Erfolgsquote: 1 Prozent
Befristungen, Teilzeitpensen und Abhängigkeit – die Arbeitsbedingungen für Nachwuchsforscherinnen an Schweizer Unis sind prekär. Nun gibt es erstmals genaue Daten zu ihrer Situation.
Von Cornelia Eisenach, 17.10.2022
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PCR, mRNA und Spike-Protein. Vor ein paar Jahren hätten diese Begriffe wohl nur Achselzucken ausgelöst. Heute gehen sie so leicht von der Zunge wie die Artikel auf unserer Einkaufsliste.
Das Wissen, das hinter diesen Begriffen steckt, ist das Ergebnis jahrzehntelanger Entdeckerarbeit, die eine Vielzahl von Forscherinnen geleistet haben. Doch oft arbeiten genau diese Forschenden unter miserablen Bedingungen. Sie sind wie die Bergarbeiter, die für uns den Schatz des Wissens heben und die wir als Dank im dunklen, staubigen Schacht zurücklassen.
Falls Ihnen das zu pathetisch ist, werfen Sie einen Blick auf die nüchternen Zahlen. Eine Aufschlüsselung des Bundesamtes für Statistik (BFS) zum Personal an universitären Hochschulen für das Jahr 2021 zeigt: Unter den «Assistierenden und wissenschaftlichen Mitarbeitenden» hatten in der Schweiz nur 9 Prozent eine feste Stelle. 91 Prozent waren befristet angestellt, also ohne Festanstellung, wie der helle Balken in der unten stehenden Grafik zeigt.
Der Nachwuchs hat keine feste Stelle …
Anstellungsstatus nach Personalkategorie an universitären Hochschulen 2021
Quelle: BFS.
Gleichzeitig stemmen diese «Assistierenden und wissenschaftlichen Mitarbeitenden» den Grossteil der Forschung, wie ein weiterer Datensatz des BFS zeigt.
… und leistet einen Grossteil der Forschungsarbeit
Verwendung der Arbeitszeit nach Personalkategorie in Prozent an universitären Hochschulen 2021
Quelle: BFS.
Ein Teil dieser Gruppe von Forschern des sogenannten Mittelbaus sind Postdocs. Sie haben promoviert und halten an der Universität die Forschung und oft auch die Lehre am Laufen. Sie schreiben Förderanträge, publizieren Studien, betreuen Doktorandinnen, geben Seminare und sind dabei oft abhängig von der Gunst eines Lehrstuhlinhabers.
Ob sie jemals eine feste Stelle in der Akademie bekommen – und wenn ja, wo –, ist trotz aller Anstrengung ungewiss. Eine akademische Karriere läuft fast zwangsläufig auf eine Professur hinaus. Unterhalb dieser Stufe gibt es kaum unbefristete Stellen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) spricht von einem «Forschungsprekariat».
Postdoc-Karrieren
Mittelbauvereinigungen fordern deshalb, mehr unbefristete Stellen für Postdocs zu schaffen (siehe Infobox). Ein Bericht des Schweizerischen Wissenschaftsrats (SWR) zur Situation des Mittelbaus an Schweizer Hochschulen sollte dieses Anliegen prüfen. Er liegt nun vor.
In der Schweiz verfolgen gleich zwei Petitionen das Anliegen, die Situation von Postdocs zu verbessern: eine von Mittelbauvereinigungen und eine von der Frauensession 2021. Sie fordern, dass mehr feste Stellen für Postdocs geschaffen werden.
Die Petitionen hat die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrats aufgegriffen und im April 2022 ein Postulat eingereicht. Dieses fordert vom Bundesrat unter anderem einen Bericht zur Situation des Mittelbaus und zu eventuellen Massnahmen zum Ausbau der Festanstellungen.
Dieser Bericht wurde vom Schweizerischen Wissenschaftsrat (SWR) erstellt.
Für den Bericht hat das BFS erstmals eine Schätzung der Anzahl der Postdocs vorgenommen. Bisher wurden diese teilweise in der übergeordneten Kategorie der «Assistierenden und Wissenschaftlichen Mitarbeitenden» erfasst. Doch nicht alle Postdocs sind darin enthalten, zum Beispiel jene, die ausserhalb der Universitäten, etwa an der Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa, arbeiten.
