Das digitale Fiasko an den Berner Schulen
Die Stadt Bern wollte sich von Microsoft emanzipieren und an ihren Schulen auf freie Software setzen. Das Resultat: Chaos im Unterricht, wütende Lehrkräfte und Millionen Franken, verbrannt für nichts. Wie konnte das derart schieflaufen?
Von Thomas Schwendener (Text) und AHAOK (Illustration), 10.10.2022
Vorgelesen von Miriam Japp
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Als Manuel C. Widmer nach den Herbstferien 2019 ins Berner Schulhaus Tscharnergut zurückkehrte, lief überhaupt nichts mehr so, wie es sollte. «Man konnte nicht drucken, Daten gingen verloren, die neuen Tablets konnten nur teilweise benutzt werden, und schliesslich stotterte auch noch das Internet», erzählt der Primarlehrer. An regulären Unterricht war kaum zu denken.
Schuld daran war nicht etwa ein Virus. Und auch kein Angriff von Hackern. Sondern politischer Idealismus unter dem sperrigen Titel «Base4Kids2».
In diesem gross angelegten Projekt sollte die Bundesstadt eine schweizweit einmalige Digitalplattform und neue Geräte für den Lehrplan 21 erhalten. Doch beim «Leuchtturmprojekt», das auf weitere Städte hätte ausstrahlen sollen, gingen bald schon die Lichter aus. «Wir wurden als Versuchskaninchen für ein riesiges Experiment missbraucht», sagt Lehrer Widmer.
Nicht nur im Tscharnergut, sondern an allen Schulen der Stadt Bern konnte im Herbst 2019 über mehrere Wochen kaum noch normal gearbeitet werden. «Die Zeit war sehr kräftezehrend. Ich konnte den überforderten Kindern und Lehrkräften kaum helfen und musste meinen Aufwand im Unterricht herunterfahren, damit ich den Informatiksupport noch stemmen konnte», erzählt Martin Stegmann, Lehrer und IT-Beauftragter im Schulkreis Bern-Bethlehem.
Gut zwei Jahre später gab es von Berns Stadtpräsident Alec von Graffenried dafür eine Entschuldigung. Diesen Frühling räumte er ein, dass Base4Kids2 schwerwiegende Auswirkungen auf den Unterricht gehabt habe: «Das tut uns leid, das wollten wir nicht.» Zugleich musste sich der Politiker gegenüber der Stimmbevölkerung verantworten. Diese hatte im November 2018 rund 24,5 Millionen Franken für dieses Projekt bewilligt – vieles davon war nun verbrannt. Mehr noch: Es fielen Mehrkosten von fast 2,7 Millionen Franken an.
In der Öffentlichkeit wurde das Scheitern des Prestigeprojekts immer wieder mit den Problemen sogenannter quelloffener Software erklärt – also Open-Source-Computerprogramme, deren Code frei einsehbar und nutzbar ist. Im Gegensatz zu geschlossenen Systemen wie zum Beispiel Office von Microsoft.
Doch diese Erklärung greift viel zu kurz. Die politischen Anhänger des Open-Source-Paradigmas haben mit ihrem Tempo zwar tatsächlich viele überfordert. Doch der millionenteure Flop gründete auf Faktoren, die von den Verantwortlichen im Nachhinein gerne ausgeblendet werden. Mangelndes Know-how, fehlende Ressourcen und eine überforderte Projektleitung gehören dazu, aber auch krasse Interessenkonflikte bei Entscheidungen.
Diese Recherche, die auch auf Dokumenten basiert, die von der Republik mittels Öffentlichkeitsgesetz ans Licht gebracht werden, zeichnet nach, wie das Berner Leuchtturmprojekt zu einem Millionendebakel werden konnte.
Die ignorierte Empfehlung
Eigentlich hatte alles ziemlich hoffnungsvoll, ja geradezu visionär begonnen.
Das Stadtparlament wollte Bern 2017 zum Open-Source-Vorbild machen und wo immer möglich Abhängigkeiten von Google, Microsoft und Co. beseitigen.
