorin. Die Lebens­wut bleibt: als Ehrgeiz, das Leben voll auszuschöpfen, und als destruktive Energie, in deren Umsetzung sie ebenso Ehrgeiz zeigt.

Sterben
Ist eine Kunst, wie alles.
Ich kann es besonders schön.

So lauten die berühmten, für sie sprichwörtlich gewordenen Zeilen aus dem nachgelassenen Gedicht «Lady Lazarus».

Sylvia Plath und Ted Hughes. Archivo/Alamy

Ihre Kunst (des Überlebens, des Schreibens wie des Sterbens) beschäftigt die Nachwelt weiterhin. Zumal die Verbindung von Plath und Hughes als psychologischer Ausgangs­punkt weiterer Tragödien erscheint: Die Frau, mit der Hughes ein Verhältnis hatte, als Plath in den Tod ging, nahm sich und der gemeinsamen kleinen Tochter 1969 vor einem Gasofen das Leben. Und der Sohn von Hughes und Plath, ein Biologe, der schon als Student nach Alaska übersiedelte, beging dort 2009 Suizid.

Es ist eine verzweigte Geschichte von Tod und Verzweiflung, von deren systemischem Mittelpunkt, einer Künstler­ehe, wieder und wieder erzählt worden ist – in aller Regel aus Plaths (imaginierter) Perspektive. Der Witwer – und beinahe Ex-Gatte – hatte zu allen Spekulationen über die Ehe und Plaths Gemüts­zustände konsequent geschwiegen, bis im Jahr seines Todes die «Birthday Letters» erschienen, eine metaphorisch dichte, von Alters­milde weit entfernte Anrufung ihrer gemeinsamen Jahre in 88 Gedichten. (Die souveräne deutsche Übersetzung stammt übrigens ebenfalls von einem Schriftsteller­paar: von Andrea Paluch und Robert Habeck.)

Zuletzt hat die schwedische Autorin Elin Cullhed, pünktlich zu Plaths neunzigstem Geburtstag, mit dem Roman «Euphorie» eine hoch identifikatorische Darstellung von Plaths letzter Lebens­phase in England vorgelegt. Das Ganze ist nicht nur in Ich-Form erzählt, sondern auch mit dem expliziten Hinweis versehen, dass «sie sich selbst in einer ähnlichen Situation wie Sylvia Plath wiederfand – Mutter von Klein­kindern, Frau eines Autors, damit kämpfend, Zeit für sich und die eigene Arbeit zu finden». (Aus Hughes’ Sicht wiederum, und schon darin kühn, spekuliert die grosse niederländische Autorin Connie Palmen in dem Roman «Du sagst es», der 2016, fast zwei Jahrzehnte nach Hughes’ Tod, erschien.)

Die gängige Fabel lautet: Hier hat ein selbst­bezogener Mann die Frau an seiner Seite durch Verrat gedemütigt und verlassen, als sie am verletzlichsten war – mit zwei kleinen Kindern am Rocksaum und mitten in einer krisenhaften schöpferischen Phase. Und nicht zuletzt ringend um jene Anerkennung, die er gerade in vollen Zügen genoss. Zu dieser Deutung scheinen auch die literatur­historischen Eckdaten zu passen: Hughes war bereits zur Zeit ihres Kennen­lernens bekannter und produktiver als Plath und ging schliesslich als hochverehrter Poet Laureate und Mitglied des äusserst exklusiven britischen Order of Merit in die Literatur­geschichte ein. Und nicht zuletzt hat Plath selbst Anhalts­punkte für diese Lesart gegeben: «… irgendwie macht es mir Spass, für ihn zu kochen (gestern abend habe ich eine Zitronen-Schicht­torte gebacken) und seine Sekretärin zu sein und so weiter», notierte die Jung­verheiratete in ihr Tagebuch.

Irgendwann jedoch war die Differenz zwischen Hughes’ wachsendem Ruhm und ihrem prekären Status als dauernde Hoffnung – die immer wieder Zurück­weisung erfuhr – kaum noch zu ertragen. Und wie gewöhnlich machte sie aus der Wahr­nehmung von Leid ein Koppelungs­geschäft:

Wenn ich mich und meine Arbeit ausbauen kann, bin ich für uns als Paar ein Gewinn und nicht die abhängige und schwache Hilfe.

