Auf lange Sicht

Armutszeugnis

Auch in einem reichen Land wie der Schweiz gibt es Menschen, die in Armut leben. Und es werden immer mehr. Besonders gefährdet sind Ältere und Frauen.

Von Sharon Funke, 10.10.2022

Vorgelesen von Miriam Japp
0:00 / 9:51
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Erst gerade hat die Schweiz über eine Reform der AHV abgestimmt. Im Abstimmungs­kampf rückte auch das Thema Alters­armut einmal mehr in den öffentlichen Diskurs. Die Diskussion zu diesem Thema wird leider nie alt.

Besonders Frauen riskieren, im Alter zu verarmen. Aber nicht sie allein.

Zeit, der Armut ein Daten­briefing zu widmen: Wie viele Menschen sind in der Schweiz von Armut betroffen? Wie viele sind gefährdet, in die Armut zu rutschen? Und was bedeutet es überhaupt, in der reichen Schweiz arm zu sein?

Das Bundesamt für Statistik (BFS) gibt jährlich Zahlen zur Armuts­situation heraus. Sie stützen sich für die Armuts­messung auf eine europa­weit koordinierte Erhebung, die in über 30 Ländern Europas durch­geführt wird.

Armut kann anhand von verschiedenen Kriterien gemessen werden. In diesem Beitrag konzentrieren wir uns auf das verfügbare Einkommen als Grad­messer. Vermögens­bestände sind in den Daten nicht berücksichtigt.

Auch die Armut kennt Abstufungen, man spricht von absoluter und relativer Armut. Bei der absoluten Armut wird eine fixe Grenze bestimmt, ab der Grund­bedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können. Absolut armen Menschen steht weniger als das Existenz­minimum zur Verfügung.

Bei der relativen Armut wird das Einkommen in Relation gestellt zum Einkommen der restlichen Bevölkerung. Eine Rentnerin kann für Schweizer Verhältnisse arm sein, auch wenn sie ein Mehrfaches an Einkommen erhält im Vergleich zu Menschen in Ländern mit niedrigen Lebenshaltungs­kosten. Relative Armut drückt sich etwa darin aus, dass die soziale und kulturelle Teilhabe aufgrund der knappen finanziellen Möglich­keiten eingeschränkt ist. Man spricht hier von Armuts­gefährdung.

Armuts­betroffene in der Schweiz

Die letzten verfügbaren Daten zur Armut in der Schweiz stammen aus dem Jahr 2020, wurden also um den Beginn der Pandemie erhoben. Zu diesem Zeitpunkt waren 8,5 Prozent der Schweizer Bevölkerung von Armut betroffen.

Das entspricht 722’000 Menschen.

Diese Armuts­quote scheint für ein reiches Land wie die Schweiz erstaunlich hoch, zudem ist sie in den vergangenen Jahren angestiegen. 2014 lag sie noch bei 6,7 Prozent. Es läuft zwar ein nationales Programm zur Bekämpfung von Armut, der Bund ist dabei allerdings nur in einer unter­stützenden Rolle aktiv. Die konkreten Massnahmen werden von den Kantonen und Gemeinden erarbeitet. Die Caritas Schweiz forderte deshalb 2019 eine nationale Strategie mit verbindlichen Massnahmen und Zielen.

Als arm gelten gemäss diesem Programm Personen, die in einem Haushalt mit einem Einkommen unterhalb der Armuts­grenze leben. Die Armuts­grenze wiederum berechnet sich anhand eines Grund­bedarfs, den die Schweizerische Konferenz für Sozial­hilfe (Skos) definiert. Dazu zählen unter anderem Ausgaben für Nahrungs­mittel, Kleidung und Verkehr. Auch die durchschnittlichen Wohn­kosten werden eingerechnet, weiterhin ein Betrag für notwendige Auslagen wie Versicherungen.

Die Zahl der Armen in der Schweiz steigt

Entwicklung der Armutsquote in Bezug zur Gesamtbevölkerung

95-Prozent-Konfidenzintervall
20142016201820208,50510 %

Quelle: BFS.