Beim Geschäft für die dringend notwendige Ablösung der veralteten Schulinformatik stimmten die Parlamentarier mit bloss einer Gegenstimme (und sieben Enthaltungen) einer bemerkenswerten Passage in der Ausschreibung zu: «Base4Kids2 wird, wo immer eine gleichwertige Open-Source-Software (…) existiert, durchgehend mit Open-Source-Software umgesetzt.»
Die Chronologie des Berner Debakels
November 2015: Das Parlament will US-Software von Microsoft et cetera in der Stadtverwaltung reduzieren und gibt Analyse in Auftrag.
August 2016: Eine Studie im Auftrag der Bildungsdirektion warnt davor, für die Lernplattform Base4Kids2 an Berner Schulen eine Open-Source-Lösung für Office zu wählen. Empfehlung: Microsoft.
März 2017: Das Parlament folgt der Empfehlung nicht und spricht sich für eine Open-Source-Lösung an den Berner Schulen aus.
Frühjahr 2018: Softwareanbieter Abraxas setzt sich mit Offerte durch.
November 2018: Das Stimmvolk heisst Base4Kids2 mit mehr als 80 Prozent Zustimmung gut. Projektvolumen: 24,5 Millionen Franken.
Ebenfalls 2018: Erste Kritik vonseiten der Lehrer erreicht die Projektleitung. Der zuständige Steuerungsausschuss entscheidet, diese nicht gegen aussen zu kommunizieren.
Januar 2019: Softwareanbieter Abraxas warnt vor Engpässen, später vor zu hohen Aufwänden mit der Plattform. Empfiehlt zur Vereinfachung: Einsatz von Microsoft Office.
Frühjahr 2019: Steuerungsausschuss lehnt Base4Kids2 zweimal ab, weil das Projekt noch zu unfertig ist.
Herbst 2019: Einführung von Base4Kids2 mit mehr als 6000 Geräten gleichzeitig. Erhebliche Probleme mit der Anwendung des Open-Source-Office.
Ende 2019: Freischaltung der Microsoft-Office-Apps auf der Lernplattform. Projektleiter David Grolimund geht. Lehrern und Auftragnehmer Abraxas fehlt damit der Ansprechpartner.
Frühjahr 2020: Rund 2000 Geräte werden eingezogen, auf denen die Vorgängerplattform Base4Kids1 noch funktionierte. Das bringt weiteres Chaos.
Sommer 2020: Bildungsdirektorin Teuscher beauftragt Projektanalyse. Ergebnis: Situation «verfahren, aber nicht unlösbar».
Schon zwei Jahre zuvor hatte das Parlament der Regierung den Auftrag erteilt, für die Stadtverwaltung eine Strategie zur Ablösung von amerikanischen Produkten erarbeiten zu lassen. Im Jahr darauf wurde eine Analyse – Kostenpunkt 840’000 Franken – auf den Weg gebracht. Es ging darum, zu eruieren, was überhaupt auf Open-Source-Basis möglich wäre. Diese Potenzialanalyse erschien nach Verzögerungen erst im Frühling 2019.
Während die Analyse noch in Arbeit war, wurden an den Schulen bereits Fakten geschaffen und direkt Open-Source-Software priorisiert. Dabei war die Dimension dort mit 10’000 Schulkindern und 1500 Lehrkräften ungleich grösser als in der Berner Verwaltung.
«Ich habe nichts gegen Open Source, aber die Schule war einfach der falsche Ort für ein solches Experiment», sagt Primarlehrer Manuel C. Widmer, der als Mitglied der Grünen Freien Liste im Berner Stadtparlament politisiert und dieses seit Januar 2022 präsidiert.
Dabei hatte eine Technologiestudie, welche die Bildungsdirektion 2016 bei der Berner Beratungsfirma Sieber & Partners erstellen liess, um zu ermitteln, was man an Hard- und Software für Base4Kids2 nutzen könnte, vor einer Open-Source-Lösung für die Textverarbeitung gewarnt. Die Autoren empfahlen stattdessen Microsoft-Software. Diese, argumentierten sie, sei stabil und Lehrkräften wie Schülern bekannt.