Die neuen Zahlen zeigen: In der Schweiz sind etwa 6600 Postdocs angestellt und jedes Jahr treten 1950 Postdocs eine Stelle neu an.
Wie die unten stehende Grafik zeigt, ist die Zahl der Postdocs in den Jahren seit 2014 um etwa 9 Prozentpunkte gestiegen, ähnlich stark wie die Zahl der Professuren.
Jedes Jahr mehr Postdocs
Entwicklung der Anzahl der Postdocs und Professoren von 2014 bis 2020
Quelle: Studie des SWR.
Dass die Daten nicht weiter zurückblicken, hat den Grund, dass das Bundesamt für Statistik erst seit 2014 Zahlen zu befristeten Stellen erhebt – ein entscheidendes Merkmal, das notwendig ist, um Postdocs zu identifizieren.
Allerdings entsteht der Eindruck, dass sich das Verhältnis zwischen Postdocs und Professuren kaum verändert hat. Hier habe die Studie einen «blinden Fleck», kritisiert Martina von Arx, Co-Präsidentin der Mittelbauvereinigung Actionuni. Denn vor 2014 sei es bereits zu einem starken Anstieg des Mittelbaupersonals im Vergleich mit den Professuren gekommen. Ein Blick in die Daten zeigt, dass dies der Fall ist. Besonders im Zeitraum 2005 bis 2015 wuchs das Personal im Mittelbau stärker als die Professuren.
Zunahme des Mittelbaus ab Mitte der 2000er-Jahre
Entwicklung des Personals an universitären Hochschulen seit 2000
Quelle: BFS.
Was bedeutet das für die Karriereaussichten von Postdocs in der Schweiz? Dazu enthält der Bericht einen aufschlussreichen Datensatz. Der Weg von 2029 Postdocs, die 2015 eine Stelle antraten, wurde über einen Zeitraum von vier Jahren verfolgt: Nur ein Bruchteil dieser Postdocs fand eine feste Anstellung im akademischen Bereich. Es waren lediglich 9,4 Prozent, davon nahm 1 Prozent eine Professur an und 8,4 Prozent übernahmen eine andere Funktion in der Forschung an einer Schweizer Hochschule. 22,5 Prozent fanden eine Anstellung ausserhalb der Akademie. Von ihnen arbeiten 7 Prozent in den Bereichen Forschung, Entwicklung und Technologie.
Wo sind die Postdocs nach vier Jahren?
Aufgabenbereiche, in denen Postdocs nach vier Jahren tätig sind
Quelle: Studie des SWR.
Zusammengefasst: 16 Prozent der Postdocs hatten nach vier Jahren eine feste Stelle inne, die im weitesten Sinne mit Forschung zu tun hat, sei es innerhalb (9,4 Prozent) oder ausserhalb (7 Prozent) der Akademie.
Die Auswertung der Kohorte zeigte ausserdem, dass der Anteil von Teilzeitpensen innerhalb der vier Jahre zunahm. Zum Beispiel stieg der Anteil derjenigen, die mit einem Pensum von unter 60 Prozent angestellt waren, von 9 Prozent im Jahr 2015 auf 16 Prozent im Jahr 2020.
Unverzichtbare Ressource
Auf Grundlage der Daten des SWR-Berichts sowie qualitativer Erhebungen aus Workshops formulierte der Wissenschaftsrat konkrete Empfehlungen. Diese enthalten explizit keine Massnahmen zu einer Erhöhung der Festanstellungen für Postdocs, so wie es die Mittelbauvereinigungen gefordert hatten.
Stattdessen sollen die Nachwuchsforscherinnen unter anderem besser über ihre Karriereaussichten informiert und Weiterbildungsmöglichkeiten geschaffen werden. Unternehmertum und Anstellungen in Start-ups, die oft eng mit Forschung und Entwicklung verwoben sind, sollen gefördert werden. Ausserdem soll die Postdoc-Population in Zukunft vom BFS als eigenständige Kategorie erfasst werden.