Das Bundesamt für Statistik schlüsselt die Armuts­quote nach verschiedenen Merkmalen auf: unter anderem Alter, Geschlecht, Haushalts­typ, Sprach­region, Haupt­einnahme­quelle des Haushalts. Die Quote gibt an, wie viel Prozent dieser Bevölkerungs­gruppe von Armut betroffen sind.

Pro Haushalts­typ gelten unterschiedliche Armuts­grenzen. Für Einpersonen­haushalte lag die Grenze 2020 durchschnittlich bei einem Einkommen von 2279 Franken, bei Paaren mit 2 Kindern unter 14 Jahren bei 3963 Franken pro Monat.

Nach Alter aufgeschlüsselt zeigen die Zahlen deutlich, dass Menschen über 65 in der Schweiz häufiger als jüngere wenig zum Leben zur Verfügung haben. Sprich, Alters­armut ist in der Schweiz ein Thema.

Senioren sind häufig von Armut betroffen

Armutsquote 2020 nach Altersgruppen

95-Prozent-Vertrauensintervall
0–17 Jahre08,7 %18–64 Jahre06,3 %ab 65 Jahren016,2 %

Quelle: BFS.

Zum besseren Vergleich greifen wir drei weitere Merkmale aus der Erhebung heraus: Geschlecht, Bildungs­stand und Haushalts­typ.

Alleinerziehende rutschen oft in die Armut

Armutsquote 2020 nach verschiedenen Merkmalen

95-Prozent-Vertrauensintervall
GeschlechtFrauen09,1 %Männer08,0 %BildungsstandObligatorische Schule014,1 %Sekundarstufe II09,0 %Tertiärstufe05,7 %HaushaltstypEinpersonenhaushalte016,8 %Paare ohne Kinder08,0 %Einelternhaushalte016,7 %Paare mit Kindern04,2 %

Quelle: BFS

Wir sehen: Ähnlich hohe Armuts­quoten wie bei den über 65-Jährigen gibt es auch bei den Eineltern­haushalten, also zum grossen Teil bei Allein­erziehenden. Das sind in der Schweiz vor allem Frauen. Anders ausgedrückt: Allein­erziehend zu sein, macht einen Grossteil des Armuts­risikos für Frauen aus. Dies kann sich wiederum auf die Alters­vorsorge auswirken und so das Risiko für Armut im Renten­alter vergrössern.

Ein weiterer Risiko­faktor für Armut ist ein tieferer Bildungs­stand, denn je höher der formale Bildungs­stand, desto tiefer die Armuts­quote. Beim Geschlecht ist der Unter­schied insgesamt nicht allzu gross, auch wenn Frauen etwas häufiger von Armut betroffen sind als Männer. Das zeigt: Frauen sind nicht per se armuts­gefährdet, es sind vor allem bestimmte Lebens­umstände, die als Risiko­faktoren wirken.

Armutsgefährdung in der Schweiz und in Europa

Als armuts­gefährdet gelten Personen, deren Einkommen wesentlich tiefer ist als das der Gesamt­bevölkerung. Die Europäische Union legt die Armuts­gefährdungs­grenze auf 60 Prozent des Median­äquivalenz­einkommens fest.

In der Schweiz liegt diese Grenze bei 2506 Franken pro Monat für Einzel­personen, für Paare mit 2 Kindern unter 14 Jahren bei 5263 Franken. Im Jahr 2020 lag die Quote armuts­gefährdeter Personen insgesamt bei 15,4 Prozent, also fast doppelt so hoch wie die Armuts­quote. Die Tendenz ist auch hier in den letzten Jahren steigend.

Mehr Armutsgefährdete seit 2014

Gefährdungsquote in Prozent der Gesamtbevölkerung

95-Prozent-Konfidenzintervall
201420162018202015,4051015 %

Quelle: BFS.

Wie oben bei der Armuts­quote schauen wir auch hier genauer auf die Verteilung bezüglich Alters­gruppen, Geschlecht, Bildungs­stand und Haushalts­typ.