Das Stadtparlament folgte den Empfehlungen der Studie nicht. Und votierte für den Vorrang von Open Source. Dabei spielte ein politischer Protagonist im Hintergrund eine entscheidende Rolle. Doch dazu später mehr.
Die Beschaffung der Lernplattform sei rechtlich korrekt durchgeführt worden, heisst es in einem Untersuchungsbericht zum Base4Kids2-Flop, den der Berner Rechtsanwalt Ueli Friederich im Auftrag der Berner Stadtregierung erstellte. Darin steht auch, «dass sich alle mit dem Projekt direkt Befassten in der Pflicht sahen, möglichst Open-Source-Software-Lösungen zu verwenden».
Im Frühling 2018 setzte sich der Softwareanbieter Abraxas knapp gegen zwei Konkurrenten durch und erhielt mit drei Partnerfirmen den Auftrag für die Plattform.
Ein krasser Interessenkonflikt
Die Abraxas-Offerte überzeugte die Projektverantwortlichen unter anderem deshalb, weil sie auch iPads von Apple als Hardware-Ausrüstung beinhaltete. Die iPads sollten knapp 3,2 Millionen Franken, das Zubehör 239’000 Franken kosten. Dieses stellte sich später als mangelhaft heraus. «Die Eingabestifte und die Kopfhörer waren von schlechter Qualität. Ich habe im ersten Jahr bestimmt 60 bis 70 defekte Kopfhörer zurückgeschickt», sagt der Lehrer und IT-Beauftragte Martin Stegmann.
Doch in der Abstimmungsbroschüre für den Projektkredit, der 2018 an alle Berner Haushalte verschickt wurde, klang das alles noch schön und gut und überzeugend. Über 80 Prozent der Berner Stimmberechtigten votierten im November für den Millionenkredit. Bereits im darauffolgenden Schuljahr, versprach die Berner Regierung in den Unterlagen zur Abstimmung, sollten Lehrer und Schülerinnen die moderne Lernplattform nutzen können.
Ein ausgesprochen ambitionierter Zeitplan. Zu ambitioniert, wie sich bald herausstellen sollte.
Im Frühling 2019 lehnte der Steuerungsausschuss die offizielle Abnahme von Base4Kids2 zweimal ab, weil das System noch unfertig war.
Noch hätte die Stadt Bern aus dem Vertrag aussteigen können.
Doch das oberste Projektgremium dachte nicht daran, was auch an einer problematischen Konstellation lag: Darin sass mit Peter Baumberger nämlich ein Geschäftsleitungsmitglied der Firma Abraxas. Brisant: Baumberger hatte im fünfköpfigen Steuerungsausschuss sogar Stimmrecht und konnte über Fragen mitentscheiden, die seine eigene Firma betrafen. Laut dem Untersuchungsbericht Friederich soll er auch am Entscheid beteiligt gewesen sein, in dem es um die Abnahme und einen möglichen Vertragsrücktritt ging.
Peter Baumberger, so steht es im Bericht, «wirkte insbesondere auch bei Beschlüssen mit, die nicht einstimmig zustande kamen und in denen durch Abraxas geltend gemachte Kosten zu beurteilen waren».
Der Steuerungsausschuss liess sich von den zunehmenden Sachzwängen und dem finanziellen Druck beeinflussen. Die Stadt hatte zu diesem Zeitpunkt bereits 2,4 Millionen Franken ausgegeben und iPads für über 1 Million Franken bestellt, wie aus einem Bericht der Projektleitung von April 2019 hervorgeht, den die Republik via Öffentlichkeitsgesetz von der Bildungsdirektion angefordert hat. Darin heisst es: «Der Zeitverlust für die Initialisierung eines neuen Projekts würde 2 bis 3 Jahre betragen, in denen die Schulen über keine (…) funktionierende Informatik verfügen.»
Also beschlossen die Verantwortlichen, die neue, kaum getestete Plattform im Herbst 2019 in Betrieb zu nehmen.
