Armutszeugnis
Auch in einem reichen Land wie der Schweiz gibt es Menschen, die in Armut leben. Und es werden immer mehr. Besonders gefährdet sind Ältere und Frauen.
Von Sharon Funke, 10.10.2022
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Erst gerade hat die Schweiz über eine Reform der AHV abgestimmt. Im Abstimmungskampf rückte auch das Thema Altersarmut einmal mehr in den öffentlichen Diskurs. Die Diskussion zu diesem Thema wird leider nie alt.
Besonders Frauen riskieren, im Alter zu verarmen. Aber nicht sie allein.
Zeit, der Armut ein Datenbriefing zu widmen: Wie viele Menschen sind in der Schweiz von Armut betroffen? Wie viele sind gefährdet, in die Armut zu rutschen? Und was bedeutet es überhaupt, in der reichen Schweiz arm zu sein?
Das Bundesamt für Statistik (BFS) gibt jährlich Zahlen zur Armutssituation heraus. Sie stützen sich für die Armutsmessung auf eine europaweit koordinierte Erhebung, die in über 30 Ländern Europas durchgeführt wird.
Armut kann anhand von verschiedenen Kriterien gemessen werden. In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf das verfügbare Einkommen als Gradmesser. Vermögensbestände sind in den Daten nicht berücksichtigt.
Auch die Armut kennt Abstufungen, man spricht von absoluter und relativer Armut. Bei der absoluten Armut wird eine fixe Grenze bestimmt, ab der Grundbedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können. Absolut armen Menschen steht weniger als das Existenzminimum zur Verfügung.
Bei der relativen Armut wird das Einkommen in Relation gestellt zum Einkommen der restlichen Bevölkerung. Eine Rentnerin kann für Schweizer Verhältnisse arm sein, auch wenn sie ein Mehrfaches an Einkommen erhält im Vergleich zu Menschen in Ländern mit niedrigen Lebenshaltungskosten. Relative Armut drückt sich etwa darin aus, dass die soziale und kulturelle Teilhabe aufgrund der knappen finanziellen Möglichkeiten eingeschränkt ist. Man spricht hier von Armutsgefährdung.
Armutsbetroffene in der Schweiz
Die letzten verfügbaren Daten zur Armut in der Schweiz stammen aus dem Jahr 2020, wurden also um den Beginn der Pandemie erhoben. Zu diesem Zeitpunkt waren 8,5 Prozent der Schweizer Bevölkerung von Armut betroffen.
Das entspricht 722’000 Menschen.
Diese Armutsquote scheint für ein reiches Land wie die Schweiz erstaunlich hoch, zudem ist sie in den vergangenen Jahren angestiegen. 2014 lag sie noch bei 6,7 Prozent. Es läuft zwar ein nationales Programm zur Bekämpfung von Armut, der Bund ist dabei allerdings nur in einer unterstützenden Rolle aktiv. Die konkreten Massnahmen werden von den Kantonen und Gemeinden erarbeitet. Die Caritas Schweiz forderte deshalb 2019 eine nationale Strategie mit verbindlichen Massnahmen und Zielen.
Als arm gelten gemäss diesem Programm Personen, die in einem Haushalt mit einem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze leben. Die Armutsgrenze wiederum berechnet sich anhand eines Grundbedarfs, den die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) definiert. Dazu zählen unter anderem Ausgaben für Nahrungsmittel, Kleidung und Verkehr. Auch die durchschnittlichen Wohnkosten werden eingerechnet, weiterhin ein Betrag für notwendige Auslagen wie Versicherungen.
Das Bundesamt für Statistik schlüsselt die Armutsquote nach verschiedenen Merkmalen auf: unter anderem Alter, Geschlecht, Haushaltstyp, Sprachregion, Haupteinnahmequelle des Haushalts. Die Quote gibt an, wie viel Prozent dieser Bevölkerungsgruppe von Armut betroffen sind.
Pro Haushaltstyp gelten unterschiedliche Armutsgrenzen. Für Einpersonenhaushalte lag die Grenze 2020 durchschnittlich bei einem Einkommen von 2279 Franken, bei Paaren mit 2 Kindern unter 14 Jahren bei 3963 Franken pro Monat.
Nach Alter aufgeschlüsselt zeigen die Zahlen deutlich, dass Menschen über 65 in der Schweiz häufiger als jüngere wenig zum Leben zur Verfügung haben. Sprich, Altersarmut ist in der Schweiz ein Thema.
Zum besseren Vergleich greifen wir drei weitere Merkmale aus der Erhebung heraus: Geschlecht, Bildungsstand und Haushaltstyp.