Minderjährige sind über­durchschnittlich armuts­gefährdet

Armutsgefährdungsquote 2020 anhand verschiedener Merkmale

95-Prozent-Vertrauensintervall
Alter0–17 Jahre020,7 %18–64 Jahre012,2 %ab 65 Jahren021,5 %GeschlechtFrauen015,7 %Männer015,2 %BildungsstandObligatorische Schule027,6 %Sekundarstufe II015,0 %Tertiärstufe08,2 %HaushaltstypEinpersonenhaushalte020,5 %Paare ohne Kinder011,7 %Einelternhaushalte026,8 %Paare mit Kindern013,6 %

Quelle: BFS.

Jugendliche unter 18 Jahren sind fast genauso häufig armuts­gefährdet wie ältere Menschen. Dies hängt damit zusammen, dass Kinder von Allein­erziehenden meistens bei ihren Müttern leben und diese wiederum überdurch­schnittlich häufig über ein geringes Einkommen verfügen.

15,4 Prozent armuts­gefährdete Personen in der Schweiz, das bedeutet fast ein Sechstel der Bevölkerung. Noch einmal: Das ist nicht gerade wenig für ein reiches Land.

Im europäischen Vergleich liegt die Schweiz im Jahr 2020 mit diesen Zahlen etwa in der Mitte – kurz vor unserem Nachbarn Deutschland, aber hinter Österreich, Frankreich, den Nieder­landen oder Dänemark. In Tschechien liegt die Armuts­gefährdungs­quote mit 9,5 Prozent am tiefsten, in Bulgarien mit knapp 24 Prozent am höchsten.

Das Statistische Amt der Europäischen Union (Eurostat) stellt auch eine Auswertung der Armuts­gefährdung aufgeschlüsselt nach Geschlecht und Alters­kategorie zur Verfügung. Der Unterschied zwischen Frauen und Männern ist bei den Senioren in der Schweiz besonders frappant. Ähnliches gilt auch für unsere Nachbar­länder Österreich und Italien. In Deutschland ist der Unterschied nicht ganz so hoch, existiert aber ebenfalls. Nur in Frankreich ist das Armuts­risiko bei unter 65-Jährigen höher als bei den Älteren, was unter anderem an der geringeren Teilzeitarbeits­quote bei Frauen sowie der hohen Kinder­fremdbetreuungsrate liegen könnte.

Frauen sind in der Schweiz und den Nachbar­ländern öfter von Armut im Alter betroffen

Differenz der Armutsgefährdungs­quote zwischen Männern und Frauen in Einpersonen­haushalten 2020

Unter 65-Jährige
65-Jährige und Ältere
Schweiz−1,2 0010,2 Deutschland01,5 03,3 Frankreich04,4 02,6 Italien04,0 010,7 Österreich00,3 010,7

Lesebeispiel: In der Schweiz ist die Armutsgefährdungs­quote bei den über 65-jährigen Frauen um 10,2 Prozentpunkte höher als bei den Männern. Quelle: Eurostat

Welche Effekte die aktuellen Krisen – Pandemie, Inflation, Energie­krise – auf die Armut haben, lässt sich noch nicht genau sagen. Für viele europäische Staaten sind zwar bereits Daten für das Jahr 2021 verfügbar. Ein Vergleich der Armuts­gefährdungs­quote von 2020 mit der von 2021 zeigt aber (noch) keine eindeutigen Pandemie­effekte: Teilweise ist die Quote gestiegen, teilweise gesunken. In unseren Nachbar­staaten unterscheiden sich die Entwicklungen ebenfalls: In Deutschland ist die Armuts­quote beispielsweise um 0,3 Prozent­punkte gestiegen, in den anderen Nachbar­ländern jeweils um weniger als 1 Prozent­punkt gesunken.

Was aber klar ist: Auch in reichen Nationen wie der Schweiz ist ein erheblicher Teil der Bevölkerung von Armut betroffen oder vom Risiko bedroht, in die Armut zu rutschen. Eine besonders verletzliche Gruppe sind Frauen, die sich scheiden lassen, die ihre Kinder allein gross­ziehen und deren Alters­vorsorge dann ebenfalls knapp ausfällt.

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