Wut und Chaos in den Schulzimmern
Die neue Infrastruktur mit über 6000 Geräten für die Schulkinder wurde auf einen Schlag in der ganzen Stadt eingeführt – ohne vorgängigen Pilotbetrieb.
Auch davor hatte die 2016 erstellte Studie von Sieber & Partners gewarnt.
Wie befürchtet funktionierte das System nach der Einführung nicht richtig, zentrale Applikationen waren instabil, und auch die Schulung der Lehrkräfte war nicht abgeschlossen. Die Schulen gerieten in eine Spirale aus Softwareproblemen, Anwendungsschwierigkeiten – und frustrierter Verweigerung.
Die zuständigen Stellen waren zum Zeitpunkt der Einführung nur schwer zu erreichen, der Support heillos überfordert. Im Schulamt hätten sich die Hilfsanfragen «aufgetürmt», steht dazu im Bericht Friederich. Die Lehrkräfte und die lokalen Informatikzuständigen mussten sich selbst zu helfen wissen.
«Wir standen wie Deppen vor den Schulklassen, nicht mal die einfachsten technischen Aufgaben konnten wir erledigen», sagt Manuel C. Widmer. Das sei eine höchst zermürbende Situation gewesen, sagt auch Martin Stegmann: «Die Schülerinnen wieder konzentriert in den Unterricht zu kriegen, kostete enorme Kraft.» Erzürnte Lehrkräfte schrieben Anfang November 2019 einen Brief an die Bildungsdirektion, in dem es hiess: «Die Lehrkräfte werden über alle Massen belastet und der Unterricht beeinträchtigt.»
Konfrontiert mit der Wut in den Klassenzimmern, vollzog das Schulamt eine radikale Kehrtwende. «Wir werden noch vor Jahresende auf der Informatikplattform von Base4Kids2 die Apps für Microsoft Word, Excel und Powerpoint aufschalten», schrieb das Amt in einem Schreiben an die Schulen.
Ein herber Rückschlag für die Open-Source-Verfechter in der Berner Politik.
«Katapultation ins Mittelalter»
Wie konnte es so weit kommen? Die offizielle Erklärung für das Debakel lautet: Fehlende Projektressourcen, kombiniert mit einem «hochkomplexen technologischen Quantensprung», und nicht vorherzusehende Ereignisse seien der Grund für das Scheitern, sagt Sven Baumann, Co-Generalsekretär der Bildungsdirektion.
Mitten im Chaos verliess der technische Projektleiter David Grolimund das Schulamt Ende 2019. Gleichzeitig wurde auch noch Irene Hänsenberger pensioniert, langjährige Leiterin des Schulamtes und offiziell mit dem Projekt betraut. Ein «Kompetenzvakuum» entstand, wie die grüne Bildungsdirektorin Franziska Teuscher später vor den Medien einräumte. Laut Bericht Friederich hatte der Abgang von Grolimund «besonders dramatische» Auswirkungen. Mit seinem Abgang fehlte sowohl den Lehrkräften als auch Auftragnehmer Abraxas der operative Ansprechpartner.
Die Lage verschärfte sich durch einen verheerenden Entscheid in Sachen Hardware.
Die Lehrkräfte arbeiteten zu diesem Zeitpunkt vor allem mit eigenen Geräten oder Laptops aus dem Vorgängerprojekt Base4Kids1. Im Mai 2020 wurde dann die Direktive ausgegeben: Die rund 2000 alten Geräte sollten noch vor den Sommerferien wieder zurückgegeben, die Server abgeschaltet werden.
«Als die Geräte eingezogen wurden, brach das Chaos erst richtig los. Ich wurde immer häufiger in gehässigem Ton angegangen», erzählt Martin Stegmann, der versuchte zu retten, was zu retten war. Weil er wissen wollte, ob diese Stimmen nur eine laute Minderheit darstellten, startete er im Schulkreis Bethlehem eine Umfrage unter den Lehrpersonen. Insbesondere Collabora, die Open-Source-Alternative zu Microsoft Office, fiel komplett durch. Wie gross die Wut war, lässt sich an den meist wütenden Schlussbemerkungen in 110 der rund 140 Rückmeldungen erahnen. «Katapultation ins Mittelalter!!!» oder «Darf ich nicht schreiben. *******», heisst es dort etwa.