Wir sehen: Ähnlich hohe Armutsquoten wie bei den über 65-Jährigen gibt es auch bei den Einelternhaushalten, also zum grossen Teil bei Alleinerziehenden. Das sind in der Schweiz vor allem Frauen. Anders ausgedrückt: Alleinerziehend zu sein, macht einen Grossteil des Armutsrisikos für Frauen aus. Dies kann sich wiederum auf die Altersvorsorge auswirken und so das Risiko für Armut im Rentenalter vergrössern.
Ein weiterer Risikofaktor für Armut ist ein tieferer Bildungsstand, denn je höher der formale Bildungsstand, desto tiefer die Armutsquote. Beim Geschlecht ist der Unterschied insgesamt nicht allzu gross, auch wenn Frauen etwas häufiger von Armut betroffen sind als Männer. Das zeigt: Frauen sind nicht per se armutsgefährdet, es sind vor allem bestimmte Lebensumstände, die als Risikofaktoren wirken.
Armutsgefährdung in der Schweiz und in Europa
Als armutsgefährdet gelten Personen, deren Einkommen wesentlich tiefer ist als das der Gesamtbevölkerung. Die Europäische Union legt die Armutsgefährdungsgrenze auf 60 Prozent des Medianäquivalenzeinkommens fest.
In der Schweiz liegt diese Grenze bei 2506 Franken pro Monat für Einzelpersonen, für Paare mit 2 Kindern unter 14 Jahren bei 5263 Franken. Im Jahr 2020 lag die Quote armutsgefährdeter Personen insgesamt bei 15,4 Prozent, also fast doppelt so hoch wie die Armutsquote. Die Tendenz ist auch hier in den letzten Jahren steigend.
Wie oben bei der Armutsquote schauen wir auch hier genauer auf die Verteilung bezüglich Altersgruppen, Geschlecht, Bildungsstand und Haushaltstyp.
Jugendliche unter 18 Jahren sind fast genauso häufig armutsgefährdet wie ältere Menschen. Dies hängt damit zusammen, dass Kinder von Alleinerziehenden meistens bei ihren Müttern leben und diese wiederum überdurchschnittlich häufig über ein geringes Einkommen verfügen.
15,4 Prozent armutsgefährdete Personen in der Schweiz, das bedeutet fast ein Sechstel der Bevölkerung. Noch einmal: Das ist nicht gerade wenig für ein reiches Land.
Im europäischen Vergleich liegt die Schweiz im Jahr 2020 mit diesen Zahlen etwa in der Mitte – kurz vor unserem Nachbarn Deutschland, aber hinter Österreich, Frankreich, den Niederlanden oder Dänemark. In Tschechien liegt die Armutsgefährdungsquote mit 9,5 Prozent am tiefsten, in Bulgarien mit knapp 24 Prozent am höchsten.
Das Statistische Amt der Europäischen Union (Eurostat) stellt auch eine Auswertung der Armutsgefährdung aufgeschlüsselt nach Geschlecht und Alterskategorie zur Verfügung. Der Unterschied zwischen Frauen und Männern ist bei den Senioren in der Schweiz besonders frappant. Ähnliches gilt auch für unsere Nachbarländer Österreich und Italien. In Deutschland ist der Unterschied nicht ganz so hoch, existiert aber ebenfalls. Nur in Frankreich ist das Armutsrisiko bei unter 65-Jährigen höher als bei den Älteren, was unter anderem an der geringeren Teilzeitarbeitsquote bei Frauen sowie der hohen Kinderfremdbetreuungsrate liegen könnte.
Welche Effekte die aktuellen Krisen – Pandemie, Inflation, Energiekrise – auf die Armut haben, lässt sich noch nicht genau sagen. Für viele europäische Staaten sind zwar bereits Daten für das Jahr 2021 verfügbar. Ein Vergleich der Armutsgefährdungsquote von 2020 mit der von 2021 zeigt aber (noch) keine eindeutigen Pandemieeffekte: Teilweise ist die Quote gestiegen, teilweise gesunken. In unseren Nachbarstaaten unterscheiden sich die Entwicklungen ebenfalls: In Deutschland ist die Armutsquote beispielsweise um 0,3 Prozentpunkte gestiegen, in den anderen Nachbarländern jeweils um weniger als 1 Prozentpunkt gesunken.
Was aber klar ist: Auch in reichen Nationen wie der Schweiz ist ein erheblicher Teil der Bevölkerung von Armut betroffen oder vom Risiko bedroht, in die Armut zu rutschen. Eine besonders verletzliche Gruppe sind Frauen, die sich scheiden lassen, die ihre Kinder allein grossziehen und deren Altersvorsorge dann ebenfalls knapp ausfällt.