Plaths schwieriges Temperament, ihre labilen Wechsel zwischen Euphorie und Depression, Anhänglichkeit und Zorn werden bei der klassischen Darstellung ihres «Falls» nicht verschwiegen.

Doch das Gender-Muster – treue, abhängige Frau versus libidinös schweifender, autonomer Mann – ist stets übermächtig. Und es überblendet die Wahr­nehmung einer unpersönlichen Konstellation, die hier untergründig ebenfalls wirksam war: Europa versus USA mit ihren kultur­geschichtlich unter­schiedlichen Traditionen.

Denn es passt zur europäischen Genie­tradition, wie der Cambridge-Stipendiat Hughes – übrigens aus proletarischen, bildungsfernen Verhältnissen – sich so unbewusst wie lässig einfinden konnte in die Rolle des kauzigen Einzel­gängers, der den Verfolg innerer Ambition höher schätzen darf als den äusseren Erfolg. Lebende Mäuse in der Hosen­tasche, grandiose Flüche und ein Leben jenseits sozialer Kompromisse verzieh man ihm nicht nur als Belege der Begabung, man begrüsste sie bewundernd. Die US-Amerikanerin Plath hingegen rieb sich auf in der Anstrengung, alle Rollen gleich gut zu spielen: die der brillanten Studentin, der attraktiven Frau, der hingebungs­vollen Tochter, Hausfrau und Mutter – und schliesslich die der Autorin, die ihre Geschichten verkaufen, für ihre Gedichte Preise einheimsen muss, um an ihre Berufung zu glauben.

Zu den Autorinnen, die sie bewunderte, gehörten Elizabeth Bowen, Marianne Moore, aber auch Kolleginnen ihrer Generation wie Anne Sexton und Adrienne C. Rich. Sie war also nicht ohne realistische Vorbilder. Doch anders als Elizabeth Bowen und Virginia Woolf war Plath auf des Lebens Fülle fixiert, auf die (klein-)bürgerliche Art: die strebsame Kandidatin, die Auszeichnungen einsammelt in Sport und Handarbeit und Geschichte und die ausserdem noch modelt.

Die Gleichung von Wert und Erfolg – der sich gar auszahlen soll – knebelte Plath. Hughes führte indessen mit schlafwandlerischer Sicherheit ein Leben, das ganz in der Tradition männlichen europäischen Künstlertums stand: nur auf die Begabung bedacht, die Gabe und Gnade ist; radikal egozentrisch und entlastet von jedem Anspruch an Normalität.

Die Lyrikerin Judith Zander hat nun Gedichte aus Plaths Nachlass erstmals ins Deutsche übertragen, in eine ihr plausibel erscheinende Ordnung gebracht und mit einem eindrucks­vollen Nachwort versehen. Die Sammlung schliesst mit der titel­gebenden Zeile «Das Herz steht nicht still». Und sie enthält eine Fantasie über den Tod und die Zeit danach, die im Original «Last Words» hiess: «Letzte Worte». Sie beginnt so:

I do not want a plain box, I want a sarcophagus
With tigery stripes, and a face on it
Round as the moon, to stare up.

Ich will keine einfache Kiste, ich will einen Sarkophag
Mit Tigerstreifen und aufgemaltem Gesicht
Rund wie der Mond, um heraufzustarren.

Zur Autorin

Elke Schmitter ist Schriftstellerin und Kultur­journalistin. Sie war unter anderem Chef­redaktorin bei der TAZ und Leiterin des Kultur­ressorts beim «Spiegel». Im Juni 2022 wurde sie in das Führungs­gremium des neu gegründeten PEN Berlin gewählt. Sie hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und ist Co-Heraus­geberin des Bandes «100 Autorinnen in Porträts. Von Atwood bis Sappho, von Adichie bis Zeh», zu dem sie unter anderem einen Beitrag über Sylvia Plath beisteuerte. Auf diesem früheren Kurzporträt baut die Darstellung für die Republik auf, sie enthält auch Passagen daraus.

Zum Weiterlesen

Sylvia Plath: «Das Herz steht nicht still. Späte Gedichte 1960–1963». Zweisprachige Ausgabe. Herausgegeben, aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Judith Zander. Suhrkamp, Berlin 2022. 224 Seiten, ca. 31 Franken.

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