Bildungsdirektorin Teuscher beauftragte im Sommer 2020 die Informatikfirma Mabuco mit einer unabhängigen Projektanalyse. Die Gutachter bilanzierten im Herbst: Die Situation sei «verfahren, aber nicht unlösbar».
Im Bericht ist von einem «Graben zwischen den Lehrpersonen und dem Schulamt und dem Lieferanten Abraxas» die Rede. Manche Lehrkräfte hätten sich Base4Kids2 zunehmend verweigert mit Aussagen wie: «Kommen Sie nicht schon wieder mit Schulungen, sondern mit einem funktionierenden Produkt.» Teuscher zog aufgrund des Berichts die Notbremse und gab bekannt, das Projekt werde personell und organisatorisch neu aufgestellt.
Eine externe Projektleitung wurde eingesetzt, der Vertrag mit Abraxas um ein Jahr auf Mitte 2023 verkürzt und die Bezahlung der Firma reduziert. Was allerdings die Kosten nicht kleiner machte: Ein Nachkredit über rund 2,7 Millionen Franken wurde nötig, um mehr Ressourcen für das Projekt zu beschaffen.
Doch wer trägt die Verantwortung für die versenkten Millionen?
Ein führungsloses Projekt
Die Allgemeinplätze aus der Bildungsdirektion mögen korrekt sein, doch damit werden Missstände und Verantwortlichkeiten in den eigenen Reihen ausgeblendet. So etwa das Fehlen einer externen Projektleitung, wie im Untersuchungsbericht von Ueli Friederich festgehalten wird.
Jörg Moor, der damalige stellvertretende Leiter des Schulamts, hatte 2018 beim Start der Umsetzung die Projektleitung inne. Er konnte jedoch gerade mal 5 Prozent seines Pensums für das 24-Millionen-Projekt aufwenden. Das habe bloss für das Management von Finanzen, Kommunikation und die Vertretung gegenüber dem Steuerungsausschuss sowie die Bearbeitung politischer Anträge gereicht, sagt Jörg Moor zur Republik. Faktisch übernahm der technische Leiter David Grolimund die Projektleitung seitens des Schulamtes.
Grolimund hatte zwar eine Ausbildung für Projektmanagement, doch weder hatte er jemals ein so komplexes Projekt geleitet, noch hatte er Erfahrung mit Open-Source-Software. Der ehemalige Lehrer war von Anfang an überlastet und sein Know-how für ein derart komplexes Unterfangen unzureichend, wie im Bericht Friederich festgehalten wird. Die beiden städtischen Projektleiter scheuten sich jedoch, zusätzliche Ressourcen zu beantragen. Zwar wurde das Pensum von Grolimund aufgestockt, aber aufgrund einer damals laufenden Spardebatte hielt man sich mit weitergehenden Forderungen zurück.
Als Grolimund mitten im Chaos das Schulamt auf Ende 2019 verliess, heuerte er ausgerechnet bei Adfinis an, jenem der drei Projektpartner von Abraxas, der für die Entwicklung des scharf kritisierten Collabora zuständig war.
Der Auftragnehmer, der sich selber kontrolliert
Auch die IT-Firma Abraxas spielt eine unrühmliche Rolle im Berner Open-Source-Debakel. Bereits im Januar 2019 warnte die Firma, dass Engpässe drohen. Im Frühling 2019 monierte Abraxas-Projektleiter Erwin Ochsner die grossen Aufwände durch die neue Plattform und die zu geringen Ressourcen beim Schulamt. Man habe zur Vereinfachung immer wieder Microsoft Office empfohlen, was aber aufgrund der politischen Vorgaben nicht gewünscht gewesen sei, erklärten Abraxas-Vertreter gemäss Bericht Friederich. Die Leitung des Projekts sei immer mehr zu Abraxas «gerutscht», gibt die Firma dort zu Protokoll, das sei «schwierig und eigentlich nicht wünschenswert».