Bei der Mittelbauvereinigung Actionuni ist man froh, dass eine bessere Datengrundlage geschaffen werden soll, aber dennoch enttäuscht über die Empfehlungen des Berichts, wie Co-Präsidentin Martina von Arx sagt.
Dass etwa die Anstellung in Start-ups als Alternative empfohlen werde, sei nicht nachvollziehbar. Schliesslich sei auch dies mit unsicheren Zukunftsaussichten und prekären Lebenssituationen verbunden.
Auch die Tatsache, dass der SWR-Bericht darauf verweist, dass ein Postdoc eine «Etappe des Lernens und der persönlichen Entwicklung» beinhalte und als «letzte Phase der wissenschaftlichen Ausbildung» betrachtet werden müsse, stösst auf Unverständnis. Im Gegenteil, Postdocs übernähmen oft auch Führungsrollen, so von Arx. «Auch bei einer Position in der Privatwirtschaft lernt man dazu und entwickelt sich weiter. Das kann kein Argument für eine befristete Anstellung sein.»
Nicht die Besten kommen weiter
Die Frage nach der Befristung ist dabei kein Luxusproblem von Gutgebildeten. Zwar ist die Idee: Der Wettbewerb unter den Postdocs um wenige Professuren fördert die Exzellenz. Das kann aber auch nach hinten losgehen.
Denn die Art und Weise, wie die akademische Laufbahn aufgebaut ist, bestimmt, welche Menschen sie verfolgen. Für Forscher, die wenig finanzielle Rücklagen haben, die Kinder erziehen, andere Care-Arbeit verrichten oder aus sonstigen Gründen auf stabile Berufsaussichten angewiesen sind, ist eine solche Laufbahn kaum attraktiv.
So entsteht eine Art Auswahlmechanismus. «Das bedeutet dann, dass nicht die besten Leute in der Forschung bleiben, sondern die, die es sich leisten können», sagt Actionuni-Co-Präsidentin von Arx. Und darunter leidet schlussendlich die Qualität der Forschung und damit die Gesellschaft, die diese bezahlt.
Ein Beispiel, das in diesem Zusammenhang schon lange bekannt ist, ist die «Leaky Pipeline»: Am Anfang der akademischen Laufbahn, während Schule und Studium, überwiegt der Anteil an Frauen. Dann, beim Übergang zum Postdoc und zur Professur, stürzt dieser Anteil regelrecht ab.
Es sind diese Übergänge, bei denen Frauen – oft aus Gründen der Familienplanung – die Wissenschaft verlassen.
Leaky Pipeline
Entwicklung des Anteils Frauen und Männer im Laufe der akademischen Karriere in Prozent
Quelle: BFS. «Stufe» bezieht sich auf die Seniorität oder die Hierarchie unter den Forschern in den Hochschulen. So sind Postdocs eher auf Stufe D, Professoren auf Stufe A angesiedelt.
Auch die Daten des SWR-Berichts zeigen: Männer sind mit 60 Prozent bei den Postdocs bereits übervertreten. Bei den Professoren, also denjenigen, die in der Grafik unter «Stufe A» aufgeführt wurden, manifestiert sich diese Diskrepanz noch deutlicher. Von ihnen sind 75 Prozent Männer.
Eine Erhöhung der Festanstellungen auf Postdoc-Stufe wäre eine Lösung, dem Leaky-Pipeline-Problem zu begegnen. Andere Empfehlungen, wie explizit mehr Gleichstellung erreicht werden kann, bleibt der Bericht aber schuldig.
Doch der Bericht ist noch nicht das Schlusswort. Es ist zu erwarten, dass die Botschaft zur Förderung von Bildung, Forschung und Innovation 2025–2028, die voraussichtlich Anfang 2024 verabschiedet wird, darüber aufklären wird, ob und wie sich die Struktur der akademischen Laufbahn in Zukunft ändert.
Und ob es für die Bergarbeiter des Wissens bald doch einen Lichtblick gibt.
Der Anteil derjenigen, die mit einem Pensum von unter 60 Prozent angestellt waren, stieg von 9 Prozent im Jahr 2015 (nicht 2005) auf 16 Prozent im Jahr 2020. Wir bedanken uns für den Hinweis aus der Verlegerschaft.