Fragwürdig war vor allem die bereits erwähnte Konstellation mit Abraxas-Geschäftsleitungsmitglied Peter Baumberger im Steuerungsausschuss des Projekts. Davon ist nach «Hermes» – einer bewährten Projektmanagementmethode des Bundes – aus gutem Grund eher abzusehen. Doch weder beim IT-Unternehmen selbst noch bei der Stadt sah man dies als Problem.
Der untersuchende Jurist Friederich bilanziert, Baumberger hätte zwingend in Ausstand treten müssen. Wie konnte diese Verletzung von profunden Corporate-Governance-Prinzipien passieren? «Wie es genau dazu gekommen ist, kann nicht abschliessend beantwortet werden», heisst es dazu im Bericht.
Aus Protokollen geht indes hervor, dass bereits im Jahr 2018 seitens der Lehrerschaft Kritik am Projekt Base4Kids2 geäussert wurde, der Steuerungsausschuss aber beschloss, diese nicht gegen aussen zu kommunizieren. Im Stadtparlament mutmasste Stadträtin Milena Daphinoff (Mitte), dass der Einsitz des Abraxas-Managers im Ausschuss dazu geführt habe, dass die Probleme des Projekts bis im November 2019 heruntergespielt worden seien.
Tatsächlich liegen der Republik E-Mails vor, in denen Abraxas-Projektleiter Ochsner während des Aufruhrs in den Klassenzimmern im Herbst 2019 schrieb: «Man hört unzufriedene Lehrpersonen, Schulleitungen. Was wir nicht hören, sind diejenigen, die die Plattform und die vorhandenen Mittel erfolgreich einsetzen.» Laut Untersuchungsbericht glaubte Ochsner noch im Februar 2020, dass es bloss gezielte Schulung brauche, damit man die Schulen ins Boot holen könne, denn schliesslich sei die Plattform «gut».
Die IT-Firma wollte die Affäre auf Anfrage der Republik nicht kommentieren. Die Medienabteilung merkte jedoch schriftlich an, Base4Kids2 habe gleich mehrere Stufen der digitalen Transformation übersprungen und könne nicht als «gescheitert» bezeichnet werden.
Auf die Bewerbung ihrer Plattform verzichtet Abraxas allerdings inzwischen.
Was die politischen Verantwortlichen sagen
Weshalb sich die Verantwortlichen im Schulamt oder in der Bildungsdirektion über mehrere Empfehlungen aus der Technologiestudie von Sieber & Partners hinwegsetzten, blieb bisher weitestgehend im Dunkeln. Dort war für Microsoft 365 votiert und vor einem Rollout auf einen Schlag gewarnt worden. Man sei unter enormem politischem Druck gestanden, möglichst auf quelloffene Software zu setzen, sagt Schulamtsleiter Jörg Moor gegenüber der Republik. Die Inbetriebnahme des gesamten Systems erfolgte zudem unter hohem Zeitdruck.
Doch bis zur Eskalation im Herbst 2019 und zu der 180-Grad-Kehrtwende hin zu Microsoft wollen sämtliche Entscheidungsträgerinnen, welche die Verantwortung innehatten, keine ernsthaften Probleme registriert haben.
Irene Hänsenberger, die Leiterin des Schulamtes und innerhalb ihres Amtes die oberste Verantwortliche für das Projekt, traf sich zwar regelmässig mit Bildungsdirektorin Franziska Teuscher. Sie habe diese jeweils über den Projektverlauf informiert. Im Bericht Friederich wird sie wie folgt zitiert: «Die Probleme waren wirklich erst nach dem Rollout greifbar.» Die Schulamtsleiterin erfuhr demnach vom Ausmass der Probleme nicht etwa von ihrem Amt oder aus den Schulen direkt, sondern von Sven Baumann, Co-Generalsekretär der Bildungsdirektion.
Sven Baumann wurde im Spätherbst 2019 zu einer Krisensitzung des Steuerungsausschusses eingeladen. «Mittlerweile scheint es offensichtlich zu sein, dass eine Krise vorliegt», schrieb er damals in einer E-Mail, in der er die weitere Nutzung der Vorgängerinfrastruktur Base4Kids1 forderte: «Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.» Baumann erklärt gegenüber der Republik, seine Direktion habe umgehend reagiert und Verbesserungen in die Wege geleitet, als sie von den Problemen Kenntnis erhalten habe.
Bildungsdirektorin Franziska Teuscher behauptet, nicht ausreichend informiert worden zu sein. Von der Firma Abraxas sei sie nie kontaktiert worden, um über die Pannen ins Bild gesetzt zu werden, erklärte Teuscher.
Der Open-Source-Turbo im Hintergrund
Wann immer es um das Thema Open Source geht, fällt ein Name: Matthias Stürmer, langjähriger Präsident des Open-Source-Vereins CH Open und bis 2019 Stadtrat im Berner Parlament. Der heutige Leiter des Instituts Public Sector Transformation der Berner Fachhochschule (BFH) war im Parlament Wortführer und oberste fachliche Autorität in Sachen Open Source.
Aus dem Untersuchungsbericht Friederich geht hervor, dass Stürmer im Herbst 2016 den Studienautoren von Sieber & Partners geraten hatte, die Empfehlung für Microsoft Office aus der Studie zu löschen. Laut Projektleiter Jörg Moor wandte er sich auch sonst mehrfach ans Schulamt, um politisch Druck für eine Open-Source-Lösung zu machen.
Aufgrund seines Einflusses und seiner Kompetenzen sollte der EVP-Politiker enger ins Projekt eingebunden werden. Ende 2018 wurde ein Base4Kids2-Round-Table mit Stürmer durchgeführt. Im Protokoll heisst es, man solle ihn regelmässig über den Stand der Dinge informieren. Allerdings sei sein Einbezug in den Projektausschuss wegen der Gewaltentrennung zwischen Legislative und Exekutive schwierig. Ab diesem Zeitpunkt, sagt Stürmer gegenüber der Republik, stagnierte der Informationsfluss. Er habe erst in einem Telefongespräch mit Schulamtsleiterin Hänsenberger von den Problemen erfahren. «Aber da war schon zu viel schiefgelaufen», fügt er an.
Stürmer sagt rückblickend: «Ja, ich habe Open Source politisch gefordert, diesbezüglich nehme ich die volle Verantwortung auf mich.» Der BFH-Professor will die quelloffene Software allerdings nicht als Grund für das Fiasko gelten lassen – nicht ansatzweise: «Das ist bloss ein Teilaspekt, der nun populistisch ausgeschlachtet wird. Bern hätte Open-Source-Pionierstadt werden können, wenn das Projekt professionell durchgeführt worden wäre.»
Für Stürmer liegt das Versagen bei der Projektleitung und der Firma Abraxas.
Die Aufarbeitung
Die diversen Untersuchungsberichte zur Affäre kommen ebenfalls zu einem differenzierten Urteil: Open Source sei nicht die Ursache des Debakels, habe aber das Problem verschärft, lautet der Tenor.
Vor allem wegen der politischen Präferenzen im Parlament habe man einen offenen Quellcode «höher gewichtet als sämtliche anderen Aspekte wie Funktionalität, zusätzlich benötigter Aufwand für Adaption, die Wartung bzw. der Support und die Weiterentwicklung der Komponente», heisst es im technischen Bericht der IT-Beraterfirma Mabuco.
Die Argumente gegen die Abhängigkeit von marktbeherrschenden Konzernen sind begründet. Allerdings muss auch der politische Entscheid für quelloffene Software kritisch beurteilt werden. Gut gemeinte Absichten und Wunschdenken siegten über Pragmatismus und führten zum Debakel.
Diesen Frühling wurde der Base4Kids2-Flop im Stadtberner Parlament heftig diskutiert und von allen politischen Lagern kritisiert. Die Mitte Stadt Bern prangerte in einem Communiqué die Taktik des «bodenlosen Portemonnaies» an, die man mit der «linksgrün-dogmatischen Sonderlösung» – der Open-Source-Software – gewählt habe.
Die Ratslinke wollte in einer Interpellation die strategischen Folgen des Projekts erfahren. Darin warnt sie, man dürfe sich nun nicht wieder in die Arme von Microsoft, Google und Co. begeben, stattdessen sollten die Open-Source-Ressourcen verbessert werden. Die Regierung antwortete, Open Source gewinne in der Verwaltung an Boden, es gebe keine Strategieumkehr.
Doch die politischen Open-Source-Verfechter wollen das nicht recht glauben.
Die Opposition gegen den Microsoft-Kurs sei kleinlaut geworden, stellt BFH-Professor Matthias Stürmer fest: «Es ist schade, dass nun ein schlechtes Licht auf Open Source fällt, obwohl die Fehler woanders gesucht werden müssen.»
Ähnlich sieht es auch Halua Pinto de Magalhães, einer der Initianten der Interpellation. Die Stimmung im Stadtrat sei gekippt, sagt der SP-Politiker. Dafür macht er zwar auch Entwicklungen wie den allgemeinen «Gang in die Cloud» der Big-Tech-Firmen verantwortlich, wie etwa im Kanton Zürich oder in der Bundesverwaltung. Aber das gescheiterte Projekt färbe deutlich ab. Über Jahre habe man die Dominanz der US-Technologiekonzerne politisch zurückdrängen können. Dies sei nun vorbei, sagt Pinto de Magalhães.
«Klar, neue Technologien sind ein Risiko, wenn sie aber erfolgreich sind, sagt niemand etwas. Erst wenn ein Projekt scheitert, gibt man Open-Source-Software die Schuld. ‹Nobody ever got fired for buying Microsoft›», bilanziert Matthias Stürmer. Wobei anzufügen ist, dass auch der Berner 27-Millionen-Franken-Flop ausser für die Steuerzahlerinnen für niemanden wirklich Folgen hatte.
Die beinahe revolutionäre Stimmung von 2017 ist in Bern auf jeden Fall verflogen. Das Stadtberner Parlament stimmte im Januar 2022 einem Kredit zu, mit dem in der städtischen Verwaltung Microsoft-fremde Applikationen «wo möglich durch funktionsgleiche Applikationen aus dem Microsoft-365-Portfolio ersetzt werden» sollen. Derzeit laufen Arbeiten für Base4Kids3, das nun zu einer reinen Microsoft-Plattform werden könnte.
Über den Kredit für das neue Projekt wird wieder die Stimmbevölkerung befinden. Es soll kein «Quantensprung» mehr sein, erklärte Franziska Teuscher vor dem Parlament. Die Regierung rechnet dennoch mit rund 9 Millionen Franken für die Beschaffung für die nächsten beiden Jahre.
Immerhin muss dafür diesmal kein Informatikleuchtturm gebaut werden.
Und wie sieht inzwischen die Situation an den Berner Schulen aus? Die Lehrkräfte arbeiten heute grossteils mit eigenen Geräten, wofür sie eine Kompensation von maximal 400 Franken alle zwei Jahre erhalten. Die «nicht funktionsfähige und nicht benutzergerechte OSS-Plattform», wie es die Regierung im Nachtragskredit formuliert hat, wurde mit Microsoft-Software ersetzt. Seit diesem Sommer werden auch der Kommunikationsdienst Teams und der Cloudspeicher Onedrive des US-Konzerns angeboten.
Bloss das Druckproblem ist bis heute nicht befriedigend gelöst. «Wir haben die dritte Druckerlösung im Einsatz. Und wir hoffen, dass dann die vierte wirklich funktioniert», sagt der IT-Beauftragte Martin Stegmann. Es gebe noch viel zu tun. «Während ich dem System 2019 eine Zweieinhalb gegeben hätte, gibt es nun eine knappe Vier», bilanziert Lehrer Manuel C. Widmer.
Thomas Schwendener ist Redaktor des Fachmagazins «Inside IT». Er schreibt zudem als freier Journalist über Technologie und Wirtschaft.